Streitschrift für Anarchosyndikalismus, Unionismus und revolutionären Syndikalismus

Die Opfer einer politischen Narrheit.

Karl Roche, 1923 – zum Hamburger KPD-Aufstand

Die Opfer einer politischen Narrheit.

Am 23. Oktober 1923 hatten die Hamburger Parteikommunisten einen Großkampftag nach Ludendorffschen Muster veranstaltet. Ist es auch Wahnsinn – es hat Methode. Man könnte die Revolutionsspielerei als harmlose Kinderei bezeichnen, deckten nicht Proletarierleichen dabei die Straßen.

Es sollte die Eroberung der Staatsmacht wieder einmal vollzogen werden. Und was nachher geschehen sollte – deswegen läßt sich kein Parteimensch auch nur ein graues Haar wachsen. Die Arbeiter- und Bauernregierung sollte in Hamburg zuerst etabliert werden, und wie ein solches Regierungsgebilde dann zu regieren hätte, darüber macht sich kein Parteikommunist irgendwie Kopfschmerzen. Man macht in Rebellion eben der Rebellion wegen und nennt dieses verrückte Menschenschlachten Revolution. Ist es auch Wahnsinn, es hat Methode.

Natürlich waren die Hamburger Kommunisten nicht in dem Maße närrisch, lediglich der Dame Hammonia die »Vereinigten Sowjetstaaten« auf die Nase setzen zu wollen: die »nordische Wasserkante« war als Operationsbasis gedacht, wo »Sowjet-Deutschland« ausgerufen und die »Revolution«, wie der Parteikommunismus sie sich vorstellt, ihren Ausgang haben sollte. Jedoch in Kiel, Bremen und Bremerhaven blieb die Bewegung gleich in den Anfängen stecken. Nur in Hamburg und einigen Vororten wurde die Rebellionsnarrheit zur blutigen Wahrheit. Vielleicht wäre auch hier der Ausbruch vermieden worden, wenn hier nicht die gegenwärtigen sozialdemokratischen Regierer ihn bewußt gefördert hätten.

Die ehemaligen Bonzen und nunmehrigen Staatsmännekens mußten es wissen, und wissen es auch bestimmt, daß Verfolgungen und Verbote in einer politisch erregten Zeit Ausbrüche der Leidenschaft und des Fanatismus herbeiführen. Es standen einige Senatorensessel auf dem Spiel. Und eben, weil sie dieses wissen, wendeten sie skrupellos die Mittel der Verfolgung und der Verbote an. Seit Monaten propagierten die Kommunisten den reinen Arbeitersenat. Die Mitglieder beider Arbeiterparteien wollten und wollen das gemeinsame Handeln. Sogar die Hamburger Gewerkschaftskommission, dieses Gebilde für Unternehmerschutz und Arbeiterverrat, mußte in parteieinigenden Bestrebungen machen, denn deren sind zuviel, die davonlaufen. Käme es zu einer Einigung der Parteimitglieder, dann müßten einige Inhaber der Senatorensessel gegen Kommunisten ausgewechselt werden. Das betrübt ohne weiteres jedes Bonzenherz. Darum ist die »Hamburger Volkszeitung«, das Parteiorgan der Kommunisten, seit Wochen verboten, darum wurden alle öffentlichen Aeußerungen der K.P.D. gewaltsam unterdrückt. Die ohnehin fanatisierten Angehörigen der K.P.D. in Hamburg waren von den sozialdemokratischen Regierern absichtlich und gewissenlos zur Verzweiflung und zur Revolte getrieben, um zu verhindern, was in Sachsen-Thüringen geschah: die Verdrängung sozialdemokratischer Regierer durch eine Einigung für gemeinschaftliches parlamentarisches Handeln.

Außerdem ist die Elendssituation im Wirtschaftsgebiet Hamburg am Zerspringen. Die Werftarbeiter verdienten nicht mehr das trockene Brot, und die Werftgewaltigen erklären ihren Arbeiterräten: »Die Arbeiter hungern noch nicht.« Die Blohm und Konsorten dürfen sich dieser perversen Lust hingeben, denn sie wissen, daß sie unter dem Schutz der Gewerkschaftsführer stehen. Die Werften liegen nun seit einer Woche still. Auch im Hafen ruht die Arbeit. Man unterhandelt um wertbeständige Löhne. Im Hafen heulen die Rudimente der ehemaligen deutschen Flotte: einige Torpedoboote, und demonstrieren der Hamburger Arbeiterschaft die Wunder der sozialen Demokratie.

Diese Elendssituation ist für einen Kommunistenputsch wie geschaffen. Und so schlugen sie am 23. Oktober beim Morgengrauen los. Es wurden die Wachen der Außenbezirke im Handstreich genommen. In den preußischen Ort Schiffbeck wurde der »Bund der Sowjetstaaten« ausgerufen. In der inneren Stadt sollte durch Ansammlungen die »Sipo« abgehalten werden. Daß von außerhalb Reichswehr anrücken konnte, dagegen war vorgesorgt. Der Revolutionsplan war verdammt gescheit – wenn ihm nicht eine falsche Voraussetzung angehaftet hätte. Die Erstürmung der Wachen sollte die Massen in Bewegung setzen, die zum Rathaus ziehen und vielleicht Hense durch Thälmann und Grünwald durch Urbahns auswechseln sollten. Und das blieb aus. Die »klassenbewußten« Hamburger Arbeiter wollen gar keine neue Regierung: sie wollen Brot und Fett.

Die Masse der Streikenden sah sich die blutigen Vorgänge aus der Vogelperspektive an und wahrte ihre eigene Haut. So mußte der Putsch verbluten. Das Feuergefecht eines Tages brachte »Ruhe« wie zuvor. Wie viele Arbeiterleichen auf der Walstatt blieben, darüber berichtet die Hamburger Presse nichts. Man zählt nur die Namen der gefallenen und verwundeten »Sicherheitsmannschaften« auf.

Nun sind die kommunistischen Arbeiter wieder um eine Illusion ärmer und um eine Erfahrung reicher. So geht es nicht: die »Revolutionspsychose« der Massen ist am Erlöschen. Fanatiker, die es versuchen, unter Einsetzung ihres Lebens einen neuen »Staatsumsturz« herbei zuführen, kann man achten, weil sie Idealisten sind. Politisch sind sie Narren, als Revolutionäre sind sie Schwärmer. Schälen wir die Dinge, wie sie in Deutschland liegen, klar heraus:

Das Deutsche Reich Bismarckscher Schöpfung liegt in der Agonie. Es war nicht gewachsen aus wirtschaftlichen und kulturellen Notwendigkeiten heraus, es war zusammen gekittet mit Blut und Eisen. Das deutsche Eisen mußte versagen gegen die Wehrmacht der ganzen Welt, so muß das Reich mit Naturnotwendigkeit zusammenbrechen. Die »deutschen Stämme« fühlen sich nicht mehr miteinander verbunden, nachdem daß »Heil dir im Siegerkranz« verklungen. Die noch vom furor teutonicus besessen sind, sind jene, denen der Zusammenbruch des alten Militarismus die wirtschaftliche Existenz nahm.

»Held« Poincaré macht mit grausamer Konsequenz das übrige und Baldwin sieht befriedigt zu.

Der Zerfall des Reiches ist nicht aufzuhalten. Und diesen Zerfall wollen die Arbeiterparteien verhindern. Das wollen nicht nur die Sozialdemokraten, das wollen auch die Kommunisten. Sie stellen die Reichseinheit über die Arbeiterinteressen. Darum verhungern die Arbeiter bei vollen Scheunen. Denn ihre Organisationen greifen aus Furcht vor dem Zerfall der Reichseinheit nicht die »Substanz«, die Reichen, an. Auch die Kommunisten würden es nicht tun, kämen sie zur politischen Macht. Sie würden fortwursteln, wie die Sozialdemokraten fortwursteln.

Es gibt nur einen Weg zur sozialen Revolution – das ist die Loslösung des Arbeiterdenkens vom Staat, ist die Wandlung der Psychologie des Arbeiters von der Autorität zur Freiheit. Das Ziel ist ein anderes [als das], wofür die kommunistischen Arbeiter Blut und [Leben] opfern: es ist die Ordnung ohne staatlichen Zw[ang], ist der staatenlose, herrschaftslose Sozialismus.

Isegrimm

Der Syndikalist (Berlin), Jg. 5/1923, Nr. 43/44

Hamburger KPD-Aufstand 23. Oktober 1923

Wir sind nachtragend, deshalb jetzt erst von unserer Seite zwei Beiträge zum Hamburger KPD-Aufstand am 23. Oktober 1923:

Hamburger KPD-Aufstand 23. Oktober 1923

Karl Roche: Die Opfer einer politischen Narrheit.
(siehe separaten Beitrag)

und

Flugblatt: Die wirklichen Lehren des Hamburger Aufstands 1923

Leichen pflastern den Weg der KPD im Oktober 1923 in Barmbek …

Und dann gab es da noch ein interessantes Flugblatt mit entsprechender Intervention auf einer Veranstaltung der Marxistische Organisation „Offensiv“ (im Centro Sociale auf St. Pauli) zum Hamburger Aufstand. Das Flugblatt gibt’s hier als pdf … Andere Hamburger Stalinisten marschierten gar in Barmbek mit Lkw und Thälmann-Bildnis auf, dem „Führer seiner Klasse“ …

Anarchisten hinter Gitter

In Sommer 1921 war viel los im ›Roten Moskau‹. Gleich zwei internationale Kongresse tagten, um die Weltrevolution voranzutreiben: der 3. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale (KI) und der Gründungskongreß der Roten Gewerkschafts-Internationale (RGI). Dementsprechend war die Stadt voll von Delegierten revolutionärer Organisationen und Bewegungen aus allen Teilen der Welt.

Das drang sogar in die Verliese, in denen die Tscheka, die bolschewistische Geheimpolizei, Angehörige der russischen anarchistischen und anarchosyndikalistischen Bewegung sowie der Partei der Linken Sozialisten-Revolutionäre eingeknastet hatte. Die dort Inhaftierten organisierten einen Hungerstreik und schafften es, daß die ausländischen Delegierten davon erfuhren.

Für die Bolschewiki war das eine überaus unangenehme Situation. Während die meisten TeilnehmerInnen am Kongreß der KI mit den ›kleinbürgerlichen Anarchisten‹ nicht besonders viel am Hut hatten, sah das für den RGI-Kongreß etwas anders aus. Delegierte syndikalistischer, industrialistischer und unionistischer Gewerkschaften gründeten ein »Komitee zur Freilassung revolutionärer politischer Gefangener in Rußland«, das mit der bolschewistischen Führung verhandelte, um die Befreiung der inhaftierten Genossinnen und Genossen zu erreichen. Diese Schrift dokumentiert die Arbeit des Komitees.

Inhalt
Vorwort
Notiz zu den Texten

Dokument 1
Grigorii Petrovitsch Maximoff: Die Haltung der Kommunistischen Partei Rußlands, der Kommunistischen Internationale und der Roten Gewerkschafts-Internationale gegenüber Anarchisten und Syndikalisten (ca. 1925)

Dokument 2
Allrussische Konföderation der Anarcho-Syndikalisten Aufruf: An die Arbeiter aller Länder (Ende April oder Anfang Mai 1920)

Dokument 3
Das Exekutiv-Büro der Allrussischen Konföderation der Anarcho-Syndikalisten: An das Exekutiv-Komitee der Kommunistischen Internationale (Anfang November 1920)

Dokument 4
Gaston Leval: Anarchisten hinter Gittern (ca. 1969)

Dokument 5
FAUD: Streiflichter aus Moskau (13. August 1921)

Dokument 6
Gordon Cascaden: [Das Komitee zur Freilassung revolutionärer politischer Gefangener, die Partei der Linken Sozialisten-Revolutionäre und Marija Spiridonowa] (1922)

Dokument 7
Manuel Díaz Ramírez: Gespräch mit Lenin (1957)

Dokument 8
Bernhard Reichenbach: [Das Komitee bei Lenin] (1970)

Dokument 9
Leo Trotzki: [Brief an die Delegation bei Lenin] (12. Juli 1921)

Dokument 10
Das Abkommen mit den Bolschewiki (13. Juli 1921)

Dokument 11
Maurice Disch: [Bucharins Rede auf dem RGI-Kongreß I] (1921)

Dokument 12
Maurice Disch: [Bucharins Rede auf dem RGI-Kongreß II] (1921)

Dokument 13
William Z. Foster: [Bucharins Rede auf dem RGI-Kongreß III] (1922)

Dokument 14
Gordon Cascaden: [Bucharins Rede auf dem RGI-Kongreß IV] (1922)

Dokument 15
Abram Feldman: [Fragebogen für das International Committee for Political Prisoners] (1925)

Anhang:

Ausgewählte Biographien
Martyrs of Bolshevism
Bulletin des Vereinigten Komitees
Bulletin des Relief Fund
Literatur und Quellen
Abkürzungen
Zum Autor

Jonnie Schlichting: Anarchisten hinter Gittern in ›Sowjet‹-Rußland 1921.
Edition Syfo Nr. 10, 112 Seiten, A5, fadengeheftet, Spendenempfehlung: 5 Euro (plus Porto und Versand)
Info und Bestellung: syfo.info
institut@syndikalismusforschung.info
Herausgegeben vom Institut für Syndikalismusforschung | Bremen | 2023

https://syndikalismusforschung.wordpress.com/2023/09/23/neuerscheinung-jonnie-schlichting-anarchisten-hinter-gittern-in-sowjet-rusland/#more-3186


Anarchisten im »Roten Bollwerk«

Anfang November 2022 erschien der Sammelband „Mit revolutionären Grüßen – Postkarten der Hamburger Arbeiterbewegung 1900-1945“, VSA Hamburg. Im November gab es in Hamburg vier Ausstellungen.

René Senenko (Hrsg.)
Postkarten der Hamburger Arbeiterbewegung 1900–1945 für eine Welt ohne Ausbeutung, Faschismus und Krieg

288 Seiten | Hardcover | Farbe | In Kooperation mit: Olmo e.V. – Verein für Kultur und Erinnerungsarbeit zwischen Ohlsdorf und Ochsenzoll, Geschichtswerkstatt Eimsbüttel, Rosa-Luxemburg-Stiftung u.a. | 2022 | EUR 24.80 | ISBN 978-3-96488-108-3
https://www.vsa-verlag.de/nc/buecher/detail/artikel/mit-revolutionaeren-gruessen/

Hier findet ihr auch das Inhaltsverzeichnis und eine Leseprobe.

Wir veröffentlichen unseren Beitrag für dieses Buch. Er ist im Buch unwesentlich verändert.

Wir möchten auch auf den Beitrag von Werner Skrentny hinweisen: Ein (fast) vergessener Künstler – Hein Semke aus Hamburg-St.Pauli

Anarchisten im »Roten Bollwerk«

»Anarchie ist nicht Chaos, sondern Ordnung ohne Herrschaft

»Anarchie ist Gesetz und Freiheit ohne Gewalt.« – Immanuel Kant (1798)
»Alle Sozialisten verstehen unter Anarchie dieses: Ist einmal das Ziel der proletarischen Bewegung, die Abschaffung der Klassen erreicht, so verschwindet die Gewalt des Staates, welche dazu dient, die grosse produzierende Mehrheit unter dem Joche einer wenig zahlreichen ausbeutenden Minderheit zu halten, und die Regierungsfunktionen verwandeln sich in einfache Verwaltungsfunktionen.« – K. Marx & F. Engels (1872)
»Anarchie ist nicht Chaos, sondern Ordnung ohne Herrschaft.« – Herbert Wehner (1923)

Anarchisten im ‚roten Bollwerk’
Ja, es gab sie, die Anhänger der Lehren von Bakunin und Kropotkin, in der sozialdemokratischen Hochburg, dem »roten Bollwerk« Hamburg.

Die Häfen von Hamburg-Altona waren schon während des Sozialistengesetzes der Umschlagplatz für sozialistische und anarchistische Literatur aus London. Johann Mosts revolutionär-sozialistische Freiheit und die anarcho-kommunistische Autonomie wurden von hier aus durch Genossen in das ganze Kaiserreich versandt. Ebenso Mosts Flugschrift »Die revolutionäre Sozialdemokratie« (1880) und das einseitige Flugblatt »Arbeiter« (März 1885), das vor allem August Reinsdorf verteidigte. Deren Verbreitung wurde natürlich durch die Polizeibehörde verboten. Im Januar 1893 ereilte auch Mosts »Die anarchistischen Kommunisten an das Proletariat« dies Schicksal.

Die Anarchisten zweifelten daran, dass über Wahlen und das Parlament der Sozialismus errungen werden konnte – sie setzten auf den sozialen Generalstreik. Sie kritisierten die Stellvertreterpolitik durch Gewerkschafts- und Parteiführer und propagierten die direkte Aktion der unmittelbar Betroffenen. Folgerichtig lehnten sie zentralistische, hierarchische Organisationsformen in der Arbeiterbewegung ab, die nur den Staat kopieren, und setzten dagegen eine föderalistische Organisierung auf der Grundlage der freien Vereinbarung.

Sie waren nicht viele, öfters auch untereinander zerstritten. Aber – sie waren in der großen Mehrzahl Proletarier: Arbeiter, Angestellte, Lohnabhängige. Damit unterschieden sie sich nicht von ihren sozialdemokratischen Klassengenossen. Und wie diese standen sie unter strengster Beobachtung einer hochwohllöblichen Obrigkeit, die oft und gern repressiv wurde und Aktivisten in »Staatspension« (Gefängnis, Zuchthaus) verschickte. Und sie wurden erbittert bekämpft von der örtlichen Sozialdemokratie, die der ungeliebten Kritik von links tunlichst jede Möglichkeit nahm, sich öffentlich zu äußern – durch Sprengung von Veranstaltungen oder Verhinderung derselben (»Saalabtreiben« hieß das).

Paul Schreyer und der »Kampf«
Der Küper Paul Schreyer (geb. 1886 in Zahna, Preußisch Sachsen) entwickelte sich, seit er 1905 nach Hamburg zog, zu einem der treibenden Aktivisten des Anarchismus im Grossraum der Hansestadt. Auf seine Initiative wurde 1907 der Anarchistische Lese- und Debattierklub Hamburg-Altona gegründet, der sich im August 1908 der Anarchistischen Föderation Deutschlands (AFD) anschloss. 1909 spaltete sich der Leseklub auf Betreiben von Carl Langer (von dem noch zu reden ist). Die Mehrheit des Klubs gründete im September 1909 die Anarchistische Föderation Hamburg und Umgebung (AFH). Schreyer übernahm ab Januar 1911 die Geschäftsführung der AFH. Die Berliner Politische Polizei resümierte in ihrer Jahresübersicht für 1912: »Die Hamburger Föderation, deren Seele Schreyer ist, hat rege gearbeitet

Seit 1911 hatte die AFH eine eigene Druckmaschine, auf der Broschüren, Flugblätter und Postkarten gedruckt wurden (siehe die Anti-Wahl-Postkarte »Mitbürger, zur Wahl«). U.a. erschienen 1911 und 1913 Ausgaben von Johann Mosts »Die Gottespest« (im Kaiserreich verboten und deshalb mit den falschen Verlagsangaben ›New York‹ bzw. ›London‹).

Seit Mai 1912 gab Schreyer für die AFH die monatlich erscheinende Zeitschrift Kampf heraus, als »Unabhängiges Organ für Anarchismus und Syndikalismus«. Bis zum Juli 1914 erschienen 25 Ausgaben, mit einer Auflage zwischen 2000 – 4000 Exemplaren. Die Berliner Politische Polizei bescheinigte dem Kampf: »Sein Inhalt ist trotz grammatikalischer Mängel volkstümlich, erhebt sich nicht über das geistige Niveau des einfachen Arbeiters …«.

In den letzten Jahren vor dem Ausbruch des 1. Weltkrieges war Schreyer auch im deutschen Kaiserreich eine der bekannten Figuren in der anarchistischen Bewegung, für die er reichsweit als Agitator auftrat.

Paul Schreyer emigrierte vor Beginn des I. Weltkrieges in die Schweiz, um seiner Einziehung zum Militär zu entgehen. Der Kampf musste bei Kriegsbeginn natürlich sein Erscheinen einstellen.

Im Dezember 1914 erschien in Kopenhagen Schreyers Schrift »Die Sozialdemokratie und der Krieg«, eine gründliche Abrechnung mit (nicht nur) der SPD. Die Schweiz lieferte Paul Schreyer 1915 widerrechtlich an das Kaiserreich aus, wo er wegen ‚Fahnenflucht‘ in den Knast gesteckt wurde. Die folterähnlichen Haftbedingungen ruinierten seine Gesundheit gründlich. Er starb noch während des I. Weltkriegs, am 26. April 1918, im Festungsgefängnis Spandau an einer Lungenentzündung.

Die Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften (FVdG)
Die Freie Vereinigung ging aus der lokalistischen Opposition des Halberstädter Gewerkschaftskongresses 1892 hervor. Sie gab sich 1897 eine eigene organisatorische Struktur und verstand sich als militante sozialdemokratische Richtungsgewerkschaft mit föderalistischer Struktur. Es waren die lokalistischen Hafenarbeiter, die den großen Streik im Hamburger Hafen von 1896/97 organisierten.

Der wachsende Druck der Zentralgewerkschaften unter Carl Legien auf die SPD sowie die immer schärfere Kritik der FVdG an der Nutzlosigkeit der Parlamentarismus und die Propagierung des revolutionären Generalstreiks führte 1908 zum Ausschluss der Mitglieder der FVdG aus der SPD wegen »Anarcho-Sozialismus«. Die FVdG näherte sich in der Folge dem revolutionären Syndikalismus an, dessen Vorbild die französische CGT war. Aus ihr ging dann Ende 1919 die Freie Arbeiter-Union Deutschlands (FAUD) hervor, die zeitweilig bis zu 150.000 Mitglieder gewerkschaftlich organisierte.

Seit 1908 öffnete sich die FVdG den Anarchisten – nicht immer ganz konfliktfrei mit der ‚alten Garde‘ der FVdG, denen noch einige sozialdemokratische ›Eierschalen‹ anhafteten. Aber sie gab den Anarchisten der ‚Roten Hauptstadt‘ die Chance, ihre Isolation zu durchbrechen. Mit dem Kampf hatten sie eine eigene lokale Zeitung.

In Hamburg engagierten sich die Aktivisten der AFH stark in den lokalen Organisationen, die vor allem im Bereich der Transport-, Hafen und Werftarbeiter und der Berufe des Bauhandwerks und Dienstleistungssektors bestanden, sich zur Freien Vereinigung aller Berufe (seit 1913 Syndikalistische Vereinigung aller Berufe) zusammenschlossen und ein Gewerkschaftskartell mit einigen Fachverbänden und der Föderation der Metallarbeiter bildeten. Dem Kartell schloss sich der 1913 entstandene Syndikalistische Industrie-Verband an, der von Hafenarbeitern und Seeleuten gegründet worden war. Hamburg entwickelte sich so in den letzten Jahren vor dem 1. Weltkrieg zum norddeutschen Zentrum der FVdG mit bis zu 400 Mitgliedern.

Einer ihrer führenden Protagonisten war der 1862 in Königsberg in Ostpreußen geborene Bauhilfsarbeiter Karl Roche. Er kam 1887 zur SPD und hatte seit 1891 zuerst für den Fabrikarbeiter-Verband, dann für den Bauhilfsarbeiter-Verband als Organisator im Reich gearbeitet, zuletzt von 1907 bis 1909 als Bürohilfsarbeiter beim Hauptvorstand in Hamburg. Wegen verbandsöffentlicher Kritik am Hauptvorstand (u.a. Unterschlagungen von Mitgliedsbeiträgen durch den Hauptkassierer) wurde er 1909 gefeuert, worauf er zur FVdG übertrat. In deren Verlag erschien seine Abrechnung »Aus dem roten Sumpf«. Seitdem schrieb er regelmäßig in den beiden FVdG-Organen Die Einigkeit und Der Pionier und war 1913 einer der deutschen Delegierten auf dem 1. internationalen Syndikalisten-Kongress in London.

Der Syndikalistische Industrie-Verband organisierte auf der Jungfernfahrt des HAPAG-Ozeandampfers »Vaterland« (seinerzeit das größten Passagierschiff der Welt) nach New York einen Seeleutestreik. Diese Arbeitskampf wurde mit dem Mittel der direkten Aktion geführt und endete mit einem Sieg der Streikenden, aber auch der Entlassung von 240 Stewarts nach der Rückkehr. Über den Verlauf dieses Streiks berichtete die erste Ausgabe der im Juni 1914 erscheinenden neuen Gewerkschaftszeitung Der Revolutionär des Industrieverbands der FVdG. Auch sie fiel dem Kriegsausbruch zum Opfer.

Revolution und Konterrevolution
Nein, es waren nicht nur Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Nach dem Krieg traten auch die Syndikalisten wieder an die Öffentlichkeit und erhielten einen unerwartet großen Zustrom an neuen Mitgliedern. Die Einigkeit wurde in Der Syndikalist umbenannt. Der wichtigste und bekannteste Protagonist der FAUD/AS war der anarchistische Schriftsteller Rudolf Rocker in Berlin, der vor seiner Ausweisung 1918 in London den jüdischen Arbeiterwiderstand an vorderster Front organisiert hatte.
In Hamburg entstand die Syndikalistische Föderation (SFH), deren Geschäftsführer Karl Roche wurde, seit Juni 1918 auf der Vulcan-Werft zwangsverpflichtet. Ein Spitzelbericht im Oktober 1919 notierte: »Der Haupthetzer auf der Vulcanwerft ist der Syndikalist Roche. Sein Einfluss auf die Arbeiterschaft ist ungeheuer und mit Recht wird behauptet, dass er die Seele des verderblichen Widerstandes gegen Vernunft und Ordnung eines grossen Teils der Arbeiterschaft ist

Roche schrieb 1919 das erste Nachkriegsprogramm und weitere wichtige Texte der FVdG. Schon im Januar 1919 unternahm er zusammen mit Fritz Kater erste Agitationsreisen durch Norddeutschland, u.a. eine Veranstaltung am 16. Januar 1919 in der Aula des Wilhelm-Gymnasiums, heute Teil der Universitätsbibliothek Hamburg.

Die konterrevolutionäre Politik der MSPD und der ›freien‹ Gewerkschaften (ADGB) führte auch in Hamburg und Altona zur weiteren Radikalisierung: Nationalversammlung statt Rätekongress – Hintertreibung des Arbeiter- und Soldaten-Rates in Hamburg – Reförmchen statt Revolution – Betriebsrätegesetz statt Sozialisierung der Betriebe – und als Antwort auf den Arbeiterwiderstand erfolgte das Niederkartätschen durch die Reichswehr und reaktionären Freikorps-Verbände.

Der angebliche ‚Bahrenfelder Spartakisten-Aufstand’ vom Februar 1919 war der Versuch von radikalen Arbeitern unter Führung des Syndikalisten Rüdigkeit, Waffen in Polizeiwachen zu beschlagnahmen, um den Beschluß des Arbeiterrats umzusetzen, der Bremer Räterepublik zu Hilfe zu eilen. Aber die reformistischen Gewerkschaften sabotierten dies durch einen Reichsbahner-Beamten-Streik (!), und die bewaffneten Arbeiter konnten Bremen nicht mehr erreichen.

Wohl im Sommer 1919 trennte sich Roche mit der großen Mehrheit der SFH von der FVdG/FAUD und gründete die Arbeiter-Union (AU), die sich im Frühjahr 1920 mit ähnlich ausgerichteten Organisationen zur Allgemeinen Arbeiter-Union Deutschlands (AAU) formierte. ‚Knackpunkte‘ waren wohl die Diktatur des Proletariats und das Prinzip der Betriebs-Organisation. Das erste, sehr föderalistische Programm der AAUD stammte von Roche (eine Fortschreibung des von ihm formulierten FVdG-Programms); er trat auch für die Vereinigung von AAU und FAUD ein.

Seitdem entwickelte sich eine enge Zusammenarbeit mit der Hamburger KPD, die zum anti-parlamentarischen und für die Zerschlagung der kriegstreiberischen ›Freien‹ Gewerkschaften eintretenden Mehrheits-Flügel der KPD gehörte. Als dieser Ende 1919 aus der KPD herausmanipuliert wurde, entstand Ostern 1920 die Kommunistische Arbeiter-Partei (KAPD), die eng mit der AAU zusammenarbeitete. Die AAU hatte zu diesem Zeitpunkt in Groß-Hamburg 12.000 Mitglieder, meist im Hafen und auf den Werften. Seit 1920 erschien ihre Wochenzeitung Der Unionist mit Roche als Redakteur.

Roche gehörte 1921 mit Otto Rühle und Franz Pfemfert zu den Köpfen der Opposition, die nach dem Sieg der KAPD-Linie in der AAU die AAUE gründeten, die eng mit der FAUD kooperierte. Roche schloß sich Ende 1923 wieder der FAUD an und publizierte eifrig im Syndikalist. Er starb als »völlig verarmter Proletarier« (Rocker) am 1. Januar 1931 im Alter von 69 Jahren an einer Lungenentzündung.

Die Freien Sozialisten-Anarchisten
Aus der Anarchistischen Föderation Deutschlands war 1919 reichsweit die kleine und wenig aktive Föderation kommunistischer Anarchisten (FKAD) entstanden.
Anfang März 1919 erschien in Hamburg dann die erste Ausgabe der anarchistische Wochenzeitung Alarmmit einem ‚Aufruf für die Diktatur des Proletariats‘. Die Herausgeber, die Freien Sozialisten-Anarchisten, waren agitatorisch sehr aktiv und ermunterten die Erwerbslosen und Werftarbeiter immer wieder zu Aktionen.
Anfangs arbeiteten die verschiedenen Linksradikalen (KP, AAU, FAUD und Anarchisten) noch zusammen (und planten sogar Putsche oder gemeinsame Aufstände, wenn man den Spitzelberichten der Politischen Polizei glauben schenken will). Aber das politische Gewirr lichtete sich, denn die bolschewisierte KPD drängte mit ihren russischen Rubel-Millionen und Emissären (Radek) räte-kommunistische und anarchistisch-syndikalistische Gruppen an den Rand. In Hamburg entstand aus der Rest-KPD durch den Zusammenschluss mit Thälmanns USPD-Mehrheit eine völlig neue Situation. Gegner der Partei wurden als »Abhub«, »Verräter an der Einheit« und »Abschaum der Arbeiterklasse«, als kleinbürgerlich diffamiert und auch physisch bekämpft.

»Sülzeaufstand« und Lettow-Vorbeck
Der »Sülze-Skandal« im Juni 1919 führte zu tw. gewalttätigen Unruhen. Der Senat rief nach den Sülze-Kämpfen um das Hamburger Rathaus mit dem Bahrenfelder Freikorps den Ausnahmezustand aus, und der MSPD-Reichswehrminister Gustav Noske schickte den Afrika-Schlächter Lettow-Vorbeck zur Durchsetzung der Reichsexekution mit seiner Soldateska nach Groß-Hamburg; erst im zweiten Anlauf gelang es am 1. Juli 1919 die Stadt zu besetzen: seine Reichswehr- und Freikorps-Truppen setzten bei ihrem martialischen Einmarsch (»Fenster zu, Strasse frei.«) ausgiebig Waffengewalt ein, um »Plünderer und Heckenschützen« niederzustrecken, in den Arbeitervierteln galt »Schnelljustiz« (Standrecht). Arbeiter und Funktionäre wurden oft willkürlich verhaftet und misshandelt. Die Besetzung kostete 80 Todesopfer bis zum Abzug des Lettow-Korps im Dezember.

Hamburg war danach eine andere Stadt, denn es wurde die Volkswehr aufgelöst und eine militarisierte Sicherheitspolizei geschaffen, deren Mitglieder sich großenteils aus ehemaligen Berufssoldaten und Freikorpsangehörigen zusammensetzte.
Von der bürgerlichen Presse wurde das Gerücht verbreitet, es hätte sich um einen kommunistischen Revolutionsversuch handelt. Aber die Hamburger KPD erklärte öffentlich, nichts mit den Ausschreitungen zu tun zu haben. In der Kommunistischen Arbeiterzeitung veröffentlichte sie bereits am 25. Juni einen Aufruf, der die Genossen zur Ruhe ermahnte: »Die Kommunistische Partei, die mit diesen Tumulten nichts zu schaffen hat, fordert Euch auf, Euch von Ansammlungen fernzuhalten und nicht vor die Maschinengewehre zu laufen.« Und auch nach dem Einmarsch der Reichswehr hieß es dort: »Die Partei verwirft jeden Versuch, sich mit Waffengewalt dem Einmarsch der Regierungstruppen zu widersetzen.« – Nur die Freien Sozialisten forderten mit Plakatanschlägen am 26. Juni die Arbeiterschaft auf, ihre Waffen nicht zurückzugeben, sondern weiter für den Sozialismus zu kämpfen.

Kurt Wilckens und der Schlächter von Patagonien
Kurt Wilckens war dem Alarm um Carl Langer verbunden und verfasste Erfahrungsberichte zu seiner Zeit in die USA (war er Mitglied der der revolutionären GewerkschaftIndustrial Workers of the World (IWW) und als Minenarbeiter in Arizona aktiv an Streiks beteiligt), und nach seiner Auswanderung warnte er vor Argentinien. In Buenos Aires erschoss er am 15. Januar 1922 den berüchtigten Oberst Varela, der zuvor 1.500 Streikende in Patagonien niedermetzeln ließ. Vor seinem Prozess wurde der aus Bad Bramstedt stammende Anarchist in seiner Gefängniszelle am 15. Juni 1923 von einem studentischen Mitglied der faschistischen Patriotischen Liga erschossen. Auch einhundert Jahre nach seiner Tat wird Kurt Wilckens in Argentinien als proletarischer Held und Märtyrer von der organisierten Arbeiterschaft verehrt und ob seines Mutes und seiner Opferbereitschaft gewürdigt. Hierzu finden wir die Alarm-Postkarte aus dem Jahre 1925 (handschriftlich beschrieben von Carl Langer).
Die Freien Sozialisten glitten unter dem Einfluss ihres umstrittenen Führers Carl Langer in immer individualistisch-organisationsfeindlicheres Fahrwasser ab, sie verloren ihren aktivistischen Charakter und verkümmerten als unbedeutende Anarchistische FreibundVereinigungen. Der Alarm erschien bis 1925 teilweise unregelmäßig und 1930 noch einmal kurzfristig. Zeitweilig lag die Auflage dieser reichhaltig und informativ gestalteten Zeitung bei 6 000 Exemplaren, die auch auswärts und besonders im Rheinland gelesen wurde, da sich hier Carl Langers spezielles Agitationsgebiet befand.

Aktiv bis zur Zerschlagung durch den Nationalsozialismus
1924 initiierten Karl Roche und die Hamburger AAUE den Versuch, die Revolutionäre jenseits der KPD in einem Block antiautoritärer Revolutionäre reichsweit zu einen. Die Initiative hatte nur mäßigen Erfolg.
Ende Mai 1928 fand in Hamburg der FKAD-Kongress in Hüttmann’s Hotel in der Poolstrasse (Neustadt) statt. An der Diskussion nahm auch Karl Roche als Delegierter teil.
Auf dem 19. Reichskongress der FAUD im März 1932 wurden in Hamburg neben 24 Binnenschiffern nur noch 40 Mitglieder gezählt. Die FAUD beschloss vorausschauend ihre Auflösung angesichts des Nationalsozialismus. Eine letzte Anarchistenversammlung wurde am 21. April 1932 in Wilhelmsburg ausgehoben. In einer Mitteilung vom 18. September 1935 meldet die Gestapo, dass in Norddeutschland die FAUD »jede Tätigkeit eingestellt« habe. Das stimmte nur bedingt, denn es flüchteten einige Genossen nach Spanien, schlossen sich der Sozialen Revolution von 1936-39 an und zerschlugen die NSDAP-Auslandsorganisation in Barcelona. Andere wurden ermordet (wie etwa Erich Mühsam am 10. Juli 1934 im KZ Oranienburg) oder kamen in Arbeitslager.

Der Anarchismus ist in Hamburg bis heute nicht tot, die Flamme ist nicht erloschen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Folkert Mohrhof | Jonnie Schlichting
Archiv Karl Roche – Regionales Archiv zur Dokumentation des antiautoritären Sozialismus – RADAS Hamburg

Quellen:
Akten aus dem Landesarchiv Berlin; Staatsarchiv Bremen; Staatsarchiv Hamburg
Materialien auf der Seite des Archiv Karl Roche
https://archivkarlroche.wordpress.com
Anarchopedia: Kurt Gustav Wilckens
http://deu.anarchopedia.org/Kurt_Gustav_Wilckens
Hans Manfred Bock, Syndikalismus und Linkskommunismus von 1918-1923. Ein Beitrag zur Sozial- und Ideengeschichte der frühen Weimarer Republik, Darmstadt 1993
Marina Cattaruzza, »Organisierter Konflikt« und »Direkte Aktion«. Zwei Formen des Arbeitskampfes am Beispiel der Werftarbeiterstreiks in Hamburg und Triest (1880 – 1914); in: Archiv für Sozialforschung, Bd. 20/1980
Dieter Fricke und Rudolf Knaack (Bearbeiter), Dokumente aus geheimen Archiven. Übersichten der Berliner politischen Polizei über die allgemeine Lage der sozialdemokratischen und anarchistischen Bewegung 1878-1913. Teil III: 1906-1913, Berlin 2006
Michael Grüttner, Arbeitswelt an der Wasserkante. Sozialgeschichte der Hamburger Hafenarbeiter 1886 – 1914, Göttingen 1984
Heidi Heinzerling, Anarchisten in Hamburg. Beiträge zu ihrer Geschichte 1890-1914; in: Hamburger Zustände. Jahrbuch zur Geschichte der Region Hamburg, Bd. 1, Hamburg 1988
Kampf. (Unabhängiges) Organ für Syndikalismus und Anarchismus (Hamburg)
http://archivkarlroche.wordpress.com/kampf-organ-fur-anarchismus-und-syndikalismus/
Fritz Kater, Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften, Berlin 1912
https://archivkarlroche.wordpress.com/2022/05/17/grundung-der-fvdg-vor-125-jahren/
Ulrich Linse, Organisierter Anarchismus im Deutschen Kaiserreich von 1871, Berlin/W. 1969
Folkert Mohrhof, Der syndikalistische Streik auf dem Ozean-Dampfer ‘Vaterland’ 1914. (Archiv Karl Roche – Schriftenreihe # 1), Hamburg 2008
https://archivkarlroche.wordpress.com/2020/12/05/der-syndikalistische-streik-auf-der-vaterland/
Sven Philipski, Ernährungsnot und sozialer Protest. Die Hamburger Sülzeunruhen 1919. Hamburg 2002
http://www.kaufmann-stiftung.de/0904_Suelzeunruhen_K1.pdf
Karl Roche, Aus dem roten Sumpf oder Wie es in einem nicht ganz kleinen Zentralverband hergeht, Berlin 1909 – reprint Hamburg 2014 (Von unten auf)
Karl Roche, Sozialismus und Syndikalismus. Agitationsschriften aus dem Jahre 1919 (Archiv Karl Roche #2), Moers 2009 (Syndikat A)
Hartmut Rübner, Freiheit und Brot. Die Freie Arbeiter-Union Deutschlands. Eine Studie zur Geschichte des Anarcho-Syndikalismus. Berlin/Köln 1994
Hartmut Rübner, Linksradikale Gewerkschaftsalternativen: Anarchosyndikalismus in Norddeutschland von den Anfängen bis zur Illegalisierung nach 1933; in: Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit, Nr. 14/1996
Paul Schreyer, Die Sozialdemokratie und der Krieg. Eine Zeit= – keine Streitfrage. Ein Wort an die Arbeiterschaft, Kopenhagen 1914
Institut für Syndikalismus-Forschung, Geschichte der syndikalistischen Arbeiterbewegung in Deutschland – Ein virtuelles Museum
http://www.syndikalismusforschung.info/museum.htm
Wayne Thorpe, The Workers Themselves. Revolutionary Syndicalism and International Labour 1913 – 1923, Dodrecht – Boston – London 1989

Zu den Bildern/Postkarten:
Mitbürger, auf zur Wahl! Postkarte der AFH, Mai 1913 ; auch im Kampf, Nr. 11, Mai 1913. Das Motiv wurde von der KAPD-AAU-KAJ Berlin 1922 wieder verwendet.
Die Wilckens-Postkarte des Alarm ist aus dem Jahre 1924. Sie ist von Carl Langer unterschrieben. (Pierre Ramus Papers im IISG; Nr. 1162.40).


Abkürzungen
AAU, AAUD: Allgemeine Arbeiter-Union Deutschlands
AAUE: Allgemeine Arbeiter-Union (Einheitsorganisation)
ADGB: Allgemeiner Deutscher Gewerkschafts-Bund
AFD: Anarchistische Föderation Deutschlands
AFH: Anarchistische Föderation Hamburg und Umgebung
AU: Arbeiter-Union (Hamburg)
FAUD: Freie Arbeiter-Union Deutschlands/Anarcho-Syndikalisten
FKAD: Föderation Kommunistischer Anarchisten Deutschlands
FVdG: Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften
IISG: Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis, Amsterdam
IWW: Industrial Workers of the World
KAJ: Kommunistische Arbeiter-Jugend
KAPD: Kommunistische Arbeiter-Partei Deutschlands
KP, KPD: Kommunistische Partei Deutschlands
MSPD: Mehrheits-Sozialdemokratische Partei Deutschlands
NSDAP: Nationalsozialistische Arbeiter-Partei Deutschlands
SFH: Syndikalistische Föderation Hamburg
SPD: Sozialdemokratische Partei Deutschlands
USPD: Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands

Fritz Kater zum deutschen Syndikalismus 1914

Fritz Kater

Die Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften und ihr Kampf in der deutschen Bewegung.[1]

Zur Verfassung der Freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften (FVdG) gibt es nicht viel zu sagen. Sie besteht hauptsächlich aus Gewerkschaften der Bauindustrie. Diese Industrien befinden sich jedoch bereits seit mehreren Jahren in einer akuten Krise, und dort herrscht eine solche Arbeitslosigkeit, wie man sie seit einer Generation nicht mehr erlebt hat. Es versteht sich von selbst, daß diese Krise auf die Verbreitung der Agitation und auf alle organisatorischen Aktionen dieser Gewerkschaften Auswirkungen hat, und zwar in verschiedene Richtungen.

Infolge dieser anhaltenden Arbeitslosigkeit wechseln viele Mitglieder unserer Organisationen ihren Beruf, und der Terrorismus in den großen deutschen Zentralgewerkschaften zwingt sie häufig dazu, sich einer der letzteren anzuschließen. Dies sind einige der Gründe, warum unsere Mitglieder­zahl trotz unserer eifrigen Agitation seit dem ersten internationalen Syndikalistenkongreß in London im Jahr 1913[2] zurückgegangen ist.

Natürlich haben auch die zentralistischen Gewerkschaften der sozialdemokratischen Richtung, die freien Gewerkschaften, wie sie im Gegensatz zu den christlichen und katholischen Gewerk­schaften genannt werden, stark unter der Baukrise gelitten; aber diese Gewerkschaften haben ein Rekrutierungsmittel, das für die deutschen Volksmassen nicht an Attraktivität mangelt. Dies sind die Hilfskassen für den Fall von Krankheit, Reisen, Invalidität oder Bestattung sowie eine ganze Reihe anderer Einrichtungen der gegenseitigen Hilfe, die zusammen oft drei Fünftel und noch mehr der Einnahmen dieser Gewerkschaften verschlingen.

Die Zahl der deutschen Arbeiter, die aus prinzipiellen und ideellen Gründen einer Gewerkschaft beitreten, ist so gering, daß man sie wirklich mit der Laterne von Diogenes in diesem Land suchen sollte[3].

Deutschland steht nicht nur in allen Fragen des Militarismus und der Bürokratie an der Spitze der modernen Staaten, es dominiert auch die Arbeiterbewegung.

Der Geist des Kasernenmilitarismus, die Anbetung der Gewerkschaftsfunktionäre, der Geist der Disziplin […] der zweieinhalb Millionen Arbeiter und Arbeiterinnen, die sich unter der engen Aufsicht ihrer Beamten befinden, all dies steht im Gegensatz zu unseren syndikalistischen Ideen. Hinzu kommt die Existenz von 58 bis 59 Gewerkschaftszeitungen, die einmal oder mehrmals pro Woche erscheinen, und etwa sechzig sozialdemokratische Tageszeitungen, die alle zusammen den reformistischen Gewerkschaftsgeist fördern und verbreiten.

Dies sind die Mauern, die die Syndikalisten stürmen müssen. Gewiß, unsere Organisationen verteilen sich auf das gesamte Reich, und der [revolutionäre] Syndikalismus hat schon jetzt in fast allen wichtigen Städten Ableger. Wir haben außerdem bereits zwei wöchentliche Organe: die Einigkeit und den Pionier, von denen letzterer auch in reformistischen Gewerkschaftskreisen gelesen wird. Nur, was ist all das angesichts der Handlungsmöglichkeiten gegen den revolutionären Syndikalismus wert, die den parlamentarischen Sozialisten und reformistischen Gewerkschaftern zur Verfügung stehen? Fehlinterpretationen, Lügen, Beleidigungen in Bezug auf den Syndikalismus in Deutschland; selbst die Denunziation von Klassenkameraden gegenüber Polizei und Justiz fehlt nicht in den sozialdemokratischen Zeitungen und in der reformistischen Gewerkschaftspresse, wenn es um den Kampf gegen revolutionäre Gewerkschafter geht. Wenn die revolutionären Genossen aus Frankreich, Italien, Spanien, England, Amerika usw. nur ein Hundertstel von allem hören könnten, was diese Presse deutschen Arbeitern über die Lehren und Kampftaktiken des [revolutionären] Syndikalismus erzählt, dann sie würden sich angewidert von solchen Menschen abwenden und alle Anstrengungen unternehmen, um die Revolutionäre Internationale zu entwickeln. [Sie könnten dann] die tieferen Gründe [verstehen], warum wir revolutionären Syndikalisten in Deutschland so wenig Fortschritte machen.

Noch etwas. Mehrmals, das erste Mal aus dem Mund des Genossen Jouhaux[4] aus Paris, ein anderes Mal durch die Stimme des Genossen Tom Mann[5] aus London, hat man uns im Besonderen und den Syndikalisten aller Länder im allgemeinen den Rat gegeben, unsere besonderen Gewerk­schaften aufzugeben, um mit der Propaganda syndikalistischer Ideen innerhalb der zentralistischen Gewerkschaften zu beginnen. Diese Genossen und alle, die so denken, beurteilen die Situation in anderen Ländern nach den Möglichkeiten, die sich in ihrem eigenen Land bieten. Sie sind sich insbesondere der Situation in Deutschland nicht bewußt, in der der parlamentarische und reformis­tische Geist und die Gewerkschaftsdisziplin seit mehr als einem Vierteljahrhundert in die Massen eingedrungen sind und dort gearbeitet haben.

Die Annahme, daß man syndikalistische Prinzipien in diesen Gewerkschaftskreisen erfolgreich verbreiten könnte, ist gleichbedeutend mit der Annahme, daß man in einer deutschen Kaserne als Soldat antimilitaristische Propaganda betreiben könnte.

Während der antimilitaristische Soldat zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt wird, würde der revolutionäre Syndikalist, der es wagt, seine Ansichten offen zu verbreiten, ohne eine so harte Strafe zu erhalten, dennoch unfehlbar bestraft werden. Zuallererst würde man ihn zwingen zu Schweigen; für den Fall, daß er nicht schweigen will, sondern weiterhin seine Ideen geltend macht, würde er gemäß diesem oder jenem Artikel der Satzung aus der Gewerkschaft ausgeschlossen. Wenn er seine Propaganda gegen die Gewerkschaft fortsetzen würde […], würden die sozialdemo­kratischen Tageszeitungen und die reformistische Gewerkschaftspresse über ihn herfallen. Wehe ihm, wenn er darüber hinaus gezwungen war, sein Brot in der Fabrik oder Werkstatt zu verdienen. In solchen Fällen haben die Gewerkschaftsbeamten den von den Gewerkschaftsmitgliedern ange­wandten Terrorismus in Anspruch genommen; und wirklich, in Deutschland braucht es nicht viel, um einen rebellischen Geist auf unfreiwillige Arbeitslosigkeit und Hunger zu reduzieren. Das ist deutsche Gewerkschaftsdisziplin.

Und deshalb werden wir außerhalb der großen deutschen Gewerkschaften bleiben, um die Prinzipien und Taktiken des revolutionären Syndikalismus zu predigen. Um dies zu erreichen, brauchen wir eigene Gewerkschaften in allen Zentren des Deutschen Reiches, die diese Prinzipien und diese Taktik vertreten, sie in alle Richtungen verbreiten und die Kosten dafür tragen.

Fritz Kater (Berlin)

Allemagne

L’union libre des syndicats allemands et sa lutte dans le mouvement allemand.

Fritz Kater (Berlin)

Sur la constitution de l’union libre des syndicats allemands (Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften). Il n’y a pas grand-chose à dire. Elle se compose surtout de syndicats des industries du bâtiment. Cependant ces industries traversant depuis plusieurs années déjà une crise aiguë, il y règne un chômage tel qu’on n’en n’avait jamais vu depuis toute une génération. Il va sans dire que cette crise réagit sur la propagande d’agitation et sur toute l’action organisatrice de ces syndicats et cela dans plusieurs directions

Par suite de ce chômage persistant, nombre des membres de nos organisations changent de métier et le terrorisme existant dans les grandes unions centrales allemandes les oblige souvent alors à adhérer à une de ces dernières. Voilà quelques-unes des causes pour lesquelles, malgré toute l’ardeur de notre agitation, il faut constater un recul du nombre de nos membres depuis le premier congrès syndicaliste international tenu à Londres en 1913.

Certes, les unions centralistes d’obédience social-démocrate, les unions libres comme elles s’appellent en opposition aux unions chrétiennes et catholiques, ont aussi beaucoup souffert de la crise du bâtiment; mais ces unions ont un moyen de recrutement qui ne manque pas d’attraction pour les masses populaires allemandes. Ce sont les caisses de secours en cas de maladie, de voyage, d’invalidité ou d’enterrement et toute une série d’autres institutions de secours mutuels qui, toutes ensemble, dévorent souvent les trois cinquièmes et même plus des recettes de ces Unions.

Le nombre des ouvriers allemands qui adhèrent à un syndicat pour des motifs de principe et d’idéal est tellement minime qu’on devrait vraiment aller les chercher dans ce pays avec la lanterne de Diogène.

L’Allemagne ne se trouve pas seulement au premier rang des États modernes pour tout ce qui est du militarisme et de la bureaucratie, elle domine de même dans le mouvement ouvrier.

L’esprit du militarisme de caserne, l’adoration des fonctionnaires syndicaux, l’esprit de discipline […] des deux millions et demi d’ouvriers et d’ouvrières se trouvant sous la surveillance étroite de leurs fonctionnaires, tout cela est en opposition avec nos idées syndicalistes. Ajoutons encore l’existence de 58 à 59 journaux corporatifs paraissant une fois ou plus par semaine et quelques soixante quotidiens social-démocrates qui tous ensemble cultivent et propagent l’esprit syndical réformiste.

Voilà les remparts dont les syndicalistes doivent faire l’assaut. Certes, nos organisations se répartissent sur l’Empire entier et le syndicalisme [révolutionnaire] a donc d’ores et déjà des ramifications dans presque toutes les villes de quelque importance. Aussi possédons-nous déjà deux organes hebdomadaires: la Einigkeit (Concorde) et le Pionier dont le dernier est aussi lu dans les milieux syndicaux réformistes. Seulement, que vaut tout cela en face des moyens d’action dont disposent, contre le syndicalisme révolutionnaire, les socialistes parlementaires et les syndicalistes réformistes. Fausses interprétations, mensonges, insultes concernant le syndicalisme en Allemagne; même les dénonciations de camarades de classe auprès de la police et de la justice, rien ne manque dans les journaux social-démocrates et dans la presse syndicale réformiste, lorsqu’il s’agit de combattre les syndiqués révolutionnaires. Si les camarades révolutionnaires de France, d’Italie, d’Espagne, d’Angleterre, d’Amérique, etc. pouvaient entendre seulement un centième de tout ce que cette presse raconte aux ouvriers allemands sur les doctrines et le tactique de lutte du syndicalisme [révolutionnaire], ils se détourneraient avec dégoût de ces gens-là et feraient tous les efforts pour développer l’Internationale révolutionnaire. [Ils pourraient alors comprendre] les raisons profondes pour lesquelles nous autres syndicalistes révolutionnaires faisons si peu de progrès en Allemagne.

Encore quelque chose. A plusieurs reprises, la première fois par la bouche du camarade Jouhaux de Paris une autre fois par la voix du camarade Tom Man de Londres, on nous a donné le conseil, à nous en particulier et aux syndicalistes de tous les pays en général, d’abandonner nos syndicats particuliers pour commencer la propagande des idées syndicalistes au sein même des unions centralistes. Ces camarades et tous ceux qui pensent comme eux, jugent de la situation des autres pays d’après les possibilités qui se présentent dans leur propre pays. Ils méconnaissent tout particulièrement la situation en Allemagne où l’esprit parlementaire et réformiste et la discipline syndicale ont pénétré et travaillé les masses depuis plus d’un quart de siècle.

La supposition qu’on pourrait avec succès propager dans ces milieux syndicaux les principes syndicalistes équivaut à cette autre: qu’on pourrait, dans une caserne allemande, faire comme soldat de la propagande antimilitariste.

Si le soldat antimilitariste est [condamné à] plusieurs années de prisons, le syndicaliste révolutionnaire, qui oserait ouvertement propager ses opinions, tout en ne recevant pas une punition aussi sévère, serait quand même puni infailliblement. Tout d’abord, on lui imposerait catégoriquement le silence; au cas où il ne voudrait pas se taire, mais où il continuerait à affirmer ses idées, il serait conformément à tel ou tel article des statuts exclu du syndicat. S’il continuait sa propagande contre le syndicat […], les quotidiens social-démocrates et la presse corporatiste réformiste lui tomberaient dessus. Malheur à lui s’il était par-dessus le marché forcé de gagner son pain à la fabrique ou à l’atelier. Souvent dans de pareils cas, les fonctionnaires syndicaux ont fait appel au terrorisme appliqué par les adhérents du syndicat; et, vraiment, il n’en faut pas beaucoup en Allemagne pour réduire un esprit rebelle au chômage involontaire et à la faim. C’est là la discipline syndicale allemande.

Et voilà pourquoi nous resterons en dehors des grands syndicats allemands, pour prêcher les principes et la tactique du syndicalisme révolutionnaire. Pour pouvoir le faire, nous avons besoin de syndicats séparatistes dans tous les centres de l’Empire allemand, qui porteurs de ces principes et de cette tactique, en font la propagande dans toutes les directions et en supportent les frais.

[Source : La Voix du Peuple, 20-26.04.1914]


[1]     Fritz Kater, Le syndicalisme révolutionnaire en Allemagne; in: La Voix du Peuple, 20 – 26. April 1914 (nach der Fassung auf Pelloutier Net). Übersetzung und Anmerkungen: Jonnie Schlichting.

[2]     https://en.wikipedia.org/wiki/First_International_Syndicalist_Congress

[3]     Anspielung auf den griechischen Philosophen Diogenes von Sinope (ca. 413 – 323 v.u.Z.), der einmal am hellen Tag auf dem Marktplatz von Athen mit einer Laterne herumlief und auf die Frage, was das solle, antwortete: »Ich suche einen Menschen.«

[4]     Léon Jouhaux (1879 – 1954) https://de.wikipedia.org/wiki/L%C3%A9on_Jouhaux

[5]     Tom Mann (1856 – 1941) https://de.wikipedia.org/wiki/Tom_Mann

Vor 45 Jahren – La Furia Libertaria – CNT 1977

27. März 1977 in der Stierkampfarena von San Sebastián de los Reyes 
(einer Vorstadt von Madrid, etwa 18 Kilometer nördlich) Madrid

Es ist gerade 45 Jahre her, dass am 27. März 1977 in der Stierkampfarena von San Sebastian de los Reyes die erste große CNT-Kundgebung nach der langen franquistischen Finsternis stattfand.

In den Worten des damaligen Generalsekretärs der CNT: „Bereits am Mittag waren die Arena und die Tribünen voll besetzt und boten ein beeindruckendes Schauspiel, das durch Fotodokumente für die Nachwelt festgehalten werden wird. Rund 30.000 Menschen hatten sich versammelt, um die Stimme der CNT zu hören. Die Szene war unbeschreiblich: Hunderte von Fahnen, die Hymnen der Organisation, ein großes Getöse, die ersten Parolen, die später in Millionen von Versammlungen und Demonstrationen zu hören sein sollten …“

(Juan Gómez Casas, Relanzamiento de la CNT: 1975-1979)
Madrid – Stierkampfarena San Sebastian de los Reyes

28. Mai in Valencia

2. Juli 1977 in Barcelona

Plakate in Barcelona – überall verklebt …
( eigene Fotos, 2.7.1977 – fm )
Federica Monseny spricht von mehreren hundertausend Genossinnen und Genossen – anfangs wurde von über 300.000 Teilnehmer:innen gesprochen … (der Autor war irgendwo am Springbrunnen mit dabei)
( Fotos Manel Armengol )
Gigantische Kundgebung der CNT in Barcelona

Hunderttausend Personen im Park von Montjuich

Rund 100.000 Menschen nahmen gestern Nachmittag im Montjuich-Park in Barcelona an der Kundgebung teil, zu der der nationale Gewerkschaftsbund (CNT) aufgerufen hatte. Während der Kundgebung im Montjuich-Park in Barcelona, an der unter anderem Federica Montseny, Juan Gómez Casas, Enric Marcos und José Peirat teilnahmen.

Der Generalsekretär der CNT in Katalonien, Enric Marcos, forderte in seiner Rede die Freilassung aller politischen Gefangenen. „Wir sind hier“, sagte er, „um zu zeigen, dass wir nicht verschwunden sind und dass wir nie verschwinden werden.“

Die Kundgebung setzte sich in einer Atmosphäre fort, die durch die ständigen Rufe der Teilnehmer angeheizt wurde, die Slogans wie „Das Volk, vereint, wird niemals besiegt werden“, „Totale Amnestie“, „Ja, ja, ja, ja, Freiheit“ und „Gefangene auf die Straße, auch gewöhnliche Gefangene“ skandierten.

José Peirats, Direktor von Solidaridad Obrera, griff die Nationalitäten [gemeint ist hier v.a. der baskische und katalanische Separatismus] scharf an, und Federica Montseny, Gesundheitsministerin der Zweiten Republik, verwies auf die überhöhten Kosten der vergangenen Wahlen und erklärte, dass „das Fleisch der Abgeordneten sehr teuer geworden“ sei und jeder Abgeordnete die Arbeiterklasse eine Million Peseten koste. Federica Montseny erinnerte daran, die Parallelität des Montjuich-Berges hervorzuheben, „ein Ort“, sagte sie, „mit tragischen Erinnerungen für anarchistische Aktivisten, da viele Opfer der Repression auf diesem Berg hingerichtet wurden“. Die Gewerkschaftszentralen, die mit den Parteien verbunden sind, seien nichts weiter als eine Bremse, um die Arbeiter von einer „Revolte“ abzuhalten. In diesem Zusammenhang griff sie Santiago Carrillo, den Generalsekretär der Kommunistischen Partei Spaniens, scharf an und sagte, er sei „monarchistischer als die Monarchisten“. Wenn das Eurokommunismus ist, dann will ich verdammt sein.

Nach den Reden, an denen u.a. Juan Gómez Casas, Sekretär des Nationalkomitees, und Carlos Piernavieja, Vertreter der andalusischen Organisation, teilnahmen, begann eine „libertäre Feier“.
(El Pais, 3. Juli 1977, Titelseite)

Titelseite El Pais, 3. Juli 1977

Die erste Kundgebung seit dem Krieg

Die Kundgebung fand vor dem Palau Nacional statt, wo sich das Rednerpult befand. Auf den Stufen darunter und in den verschiedenen Seitenstraßen bis zur Reina Maria Cristina versammelten sich mehrere tausend Menschen, um an der ersten großen Kundgebung in Barcelona nach dem Bürgerkrieg teilzunehmen. Nach Angaben der Guàrdia Urbana nahmen 150.000 Menschen teil. Nach Angaben der Organisation waren es 300.000.

betevé, 2 de juliol del 2021, katalanisch • https://beteve.cat/va-passar-aqui/cnt-miting-1977-montjuic/

Über den Aufstieg und Fall der spanischen CNT-AIT siehe auch den Artikel aus der barrikade # 3 vom April 2010:

fm, 17. Mai 2022

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Gründung der FVdG am 17.-19. Mai 1897

Vom 17.-19. Mai 1897 erfolgte die Gründung der Organisation der Lokalisten als Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften – FVdG in Halle an der Saale. Sie war die Vorgängerorganisation der 1919 gegründeten Freien Arbeiter-Union Deutschlands, der FAUD.

Wie die SPD-Presse seinerzeit auf den Aufruf und die Bitte um Abdruck in den sozialdemokratischen Zeitungen reagierte, zeigt diese Antwort des Redakteurs des ‚Volksblatt für Harburg, Wilhelmsburg und Umgebung‘:

Auszug aus der Broschüre von 1912

Wir publizieren hier die zum 15jährigen Bestehen der FVdG von Fritz Kater geschriebene Broschüre aus dem Jahre 1912:

Archiv Karl Roche

Regionales Archiv zur Dokumentation des antiautoritären Sozialismus (Anarchosyndikalismus, Anarchismus und Rätekommunismus) in Hamburg – RADAS

https://archivkarlroche.wordpress.com/

Hamburg, den 17. Mai 2022

Der KPD-Aufstand in Hamburg 1921

Vor hundert Jahren …

Der kommunistische Aufstandsversuch
in Hamburg am 23. März 1921

Bei diesen geschichtlichen Ereignissen kann es keine Objektivität geben … die sozialdemokratische Lüge vom Sozialismus ist ebenso übel wie die kommunistische Phrasendrescherei oder gar das bürgerliche Geschwätz von der Demokratie. Geputscht hatten ja 1920 bereits die Rechtsextremen unter Kapp und alle „Guten“ zusammen haben Hitler nicht verhindert. Sie waren eher alle Steigbügelhalter der Nazis!

Die Frage, ob die Sozialdemokraten und ihre Verbündeten eine Alternative gehabt hätten, ist ebenso töricht wie widerlegt angesichts der eindeutigen Haltung der reaktionären SPD-Führung. Sie sah ihre einzige Aufgabe in der Aufrechterhaltung des kapitalistischen Systems garniert mit demokratisch-parlamentarischer Soße. So orientierte sich die bürgerliche Ebert-Scheidemann-Regierung letztlich an der Phrase des „liberalen“ Eugen Richter aus dessen Wahlkampf 1894 – „Keine Revolution, keine Reaction, Reformen!“. Nur dass sie faktisch die reaktionären Kräfte des Kaiserreichs rief, finanzierte und zu Freikorps zusammenstellen ließ, die die revolutionäre Arbeiterschaft bekämpfen und liquidieren sollte.

Wahr ist sicherlich auch – dass ohne die organisierten Revolten und spontanen Hunger-Unruhen noch weniger Druck auf die Herrschenden ausgeübt worden wäre, die Probleme der Arbeitslosigkeit und Unterernährung anzugehen. Anderseits wuchs die Angst der besitzenden Klassen vor einem Umsturz dermaßen, dass diese Kreise immer wieder ihre politischen Ziele mit rechten Putschversuchen abzusichern versuchten. Hitler war dann die letzte Konsequenz.

Die Sipo und ab 1920 in Hamburg die Orpo – Sicherheits- und Ordnungs-Polizei (entspricht heute der Bereitschaftspolizei) waren militarisierte Polizeitruppen zur Aufstandsbekämpfung, die mit Militärausrüstungen wie Panzerwagen und auch Maschinengewehren ausgestattet war. Sie bestanden großenteils aus ‚abgerüsteten‘ Freikorps-Söldnern. Als Schupo wurden die „normalen“ Polizeibeamten auf den Wachen bezeichnet.

Panzerauto »Ehrhardt 21«
• Stacheldraht in Hamburg 1919
• Polizeiwache Davidwache, Reeperbahn/Ecke Davidstraße – St. Pauli, Hamburg 1919

Gegen diese schwerbewaffneten und ausgebildeten Mannschaften befeuerte die VKPD ihre Anhänger, sich bei diesen oder den normalen Polizeibeamten Schusswaffen zu „besorgen“. So wollte man einem Bürgerkrieg gewinnen?

Die Masse der demonstrierenden Kommunisten und Schaulustigen wäre niemals in der Lage gewesen, vollkommen unbewaffnet, einen kommunistischen Aufstand oder Putsch anzuzetteln. Das war den VKPD-Führern natürlich bewusst, deren Aufstandsversuche bereits ohne entsprechende Bewaffnung 1919 und 1920 gescheitert war. Damals hatten die Revolutionäre wenigstens noch Maschinengewehre und Handgranaten bei ihren Sturmangriffen auf die Polizeiwachen zur Verfügung (siehe Sturm auf die Davidwache Ostern 1919). 

Die Rote Fahne, 21. März 1921

Die Rote Fahne, 24. März 1921

Die Vorgeschichte – Mitteldeutscher Aufstand
und die neue »Offensiv-Strategie« der Komintern

… aber nach der Bolschewisierung der aus USPD-Mehrheit und Rest-KPD entstandenen VKPD karrte diese nun ihre Mitglieder „vor die Maschinengewehre“ – und das nicht nur am 23. März 1921 in Hamburg unter der Leitung von Ernst Thälmann (Hamburger USPD-Führer). Die lokalen Ereignisse anderenorts finden sich in der örtlichen Presse (wir verweisen da auf das online-Europeana-Archiv).

Für die SPD-Regierung in Berlin galt es, die „Demokratie“ zu sichern, die revolutionären Arbeiter hatten ihre Forderungen nach einer Räterepublik immer noch nicht aufgegeben hatten … Besonders nach dem reaktionären Kapp-Putsch 1920 bereiteten sich die Revolutionäre auf einen Gegenschlag vor. Der Konflikt wurde seitens des preußischen Innenministers Severing (SPD) dadurch weiter angefacht, dass er reaktionäre Organisationen, militärische Formationen wie die Orgesch (Organisation Escherich) nicht entwaffnete – sondern die revolutionären Selbstverteidigungs-Gruppierungen der Arbeiterschaft zu entwaffnen anstrebte.  Und das im Mansfelder Revier in Sachsen. Das führte dann zum Mitteldeutschen Aufstand, den die VKPD reichsweit über einen Generalstreik am 23. März 1921 zum Aufstand ausweiten wollte. Hier sei nur an die revolutionären Aktionen der Aufstandsführer der KAPD Max Hölz und Karl Plättner erinnert. Die Arbeiterschaft reagierte aber nur massiv auch in Hamburg und dem Ruhrgebiet.

Vor dem Aufstandsversuch war im Februar 1921 die KPD-Führung zurückgetreten und der alte Parteiführer Paul Levi kritisierte nach der katastrophalen Niederlage die angeordnete neue „Offensiv“-Strategie der kommunistischen Internationale (Komintern) als „bakunistischen“ Putsch; später landete später er dann wieder bei der SPD …

Es wird so getan, als wenn die Aufstandsversuche illegitim gewesen wären … natürlich kann man das so sehen, zumal ja die Sieger immer die Geschichte schreiben oder meinen, das Recht auf ihrer Seite zu haben und niederträchtig auf die Verlierer nach ihrer Ermordung auch noch eintreten zu müssen. Dass alle Putschabsichten seit der enormen Militarisierung bereits aussichtslos sein mussten, das hatte m.E. bereits der niedergeschlagene Spartakus-Aufstand im Januar 1919 in Berlin gezeigt. Der Reaktion war auch mit Aufstandsversuchen nicht mehr beizukommen.

Kommunistische Arbeiter-Zeitung, Berlin, der KAPD; ohne Datum, vermutlich: 24. März 1921

Hamburg – Mittwoch, 23. März 1921

Hamburger Anzeiger Donnerstag. 24. März 1921:

Ein schwerer Tag für Hamburg.

Die deutschen Kommunisten haben Anweisung von Moskau erhalten, den Umsturz mit allen Mitteln des Terrors im deutschen Vaterlande herbeizuführen. Überall soll die Räteregierung ausgerufen werden; man beabsichtigt, sich aller öffentlichen Gebäude zu bemächtigen, alle Verkehrsmittel zu Wasser und Lande stillzulegen und dann den letzten entscheidenden Stoß mit Hilfe bolschewistischer Kräfte zu führen, die an den deutschen Hafenplätzen Waffen, Munition, Lebensmittel und dergleichen landen sollen. Ja Rußland ist es gelungen, die Sowjetherrschaft auf den Spitzen der Bajonette zu errichten und sie bis zum heutigen Tage zu erhalten, obwohl noch keine Million Menschen der Sowjet-Organisation angehören. In Deutschland wird ein ähnliches Experiment mißglücken. Das Selbstbewußtsein des Volkes verlangt nicht nach neuen Sklavenketten, sondern nach Selbstregierung. Nach der Verwirklichung des gestern vom Bürgerschaftspräsidenten Roß gebrauchten Wortes, daß keiner herrschen soll, und daß an die Stelle des Staates, in dem bevorrechtigte Minderheiten das Regiment führten, der Volksstaat getreten ist. Und der Kommunismus strebt eine Minderheitsherrschaft an, die sich auf Blut und Eisen, wie einstens diejenige königlicher Selbstherrscher, stützt.

Die hamburgischen Kommunisten haben am Mittwoch den Wahnwitz begangen, mit ihrer kleinen Schar die Räteherrschaft ausrichten zu wollen. Die Hetze der Hamburger Volkszeitung, die gestern ungeschwächt fortdauert, hat ihre Früchte getragen. Die Erwerbslosen und die Werftarbeiter, die letzteren meist von auswärts nach Hamburg gezogene Elemente, stellten die Kerntruppen des Kampfes dar. Den Erwerbslosen wurde vorgeredet, man kämpfe um ihre Einreihung in den Kreis der zu Beschäftigenden. Ein Teil der Werftarbeiter folgte der Aufforderung zur Tat, angeblich um die Sozialisierung der Werke zu erreichen. Wäre einer gekommen, um diesen Kreisen die Unmöglichkeit ihres Verlangens im einzelnen nachzuweisen, er  wäre mit Hohn und Spott bedacht worden, und wenn er mit Engelszungen geredet hätte. Und was ist nun am 23. März erreicht worden? 39 Tote und Verwundete blieben auf der Wahlstatt als zu beklagende Opfer ihrer gewissenlosen Verführer, von denen einer, nämlich der Hauptschreier, Reich, sich gestern nachmittag im Bürgerschaftssaal herumdrückte, wo nur mit Worten geschossen wurde. Herr Reich war sozusagen in der Etappe! Das rote Blut der Arbeiter färbte deutsche Erde völlig nutzlos. Sehen diejenigen, die sich immer wieder von den kommunistischen Aufwieglern vor die Gewehrläufe der Sicherheitspolizei treiben lassen nicht ein. daß man sie als Kanonenfutter in genau derselben gewissenlosen Weise verbraucht, wie das oft genug im Kriege geschehen ist? Die Dinge liegen nicht so, wie im Juni 1920. Damals war Hamburg dem kommunistischen Zugriff wehrlos ausgeliefert. Gestern hat die Polizeitruppe bewiesen, daß sie Ruhe und Ordnung zu schützen vermag. Diese weitergehenden, noch so kühn ausgeheckten Pläne der Volkszeitungsleute zerbrechen an diesem Schutzwall, den die Republik leider hat errichten müssen. Wenn die Vernunft versagt, und blinde Leidenschaften die Oberhand gewinnen, hat der Staat das Recht, sich mit der Waffe in der Hand zu verteidigen und seine Existenz zu schützen.

Dieses Recht läßt sich die Sowjetrepublik am wenigsten nehmen. Der deutsche Staat übt es mit aller Rücksichtnahme aus. Wenn es aber um das nackte Leben geht, ist eine kräftige Abwehr besser als eine zögernde Verteidigung. Die kommunistischen Drahtzieher werden sich nach dem Verlauf des gestrigen blutigen Mittwoch sagen, daß sie in Hamburg auf Granit beißen. Eine Erkenntnis die zur Klärung der Sachlage dienen kann.

* * *

Während auf dem Heiligengeistfelde Sicherheitswehr und Aufrührer Brust an Brust standen, vollzog sich im Bürgerschaftssaal der letzte Akt der hamburgischen Regierungsbildung nach der Wahl 1921. Eine kommunistische Abgeordnete redete zur Einleitung etliche Gemeinplätze über die Rechte des hamburgischen Proletariats. Dann wurde der Wahlakt auf Grund des von den Mehrheitssozialisten und Demokraten beschlossenen Wahlaufsatzes vollzogen. In trauter Harmonie fanden sich Kommunisten, Deutschnationale und Deutsche Volkspartei in der Ablehnung dieses Senates. Um ihrer Mißstimmung nachdrücklich Ausdruck zu geben, blieb dieses merkwürdige Dreigespann auch der Vereidigung der Senatoren fern, die sich eine Viertelstunde nach der Wahl im großen Festsaal des Rathauses abspielte. Es war ein anderes, aber doch ähnliches Schauspiel wie bei früheren Vereidigungen von Senatoren. Das feierliche Amtsornat der Senatoren, das spanische Habit, ist  verschwunden, weniger weil die Revolution es wollte, als die Stoffteuerung. (…)

Seite 3:

Ausnahmezustand in Hamburg und Altona.

Infolge der Bedrohung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch gewissenlose Elemente hat sich der hamburgische Senat veranlaßt gesehen, zur Verhütung weiterer Ausschreitungen über das Gebiet des Hamburger Staates mit Ausnahme des Amtes Ritzebüttel den Ausnahmezustand zu verhängen und die in den Artikeln 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 der Reichsverfassung festgesetzten Grundrechte vorübergehend außer Kraft zu setzen.

Die vollziehende Gewalt ist dem Polizeiherrn Senator Hense übertragen, der gleichzeitig zum Regierungskommissar ernannt ist.

*

Der Ausnahmezustand ist nicht nur über Hamburg, sondern auch über Altona verhängt worden. Die preußische Staatsregierung hat mit der Bekanntmachung des Ausnahmezustandes, die bereits durch Maueranschlag erfolgt ist, das Polizeiamt Altona beauftragt.

Zum Regierungskommissar ist auch für den Stadtkreis Altona der Hamburger Polizeiherr Senator Hense bestellt worden.

Es wird darauf hingewiesen, daß Ansammlungen strengstens verboten sind und gegen Zuwiderhandelnde von der Waffe unnachsichtlich Gebrauch gemacht wird.


Wahnsinn oder Verbrechen?

Das am Dienstagabend vom Unterbezirk Groß-Hamburg der Vereinigten Kommunistischen Partei Deutschlands verbreitete Flugblatt, in dem die Arbeiter aufgefordert wurden, es nicht mehr bei Resolutionen, Versammlungen und leeren Demonstrationen (bisher waren die allwöchentlichen Demonstrationen doch immer „machtvolle“ und „gewaltige“ Kundgebungen) bewenden zu lassen, hat seine furchtbare Wirkung getan. Etwa 20 Tote und einige Dutzend Verletzte sind das Ergebnis. Moskau wollte Taten sehen. Immer ist man in Petersburg oder Moskau mit dem Rubel sehr freigebig gewesen, aber niemals umsonst. Und so auch jetzt bei den Bolschewismen.

Die gestrige Ausgabe der Volkszeitung leistete sich das Kunststück an Hetzarbeit und verlogener Darstellung der Vorgänge auf den Werften. Ihren Anhängern täuschte sie eine Macht vor. Die nötige Stimmung war erzeugt; der Ruf, endlich zu Taten überzugehen, war nicht ungehört verhallt.

Wir berichteten, gestern bereits über die Vorgänge bei Blohm & Voß, daß die Werft geschlossen und die gesamte Belegschaft entlassen sei. Ähnliche Vorgänge spielten sich auf den anderen großen Werften ab. Doch wurden hier teilweise die Radaumacher von den Arbeitern kurzerhand hinausgeworfen. Aber die Werftleitungen sahen sich durch die Vorgänge ebenso wie Blohm & Voß veranlaßt, die Betriebe auf unbestimmte Zeit zu schließen. Bei der Wiedereröffnung wird sicher wie im Vorjahre eine Sichtung der Arbeiterschaft vorgenommen und die fortgesetzt Unzufriedenen werde draußen bleiben.


Die ersten Toten und Verwundeten.

Nach der Schließung der Werft von Blohm & Voß und nachdem die Belegschaften anderer Betriebe die Arbeit eingestellt hatten, fanden sich auf Steinwärder größere Gruppen von Arbeitern zusammen, in denen aufreizende Reden gehalten wurden. Dies veranlaßte den Senat, den Ausnahmezustand über Hamburg zu verhängen. Nach 8 Uhr zog eine große Anzahl Vulkanarbeiter über den Roßdamm nach dem Elbtunnel. Sie wurden von den Polizeimannschaften aufgefordert, einen andern Weg einzuschlagen. Ein Redner forderte die Menge auf, die Polizeikette zu durchbrechen. Wieder versuchten die Polizeimannschaften zur Vernunft zu reden. Schließlich versuchten die Demonstranten, die Polizeimannschaften zu entwaffnen. Jetzt waren diese gezwungen, von der Waffe Gebrauch zu machen. 4 Tote und 18 Verwundete blieben auf dem Platz. Nun stob die Menge auseinander.

Von anderer Seite — einem Werftschlosser, der dem Heimschutz angehört — wird uns der Vorgang allerdings wesentlich anders geschildert. Nach den Angaben dieses Augenzeugen haben die von ihrer Arbeit heimkehrenden Arbeiter den Weg über die Ellernholzbrücke von den Sicherheitsmannschaften versperrt gefunden. Da sie einen anderen nicht hätten, so verhandelten sie mit dem die Truppe führenden Leutnant, und dieser erlaubte schließlich den Durchzug, beging aber den Fehler, seine Leute nicht aus dem Wege zu nehmen, so daß möglicherweise eine unbeabsichtigte Reibung bei dem Durchzug der Arbeiter im Gedränge entstand. Ohne einen sichtbaren Grund habe plötzlich ein jüngerer Mann der Sicherheitswehr, der dem Augenzeugen schon vorher durch sein unruhiges und aufgeregtes Betragen aufgefallen sei, einen scharfen Schuß abgegeben und eine Handgranate geworfen. Hierauf liefen alle Leute der Sicherheitspolizei, etwa 15 bis 20 Mann zurück und gaben ebenfalls Feuer; sie trafen die Arbeiter, die die Sperre bereits passiert hatten, aber sich noch vor der Brücke befanden. Die Arbeiter liefen fast alle nach der Werft zurück, ein Teil suchte Deckung und passierte die Brücke später einzeln.

Die Hauptkämpfe am Millerntor.

Das Heiligengeistfeld war während des gestrigen Tages in seinem ganzen Umfange mit Stacheldraht abgesperrt und hinter dem Stacheldraht an der Feldstraße, Eimsbüttelerstraße mit einer dichten Schutzmannskette besetzt. Die Kommunisten
hatten die Versammlung — absichtlich? — nicht angemeldet, also wurde sie verboten. Eine Bekanntgabe durch die Zeitungen war nicht mehr möglich, so daß sich gegen 4 Uhr an den Hauptzugangs wegen zum Heiligengeistfeld größere Mengen an. sammelten. Die Glacischaussee war ebenfalls abgesperrt, auch für den Straßenbahnverkehr. Gegen 4 ½  Uhr belebte sich die Eimsbüttelerstraße von heimkehrenden Arbeitern, die schleunigst nach Hause gingen. Aber dann kamen diejenigen, die überall mit dabei sein müssen und vor allen Dingen, wenn
die Sozialisierung praktisch geübt werden soll. So kam es, daß gegen 5 Uhr die Zugangsstraßen zum Millerntor und die Elbanlagen mit einer tausendköpfigen Menschenmenge dicht besetzt waren. Von Steinwärder hallen einige Schüsse herüber. Die Menge schwillt immer mehr an. Einige Panzerautomobile fahren wie zur Warnung langsam durch die Menschenmassen, die schleunigst den Weg freigeben. Auch das Bismarckdenkmal ist dicht besetzt.

Es werden Drohungen gegen die Polizei ausgestoßen, die aber unbeachtet bleiben. Um 5 ½ Uhr wird die Menge aufgefordert, den Platz beim Hochbahnhof Millerntor zu räumen und die Anlagen zu die Anlage zu verlassen. Die Antwort ist das übliche Geheul. Plötzlich wird auf die Polizeimannschaften mit Flaschen, Steinen und Eisenstücken geworfen. Es wird noch einmal zur Räumung des Platzes aufgefordert, ein Schuß aus der Menge ist die Antwort. Ein Wachtmeister sinkt tot zu Boden.

Nun macht die Polizei ebenfalls von der Waffe Gebrauch. Erst ein paar blinde Schüsse, dann

schießen die Panzerautos scharf.

Jetzt ist der Platz im Nu geräumt. Geräumt? Nein, die Sanitätsmannschaften beginnen ihre traurige Arbeit. Etwa

12 Tote und eine ganze Menge verwundeter

sind fortzuschaffen. Über Namen usw. ist bisher noch nichts macht bekannt.

Auch vom Holstenplatz dröhnen scharfe Schüsse herüber. Hier hat es Gottseidank keine Menschenleben gekostet. Es ist bei Verwundeten geblieben. Alle Straßen sind im Nu mit den fluchtenden Menschenmassen angefüllt, über die Stolpernden wird hinweggetreten, so daß auch hier noch zahlreiche Verletzungen entstehen.

Nach der Katastrophe.

Beabsichtigt war, den Krakeel um 5 Uhr beginnen zu lassen, doch wurde dieser Plan im Laufe des gestrigen Tages geändert. Der Hauptschlag sollte beim Eintritt der Dunkelheit geführt werden. Dann sollte die Aufforderung der Volkszeitung, sich Waffen zu verschaffen, im die Tat um gesetzt werden, indem die Sicherheitspolizei angegriffen und ihrer Waffen beraubt werden sollte. Munition scheint man noch zu besitzen. Doch war die Polizei frühzeitig von der Absicht unterrichtet und hatte entsprechende Sicherheitsmaßregeln getroffen. Es kam aber gar nicht so weit. Die für diese Tat ausersehenen Stoßtrupps schienen inzwischen begriffen zu haben, daß

die Zeit der Volkswehr endgültig vorüber

ist. Das — leider notwendige — derbe Zupacken um 5 ½ Uhr beim Millerntor und Holstenplatz nahm selbst den größten Draufgängern den Mut, sich ihre Knochen entzweischießen zu lassen.

Um 9 ½ Uhr wurden die Absperrungen ausgehoben; die Straßenbahnen fuhren wieder wie üblich.

Nun haben ja die neuen Führer der Kommunisten ihre Probe bestanden. Moskau hat seinen Willen. Der Rubel kann wieder im Bewußtsein treu erfüllter Pflicht in die unergründlichen Taschen der Drahtzieher gleiten.

Ob aber die entlassenen Werftarbeiter, die von dem ganzen Radau nichts wissen wollten, sich nicht endlich dazu aufraffen, sich mehr energisch als höflich Ruhe zu verschaffen? Auch gestern wieder hat es sich gezeigt, daß es nur eine Minorität war, die sie der Not und dem Elend ausgeliefert hat. Wir zweifeln nicht daran, daß die der Kommunistischen Partei angehörenden Entlassenen den Lohnausfall von den
Veranstaltern der Tollhauskomödie ersetzt bekommen. Wer ersetzt aber den Tausenden von anderen Arbeitern, die ohne Schuld ihren Verdienst einbüßen, den Lohnausfall?

Heute morgen am Hafen.

Heute morgen sammelten sich auf dem Platz vor den St. Pauli-Landungsbrücken die auf der Werft von Blohm & Voß, der Vulkanwerft und der Deutschen Werft die dort beschäftigt gewesenen Arbeiter in großer Zahl. Anscheinend war der Mehrzahl der Leute die von den Werftleitungen verfügte Entlassung der Arbeiter nicht  bekannt; denn sie waren wie üblich für den Tag mit Lebensmitteln ausgerüstet. Die Leute verließen aber, nachdem der Sachverhalt von den dort ausgestellten verstärkten Polizeiposten mitgeteilt war, den Platz und begaben sich nach Hause. Einige Raisonneure wurden schnell von den Polizeiposten zur Ruhe gebracht.

Auf den übrigen Werften wird gearbeitet.

Die Straßen an der Wasserkante, in denen sich Polizeiwachen befinden, sind in einem Abstand von ca. 100 Meter mit Stacheldraht abgesperrt. Die Drahtverhaue tragen die schon bekannten Schilder mit der Aufschrift: „Hier wird geschossen!“

Der amtliche Bericht.

Der Chef der Ordnungspolizei berichtete gestern amtlich:

„Gegen 3 ½ Uhr nachmittags versuchten etwa 150 Arbeiter der Vulkanwerft über Roßdamm-Elbtunnel in die Stadt zu gelangen. An der Ellernholzbrücke wurde der Aufforderung der Absperrung, in kleinen Trupps durch den Freihafen zu passieren, nicht Folge geleistet. Vielmehr forderte ein Hetzer trotz des Ausnahmezustandes die Menge auf, gewaltsam in geschlossenem Zuge durchbrechen. Als sie sich hierzu verleiten ließ, mußte die Wache von der Schußwaffe Gebrauch machen. Hier hatten die Demonstranten etwa 4 Tote und 10 Verwundete. Dann wurde der Aufforderung, in kleinen Trupps weiter zu gehen, nachgekommen. Ein Teil der Menge zog von Wilhelmsburg-Veddel in die Stadt. Um 4.15 Uhr nachmittags wurde die Werft von aufrührerischen Elementen, die sich hinter Barrikaden zu verteidigen suchten, gesäubert. Die herausgedrängten Aufrührer hatten mehrere Verwundete. Sie zogen durch den Elbtunnel nach dem Millerntor zu. Hier kam es zu einem Zusammenstoß mit der Absperrung. Der Zugwachtmeister Adler der 11. Hundertschaft der kasernierten Ordnungspolizei wurde von rückwärts aus einem Haufe erschossen. Als die Ordnungspolizei daraufhin zur Waffe greifen mußte, traten auf Seiten der Widerstand leistenden Menge schwere Verluste, etwa 16 bis 20 Tote und Verwundete, ein. Kurz darauf ereignete sich am Justizgebäude ein weiterer Zusammenstoß. Hierbei hatten die Demonstranten etwa 6 Verwundete.

6 Uhr 45 wurden die noch in der Vulkanwerft befindlichen Aufrührer herausgedrängt. Verluste traten hierbei nicht ein. Zurzeit ist Stadt und Hafen ruhig.“

Die Toten und die Verhafteten.

Wie jetzt festgestellt worden ist, sind bei den Zusammenstößen am Mittwoch im ganzen 19 Personen erschossen und zahlreiche Personen sehr schwer verletzt worden. Von den Schwerverletzten sind inzwischen im Hafen-Krankenhaus weitere Personen verstorben, so daß sich die Zahl der Toten auf 30 erhöht hat. Im Hafen-Krankenhaus befinden sich jetzt noch 38 Personen, die zum Teil ebenfalls schwere Verletzungen erlitten haben und von denen nach Ansicht der Ärzte noch einige streben werden. Die Toten konnten noch nicht anerkannt werden, da sie meistens ohne Ausweispapiere und zum Teil bis zur Unkenntlichkeit entstellt sind. Das ist hauptsächlich darauf zurückzuführen, daß sie zu Boden gestürzt waren und dann die Menge rücksichtslos über sie hinwegtrat.

17 Haupträdelsführer

sind verhaftet worden und befinden sich in sicherem Gewahrsam. Sie alle verweigern die Angabe über den Aktions-Ausschuß und gaben nur an, daß sie auf Befehl unbekannter Leute gehandelt haben.

Die Volkszeitung verboten und besetzt.

Durch Verfügung der Behörden ist das weitere Erscheinen der Volkszeitung bis auf weiteres verboten worden. Das Geschäftslokal ist durch Orpo-Leute stark besetzt worden. Der elektrische Strom ist abgesperrt und die Druckmaschinen stehen unter polizeilicher Bewachung, damit dort auch keine anderen Druckschriften fertiggestellt werben können.

Wie die Bestien

hausten die Aufrührer auf der Werft von Blohm & Voß. Der Kriminalbeamte Ziegler, der zur kritischen Stunde in einer Erkundungssache auf Steinwärder zu tun hatte, wurde von einem Mann erkannt. Wie ein Lauffeuer ging der Ruf „Spitzel, Kriminal“ durch die Reihen. Zahllose Leute, meist Burschen zwischen 16 und 20 Jahren, eilten herbei. Ziegler wurde gepackt, zu Boden gerissen und arg mißhandelt. Man riß ihm das Zeug bis auf das Hemd vom Leibe, riß ihm die Schuhsohlen von den Stiefeln führte ihn dann völlig nackend in einen dunklen Raum. Eisen wurde herbeigeholt, mit denen man Ziegler die Füße zusammenband, um ihn ins Wasser zu werfen. In diesem Augenblick erschienen Orpo-Leute und befreiten Ziegler, der recht erhebliche Verletzungen erlitten hat.

Sämtliche Wachen abgesperrt.

Sämtliche Wachen in Hamburg sind durch Drahtverhaue abgesperrt worden und unter verstärkten polizeilichen Schutz gestellt worden. Es sind Schilder angebracht, die die Aufschrift tragen: „Halt, sonst wird geschossen!“ Alle Polizeibeamte sind schon bewaffnet, und es ist Befehl erteilt worden, bei etwaigen Zusammenstößen sofort von der Schußwaffe Gebrauch zu machen. Hamburg ist

auf alles gerüstet.

Die in Neumünster und in Schwerin liegende Reichswehr befindet sich in Alarm für Hamburg und kann mit bereitstehenden Sonderzügen in einer Stunde nach Hamburg geworfen werden. Von Hannover trafen heilte im Automobil zwei Regierungsvertreter hier ein, um sich amtlich über die Vorkommnisse zu unterrichten und Hilfe anzubieten. Nachdem sie mit Senator Hense konferiert hatte fuhren sie sofort nach Hannover zurück.

* * *

spr. Lebensmittelversorgung. 1900 Gr. Brot oder 1750 Gr. Brot und drei Rundstücke. Auf Abschnitt 1 der Lebensmittelkarte 200 Gr. amerikanisches Weizenmehl; auf Abschnitt M der blauen Bezugskarte für Kinder bis zum ersten Jahr 300 Gr. amerikanisches Weizenmehl. 150 Gr. Zucker. Da die Butterbestände geräumt und neue Zufuhren einstweilen nicht zu erwarten sind, muß die Verteilung von Butter einstweilen eingestellt werden. Nährmittel für Kinder: 750 Gr. Weizengrieß oder 500 Gr. weicher bzw. 400 Gr. gerösteter Zwieback auf den Nährmittelabschnitt N der Bezugskarte für Kinder bis zum ersten Jahr, 250 Gr. Weizengrieß auf den Warenbezugsabschnitt H der Kinderbrotkarte.

spr. Die Erwerbslosigkeit in Altona. In der Woche vom 14. bis 19. März betrug die Zahl der unterstützten männlichen Vollerwerbslosen 3119 (Vorwoche 3195), die der weiblichen 502 (502), die Gesamtzahl 8621 (3637). Danach ist ein Rückgang um 76 zu verzeichnen. Im Nachweis wurden 3582 männliche und 859 weibliche Arbeitsuchende gezählt. •

Kommunistische Unruhen in Hamburg.
Etwa 15 Tote, 30 Schwerverwundete.

Was die kommunistischen Führer zweifellos von vorn herein herbeizuführen beabsichtigt hatten, das ist leider Wirklichkeit geworden: Es ist zwischen der Ordnungspolizei und den kommunistischen Stoßtruppen zu schweren blutigen Zusammenstößen gekommen, die Menschenleben gekostet haben. Wir haben gestern abend schon kurz daraus hingewiesen, daß die Kommunisten absichtlich die vorgeschriebene Anmeldung der von ihnen einberufenen Demonstrationsversammlung auf dem Heiligengeistfeld unterlassen hatten, nur weil sie es darauf anlegten, daß Blut fließen sollte!

Im übrigen wollten die Kommunisten diesmal den radikalen Flügel der Erwerbslosen und den radikalen Flügel der Werftarbeiter vor ihren Wagen spannen. Es handelt sich ganz offenbar garnicht um die Erreichung irgendwelcher wirtschaftlichen Ziele — wer das wirklich glauben sollte, mußte schon hoffnungslos naiv sein — sondern es handelte sich ausschließlich um die erste Vorbereitung für eine politische Aktion nach moskowitischem Diktat.

Planmäßig gingen gestern morgen kommunistische Führer auf unsere großen Werften, schmuggelten sich mit den Belegschaften zusammen hinein und versuchten diesen vorzureden, daß für sie jetzt die Stunde gekommen sei, die Werften zu „sozialisieren“; das heißt in diesem Falle nichts anderes, als die Werften unter die Zwangsgewalt der radikalen Führer zu bringen. Es ist damit noch in keiner Weise gesagt, daß die Mehrheiten der verschiedenen Belegschaften mit dem Vorgehen der Ultraradikalen einverstanden waren. Die Kommunisten haben hier aber wieder durch ihr gewalttätiges Vorgehen für den Augenblick die Gewalt an sich gerissen, trotzdem die besonnenen Elemente unter den Werftarbeitern wiederholt sich dem widersetzten. Aehnliche Vorgänge, wie auf der Werft von Blohm & Voß spielten sich auf der Vulkanwerft, der Reiherstiegwerft und der Abteilung Finkenwärder der Deutschen Werft ab: Die Radikalen wollten die Direktionsgebäude besetzen, die Herrschaft an sich reißen und radikale Erwerbslose einstellen. Die Leitungen der Vulkanwerft und der Abteilung Finkenwärder der Deutschen Werft kamen dem zuvor, indem sie schon vorher die Schließung der Werft und die Entlastung der gesamten Arbeiterschaft verkündeten. (Das Nähere ergibt sich aus den Anzeigen in der heutigen Nummer.)

Der erste blutige Zusammenstoß.

Der Chef der Ordnungspolizei teilt mit: Gegen 3 ½ Uhr nachmittags versuchten etwa 1500 Arbeiter der Vulkanwerft über Roßdamm-Elbtunnel in die Stadt zu gelangen. An der Ellernholzbrücke wurde der Aufforderung der Absperrung, in Trupps durch den Freihafen zu passieren, nicht Folge geleistet. Vielmehr forderte ein Hetzer trotz des Ausnahmezustandes die Menge auf, gewaltsam in geschlossenem Zuge durchzubrechen. Als sie sich hierzu verleiten ließ, mußte die Wache von der Schußwaffe Gebrauch machen. Hier hatten die Demonstranten etwa 4 Tote und 10 Verwundete. Dann wurde der Aufforderung, in kleinen Trupps weiter zu gehen, nachgekommen. Ein Teil der Menge zog von Wilhelmsburg-Veddel in die Stadt. Um 4 ½ Uhr nachmittags wurde die Werft von aufrührerischen Elementen, die sich hinter Barrikaden zu verteidigen suchten, gesäubert. Die herausgedrängten Aufrührer hatten mehrere Verwundete. Sie zogen durch den Elbtunnel nach dem Millerntor zu. Feuerwehrleute der Wache 8 verbanden die Schwerverwundeten und ließen sie mit Krankenwagen ins Krankenhaus transportieren.

Kurze Zeit darauf wurde vom Senat der
Ausnahmezustand über Hamburg verhängt.

Uns ging darüber folgende amtliche Mitteilung zu: Infolge der Bedrohung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch gewissenlose Elemente hat sich der Senat veranlaßt gesehen, zur Verhütung weiterer Ausschreitungen über das Gebiet des Hamburger Staates mit Ausnahme des Amtes Ritzebüttel den Ausnahmezustand zu verhängen und die in den Artikeln 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 der Reichsverfassung festgesetzten Grundrechte vorübergehend außer Kraft zu setzen. Die vollziehende Gewalt ist dem Polizeiherrn Senator Hense übertragen, der gleichzeitig zum Regierungskommissar ernannt ist.

Der zweite schwere Zusammenstoß

ereignete sich kurz vor 6 Uhr in der Nähe des Heiligengeistfeldes. Starke Aufgebote der Polizei hatten mit Last- und Panzerautos und Maschinengewehren den Platz gesichert, der überdies mit Stacheldraht umzogen war. Auch die Glacischaussee war für jeden Verkehr abgesperrt, erst in später Abendstunde konnte die Straßenbahn hier wieder fahren. Trotzdem zogen mehrere tausend Kommunisten heran. Sie bewarfen die Sicherheitsmannschaften und die Autos mit Steinen und kleinen Eisenstücken und versuchten, sie zu entwaffnen. Auch Waffen wurden in der Menge nach den Anordnungen der Führer mitgeführt.

Ueber den Verlauf berichtet der Chef der Ordnungspolizei folgendes: Es kam zu einem Zusammenstoß mit der Absperrung. Der Zugwachtmeister Adler der 11. Hundertschaft der kasernierten Ordnungspolizei wurde von rückwärts aus einem Hause erschossen. Als die Ordnungspolizei daraufhin zur Waffe greifen mußte, traten auf Seiten der Widerstand leistenden Menge schwere Verluste, etwa 16 bis 20 Tote und Verwundete, ein. Kurz darauf ereignete sich am Justizgebäude ein weiterer Zusammenstoß. Hierbei hatten die Demonstranten etwa 6 Verwundete.

Bald darauf zogen die Kommunisten in kleineren und größeren Trupps nach Wilhelmsburg, wo sich in zwischen etwa 5000 ihrer radikalen Genossen versammelt hatten. Von den Führern wurde die Parole ausgegeben, sich bis zum Eintritt der Dunkelheit mit Waffen zu versehen, weil dann der große Angriff beginnen solle. Auch in Hamburg wurde die gleiche Parole ausgegeben. In den Treffpunkten der Kommunisten, in verschiedenen berüchtigsten Kneipen der Altstadt, in den Gängevierteln zwischen dem Steinweg und der Wexstraße versammelten sich die einzelnen moskowitischen Stoßtrupps und Abteilungen, um hier die näheren Befehle zu empfangen. So wurde im Ebräergang von einem sehr elegant gekleideten Herrn an etwa 40 „Kommunisten-Unterführer“, wie sie sich nannten, die Weisung erteilt, nach Eintritt der Dunkelheit ihre Gruppen bewaffnet bereit zu halten, da noch während dieser Nacht die gesamte Ordnungspolizei Hamburgs entwaffnet und die öffentlichen Gebäude und die Zeitungsbetriebe besetzt werden sollten.

Allmählich verschwanden die zweifelhaften Gestalten, die sich anfangs in den Straßen umhergetrieben hatten, immer mehr. Um zehn Uhr abends wieder, nur noch die starken Streifen der Ordnungspolizei zu Fuß, zu Rad und auf den Lastautos, die ununterbrochen die Stadt durchschwärmten, auf die von den Kommunisten angestellten Unruhen hin. Sonst lag alles ruhig da. Immerhin war der Verkehr in den Straßen und den Kaffeehäusern schwächer als sonst. Viele hatten es vorgezogen, im Hause zu bleiben, anstatt in die Gefahr zu kommen, in die Ruhestörungen hineingezogen zu werden.

Bei Schluß der Redaktion war noch nichts von dem eingetroffen, was die kommunistische Parole in Aussicht gestellt hatte. In den Kreisen der Ordnungspolizei rechnete man mit der Möglichkeit von Angriffen in den frühen Morgenstunden.

§ Von den Toten des 23. März, die bisher noch nicht identifiziert waren, sind inzwischen noch folgende Leichen anerkannt worden: Bohrer Paul Steenwärder, geboren am 2. 12. 1898, wohnhaft Thüringerstr. 67; Tapezierer Friedrich Dürner, geboren am 19. 1. 1876, wohnhaft Wiesenstraße 40; Schlosser Otto Emil Richard Ohm, geboren am 20.12. 1878, wohnhaft Sillemstr. 32, Haus 4; sowie Bäckergeselle Alfred Georg Reitz, geboren am 3. 3. 1883, wohnhaft Erichstr. 37, Haus 1. Es konnten bislang 23 Opfer rekognosziert werden, die der Generalstaatsanwalt zur Bestattung freigegeben hat. Die Bestattung der Opfer findet am Mittwoch und Donnerstag auf Wunsch der Angehörigen getrennt statt, da viele der Gefallenen Familiengrabstellen haben.

Neue Hamburger Zeitung, 30. März 1921 – Morgenausgabe

* * *

Und hier nur ein Auszug der Stellungnahme der FAUD bzw. ihrer Wochenzeitung Der Syndikalist vom 30. April 1921:

Der Syndikalist, Nr. 17 – 30. April 1921:

Am 18. März begann die „Rote Fahne“ mit den Aufrufen zur Bewaffnung:

„Ein jeder Arbeiter pfeift auf das Gesetz und er erwirbt sich eine Waffe, wo er sie findet!

(…) Nun war das Geschick im Lauf. Vom Mansfeldischen sprang der Funke nach Hamburg über. Dort gab es sofort reichlich Tote, und wir können uns kein Urteil erlauben, ob dort die „neue Theorie“ auf fruchtbaren Boden gefallen war. Jedenfalls waren die Hamburger Genossen naiv genug gewesen, zu glauben, eine Parteizentrale, die mit dem Aufstand herumfackle, wisse was sie tue und zu glauben, die Zentrale wolle, was sie sage. Sie gingen als „aufs Ganze“. Man sandte ihnen einen expressen Boten, der „bremsen“ sollte. Als der Expresse gebremst hatte, fand man, daß er zuviel gebremst hatte. Man sandte einen anderen Expressen, der die Bremsung bremsen sollte. Als aber der zweite Expresse kam, war die Hamburger Bewegung schon gebrochen. Und damit war die Gesamt“aktion“ im wesentlichen bereits am Ende ihrer Kräfte. Die „Aktion“, die entstanden war in einem Kopf, der zudem keinen blassen Schimmer hat von deutschen Verhältnissen, und die politisch vorbereitet und geführt war von politischen Kindsköpfen, hatte die Kommunisten allein gelassen.

(…)

Wie aber dachte sich die Zentrale das Verhältnis der Kommunisten zu den Massen? (…) Nun hatten sie ihre Toten. In Hamburg und im Mansfeldischen lagen sie. Aber die Situation war von Anfang an so ohne jede Voraussetzung für eine Aktion, dass nicht einmal die Toten die Massen in Bewegung zu bringen vermochten. Man hatte aber noch ein anderes Mittel bereit. In Nr. 133 der „Roten Fahne“ vom Sonntag, dem 20. März, steht ein Artikel mit der Überschrift: „Wer nicht für mich ist, der ist wider mich! Ein Wort an die sozialdemokratischen und unabhängigen Arbeiter.“ (…) Es heißt da am Ende:

Die Rote Fahne, 20. März 1921

Man denke sich: für die unabhängigen und sozialdemokratischen Arbeiter lag in dieser Situation kein Grund zu einer Aktion vor. Der geniale Kopf, der die Aktion ersonnen, war ihnen unbekannt, ein Beschluß der Kommunistischen Partei war für sie kein Ereignis, das sie, ohne dass sie eine Begründung kannten, in eine Aktion riß, und wir vermuten: hätten sie die Begründung gekannt, so würde ihr Wille zur Aktion nicht größer geworden sein. Man verstehe: diesen Arbeitern, die der Aktion völlig verständnislos gegenüberstanden, stellt man als Bedingungen dafür, dass sie mitmachen dürfen, die, dass sie möglichst ihre bisherigen Führer an die Laterne knüpfen. Und für den Fall, dass sie sich dieser Bedingung nicht willig fügen, wird ihnen die Alternative gestellt: „Wer nicht für mich ist, der ist wider mich!“ Eine Kriegserklärung für vier Fünftel der deutschen Arbeiter zu Beginn der Aktion!

(…) Die Zentrale hatte zu entscheiden, was weiter geschah. Sie entschied sich für „Steigerung der Aktion“. Die Aktion, die irrsinnig begonnen war, in der kein Mensch wußte, worum man eigentlich kämpfe, in der die Zentrale – offenbar weil ihr nichts anderes einfiel und weil sie den Kniff für furchtbar klug hielt – zurückgriff auf die Gewerkschaftsforderungen aus dem Kapp-Putsch (!), die Aktion, die Narretei sollte gesteigert werden. Sie war steigerungsfähig. Zu den Toten im Mansfeldischen und Hamburg kamen die Toten von Halle. Auch sie brachten nicht die „Stimmung“. Nach den Toten von Halle kamen die Toten von Essen. Aber die „Stimmung“ blieb aus. Nach den Toten von Essen kamen die Toten von Mannheim. Aber noch immer keine „Stimmung“. Man wird nervös in der Zentrale wegen des Ausbleibens der Stimmung. In dieser Situation dann am 30. März, sprach jenes Zentralmitglied jenen Stoßseufzer aus, daß doch vielleicht in Berlin die Sipo „die Ruhe verlieren“ möge, damit die Arbeiterschaft „gereizt“ werde. (…) Und daneben wurde die Arbeiterschaft, die „gereizt“ werden sollte, in der „Roten Fahne“ weiter „behandelt“. Am selben 30. März 1921 schrieb dieses Blatt folgendes: „Schmach und Schande über den Arbeiter, der jetzt noch beiseite steht, Schmach und Schande über den Arbeiter, der jetzt noch nicht weiß, wo sein Platz ist.“

(…) Was soll man dazu sagen? Da verblaßt auch der Name Ludendorff. Der schickte, die Niederlage sicher vor Augen, Klassenfremde, Klassenfeinde in den Tod. Die aber schickten ihr eigen Fleisch und Blut zum Sterben für eine Sache, die sie selbst schon als verloren erkannt, zum Sterben, damit ihre, der Zentrale Position, nicht gefährdet werde. Wir wünschen den Genossen, mit denen wir selbst lange frohe und trübe Zeit durchlebt haben, keine Buße für das, was sie getan; nur eine Kasteiung mögen sie sich auferlegen, um ihrer selbst und um der Partei willen, in deren Nutzen zu handeln sie wohl glaubten, und das ist: deutschen Arbeitern nicht mehr unter die Augen treten.

• Aus dem Artikel: Paul Levi und die März-Aktion der V.K.P.D., Der Syndikalist, Ausgabe 17 vom 30. April 1921

21. 3.1921
Die KPD proklamiert im Mansfelder Industrierevier den Generalstreik. Mit der „Märzaktion“ soll die Republik gestürzt werden. Es kommt zu schweren Kämpfen mit Regierungstruppen, bei denen auf beiden Seiten 200 Menschen ums Leben kommen. Am 2. April zieht die KPD den Streikaufruf zurück. Nach dem Aufstand treten 400.000 Mitglieder aus der Partei aus, das entspricht der Hälfte aller Mitglieder.

29. 3. 1921

Als Reaktion auf die kommunistischen Streiks in Mitteldeutschland werden außerordentliche Gerichte zur schnelleren Verurteilung der festgenommenen Aufständischen eingerichtet.

https://www.dhm.de/lemo/jahreschronik/1921
Der Unionist – Nr. 13 vom 30. März 1921Das Urteil gegen Karl Roche – 13. April 1921

Das Urteil gegen Karl Roche – 13. April 1921

Die eingerichteten Außerordentliche Gerichte machten kurzen Prozeß. Wir greifen hier nur die Zeitungsmeldungen zur Verurteilung des Genossen Karl Roche für die Unionist-Ausgabe Nr. 13 heraus.

Hamburger Anzeiger, 13. April 1921:

Weitere Aufruhrsachen vor dem Sondergericht.
Kommunistische Flugblätter und Weiterdruck der Volkszeitung.

Wegen Vorbereitung zum Hochverrat haben sich vier Personen zu verantworten: Der Gewerkschaftssekretär der V. K. P. D. Karl Sehnbruch, der Student der Philosophie Werner Heinz Neumann aus Berlin, zurzeit politischer Kommissar der V. K. P. D. Wasserkante, der Buchdruckereibesitzer Albert Friedrich Heil und der frühere Bauarbeiter und jetzige Invalide Karl Roche. Es handelt sich um die Herausgabe aufreizender Flugblätter und den Druck des Unionists, des Organs der „Arbeiterunion“, und um die Fortsetzung der verbotenen Volkszeitung. Der Angeklagte Heil ist Inhaber einer kleinen Druckerei, in der der Unionist gedruckt wird. In der letzten Nummer dieser Zeitung sollen aufreizende Artikel enthalten sein, wofür der Angeklagte Roche verantwortlich gemacht wird, der aber die Verantwortung ablehnt. Er habe lediglich die Manuskripte in die Druckerei gebracht, aber sich um den Inhalt nicht gekümmert. Am Tage vor Ostern druckte Heil im Auftrage der Leitung der V.K.P.D. ein aufreizendes Flugblatt, dessen Inhalt er aber nicht gelesen haben will. Die Polizei bekam Wind von der Sache, besetzte die Druckerei und nahm die Angeklagten Sehnbruch und Neumann, die dort erschienen, in Haft. Sehnbruch, der aus München ausgewiesen ist, war erst ein paar Tage in Hamburg und will nichts gewußt haben. Neumann ist nach Hamburg gekommen und hat sich der V.K.P.D. zur Verfügung gestellt. Er behauptet, eine Fortsetzung der verbotenen Volkszeitung sei nicht beabsichtigt gewesen: er habe sich lediglich um den Druck der in Kiel und Bremen erscheinenden Kopfblätter der Volkszeitung gehandelt, die nicht verboten gewesen seien.

Der Staatsanwalt beantragt die Freisprechung von Sehnbruch und Neumann, gegen die nichts erwiesen sei; gegen Roche und Heil wird Festungshaft von einem Jahre  und von 18 Monaten beantragt. Das Urteil lautet gegen Sehnbruch und Neumann antragsgemäß auf Freisprechung, gegen Roche auf ein Jahr und gegen Heil auf 18 Monate Festungshaft. •

Neue Hamburger Zeitung, 13. April 1921:

Außerordentliches Gericht des Reichs.

Ik. Wegen Vorbereitung zum Hochverrat stehen vor dem Gericht: der Gewerkschaftssekretär Karl Sehnbruch, der Student Werner Heinz Neumann, der Buchdruckereibesitzer Albert Friedrich Heil und der Bauarbeiter Carl Roche. Es handelt sich um die Herausgabe aufreizender Flugblätter und die Fortsetzung der verbotenen Volkszeitung. Der Angeklagte Heil hat eine kleine Buchdruckerei, in der der Unionist, das Organ der Arbeiter-Union, gedruckt wird. Es wurde am Tage vor Ostern von der Führung der V. K. P. D. beauftragt, Flugblätter für Landarbeiter zu drucken, auch verhandelte man mit ihm über den Druck einer Zeitung, die nach der Meinung der Polizei die verbotene Volkszeitung ersetzen sollte. Heil nahm den Auftrag aus geschäftlichen Rücksichten an, politisch hat er nichts mit den Kommunisten und Unionisten zu tun.

Der Angeklagte Roche soll bei diesen Geschäften die Vermittlerrolle gespielt haben. Die Polizei besetzte die Heilsche Druckerei und nahm Sehnbruch und Neumann, die in der Druckerei erschienen, in Haft. Sehnbruch wurde seiner Darstellung nach vom Parteisekretär Behring in die Heilsche Druckerei gesandt, um sich zu erkundigen, ob die Flugblätter fertig seien. Weiter will er von der Sache nichts wissen.

Neumann, ein Berliner Student der Philosophie, ist vor einiger Zeit nach Hamburg gekommen, um sich der V. K. P. D. zur Verfügung zu stellen. Er hatte eine Legitimation als „politischer Kommissar der V. K. P. D. Wasserkante“ bei sich, als er verhaftet wurde. Er bestreitet, daß eine Fortsetzung der verbotenen Volkszeitung beabsichtigt gewesen sei; es habe sich lediglich um den Druck der in Bremen und Kiel erscheinenden Kopfblätter der Volkszeitung gehandelt, die nicht verboten gewesen seien. Dem Roche wird vorgeworfen, daß er in dem Unionist aufreizende Artikel veröffentlicht habe. Er erklärte, daß er für den Inhalt dieser Zeitung nicht verantwortlich gemacht werden könne, er sei lediglich Bote gewesen.

Nach Schluß der Beweisaufnahme beantragt der Anklagevertreter die Freisprechung für Sehnbruch und Neumann, deren Schuld nicht einwandfrei nachgewiesen sei. Heil und Roche müßten bestraft werden, weil sie aufreizende Druckschriften zu verbreiten versucht hätten. Gegen Roche wird ein Jahr Festungshaft, gegen Heil werden 18 Monate Festungshaft beantragt. Das Urteil lautet in bezug auf Neumann und Sehnbruch antragsgemäß auf Freisprechung. Roche trage die Verantwortung für die aufreizenden Artikel des Unionist. Er wird zu einem Jahr Festungshaft verurteilt.

Heil, der aus geschäftlichen Interessen die aufreizenden Druckschriften hergestellt hat, wird zu 18 Monaten Festungshaft und wegen Preßvergehens zu 150 Mark Geldstrafe verurteilt. •

Gerichts-Bericht des Hamburgischen Correspondenten vom 13. April 1921:

Vor dem außerordentlichen Gericht standen ferner der aus Bayern wegen politischer Umtriebe ausgewiesene Gewerkschaftssekretär Karl Sehnbruck, der Student der Philosophie Werner Neumann aus Berlin, der Druckereibesitzer Albert Friedrich Heil und der mehrfach wegen politischer Vergehen [Anmerkung: vornehmlich im Kaiserreich!] bestrafte frühere Bauarbeiter Johann Friedrich Rocke unter der Anklage der Verleitung zum Hochverrat. Bei der Ueberholung der Heilschen Druckerei am 26. März traf die Polizei dort die Angeklagten Neumann, Sehnbruch und Rocke an. Bei der Durchsuchung der Druckerei fand man eine Anzahl Manuskripte hetzerischen Inhaltes für Flugblätter der kommunistischen Partei, sowie für die Arbeiter-Union. Ebenso den fertiggestellten Satz eines solchen Blattes. Alles wurde beschlagnahmt. Man vermutete auch, dass die kommunistischen Schriften zur Fortsetzung der verbotenen Hamburger Volkszeitung dienen sollten. Die Angeklagten Sehnbruch und Neumann erklärten nun, sie hätten durchaus keinerlei Kenntnis von dem Inhalt der zu Heil gebrachten Manuskripte gehabt. Sie seien der Meinung gewesen, dass es zu Kopfblättern für Zeitungen für Kiel und Bremen dienen sollte, die sonst in der Volkszeitung gedruckt wurden.

Heil sagte aus, er habe das Organ der Arbeiter-Union, den ‚Unionist’, gedruckt. Als ihm Rocke das in Rede stehende Manuskript gebracht hatte, habe er es für illegal gehalten. Rocke habe seine Bedenken aber zu zerstreuen gewusst, indem er erklärte, es werde ja nur die Ansicht der Kommunisten, nicht die der Unionisten zum Ausdruck gebracht. Rocke will nur der Bote der Arbeiter-Union gewesen sein und als solcher wiederholt, wie auch am 26. März, mit Heil über einen Druckauftrag verhandelt haben. Nach der Beweisaufnahme hielt Oberstaatsanwalt Hollender eine Vorbereitung zum hochverräterischen Unternehmen seitens der Angeklagten Sehnbruch und Neumann nicht für erwiesen und beantragte deren Freisprechung, aber gegen Heil, der aus Gewinnsucht gehandelt hatte, 15 Monate, gegen Rocke 1 Jahr Festungshaft. Das Gericht erkannte diesen Anträgen gemäß. •

Das hamburgische Börsenblatt – Hamburgischer Correspondent – kann weder das Urteil richtig wiedergeben noch den Namen des Angeklagten Sehnbruch noch den unseres Genossen Roche.

* * *

Uns liegt die inkriminierte Ausgabe Nr. 13 des Unionist vor:

Die Fakten sind sehr mehrdeutig: Karl Roche war zwar Mitglied der Pressekommission der AAU Groß-Hamburg, aber er war nicht für die Ausgabe Nr. 13 des Unionist verantwortlicher Redakteur (gezeichnet war die Ausgabe mit Kurt Meyer, Berlin). Außerdem erschien die Ausgabe definitiv erst nach Ostern, denn die Schlagzeile lautet: „Die Oster-Erhebung des revolutionären Proletariats!“ und greift die Hausdurchsuchung im Büro der AAU in der Straße Kohlhöfen 20 in der Nacht vom 25. auf den 26. März heftig mit einem Offenen Brief an den SPD-Polizeisenator Hense an.

Zudem beweist das Vernehmungsprotokoll der Polizeibehörde, Abteilung II, vom 31. März 1921, dass die „Beschlagnahme der Zeitschrift Unionist Nr. 13 in der Hauptsache erfolgt“ ist. Das Impressum entsprach nach Richterspruch nicht dem Pressegesetz, da die Druckerangabe: „Kommissionsdruck“ und die Verlagsangabe: „Pressekommission der A.A.U. Gross-Hamburg“ „als Firmen nicht anzusehen und auch sicher nicht eingetragen sind“.

* * *

Anmerken müssen wir, dass in der 14. Ausgabe des Unionist vom 8. April 1921 Karl Roche als Verantwortlicher im Impressum aufgeführt ist.

Die Beschlagnahme der 13. Unionist-Ausgabe erfolgte am 30. März, die Hausdurchsuchung des AAU-Büros (Hamburg 3, Kohlhöfen 20) fand am 25./26. März statt. – Der Aufstands- oder Putschversuch fand am 23.  März 1921 statt – Ostersonntag war der 27. März 1921.

Der Gewerkschaftssekretär der KPD, Karl Sehnbruch, ist nicht weiter bekannt geworden; der Student Werner Heinz Neumann ist der spätere Sekretär Ernst Thälmann. Er fällt unter Stalin in Ungnade und wird 1937 liquidiert.  

*

Zwei erschossene Unionisten der AAU Hamburg

Die erschossenen Opfer der Unruhe werden in den Todesmeldungen als „Gefallen bei den Unruhen am 23. März 1921“ tituliert … mehr Zynismus geht nicht. Wer mit Infanterie-Munition auf eine Ansammlung von tausenden Menschen schießt, hat nichts anderes vor, als brutalen weißen Gegenterror auszuüben.

Todesanzeige – Der Unionist, Nr. 14 vom 8. April 1921:

Diese beiden getöteten Arbeiter waren Mitglieder der Allgemeinen Arbeiter-Union in Hamburg.

Jonny Meyer, 1902 geboren, Lehrling – Kopfschuss

Quellen:


Der gesamte Artikel ist auch als pdf erhältlich:

Hochgeladen am 11. April 2021 – fm

Der kommunistische Aufbau des Syndikalismus

Franz Barwich (* 1878 in Berlin; † 1955 in Berlin) war von 1919 bis 1924 Mitglied der Geschäftskommission der Freien Arbeiter-Union Deutschlands (FAUD). Einer seiner Arbeitsschwerpunkte war eine theoretische Konzeption der gesellschaftlichen Organisation nach einer erfolgreichen sozialistischen Revolution.

Barwichs Hauptwerk ist die für die »Studienkommission der Berliner Arbeiterbörsen« verfaßte Schrift »Die Arbeiterbörsen des Syndikalismus«, die mit einem Vorwort von Augustin Souchy 1923 in Berlin im Verlag »Der Syndikalist« erschien [erweiterte Neuauflage unter dem Titel »Das ist Syndikalismus«. Die Arbeiterbörsen des Syndikalismus. Mit Texten von Franz Gampe, Fritz Kater, Augustin Souchy u. a. und einer Einleitung von Helge Döhring, Frankfurt/M 2005 (Edition AV)].

Der hier veröffentlichte Text gehört zu den Vorarbeiten dieser Schrift.

Die Vorkriegs-Sozialdemokratie und die ihnen angeschlossenen Gewerkschaften hatten sich sich vor der Frage, wie eine sozialistische Gesellschaft aussehen sollte, weitgehend gedrückt, da der Sozialismus ja quasi ›naturgesetzlich‹ durch die Entwicklung des Kapitalismus kommen müsse – spätestens, sobald die sozialistische Parlamentsmehrheit erreicht sei. Und für die nach dem 1. Weltkrieg von ihr abgespalteten kommunistischen Parteien wurden die Improvisationen, mit denen sich die russischen Bolschewiki seit der sogenannten Oktoberrevolution 1917 an der Macht hielten, nach der Gründung der Kommunistischen Internationale zum leuchtenden (und nicht hinterfragbaren) Vorbild.

Für die Sache des Sozialismus – die Befreiung der Menschheit von Ausbeutung und Unterdrückung – waren beide verheerend.

Über Hildburghausen ins dritte Reich – Gerhard Wartenberg

Wir veröffentlichen diese Broschüre, die unter seinem Pseudonym H. W. Gerhard erschien, als digitalen Reprint in Erinnerung an unseren Genossen Gerhard Wartenberg, der 1942 von den Nazis im KZ Sachsenhausen ermordet wurde. Und weil diese Schrift ihre Aktualität auch heutzutage leider nicht eingebüßt hat.

Reprint der Ausgabe von 1932. Erschienen im Verlag „Der Syndiklaist“ Berlin.

Aus gegebenem Anlaß

I.
Die thüringische Kreisstadt Hildburghausen ist in den letzten Wochen als ein Corona-‚Hotspot‘ in die Berichterstattung gelangt. Und als ein Zentrum von Demonstrationen der Corona-Leugner. Nicht ganz so prominent berichtet wurde über den seit Jahren bestehenden ‚Hotspot‘, den die Stadt für die rechtsextreme Szene darstellt.

II.
Die Stadt geriet schon einmal in die Schlagzeilen, im Jahr 1932, als ruchbar wurde, daß der staatenlose ‚Führer‘ der NSDAP Adolf Hitler – der 1925 seine österreichische Staatsangehörigkeit freiwillig aufgegeben hatte – 1930 durch Ernennung zum Gendarmeriekommissar (Leiter der Polizeidienststelle) von Hildburghausen verbeamtet wurde und damit automatisch die thüringische Staatsbürgerschaft erhalten hatte – was ihm wiederum erst ermöglichte, für ein Staatsamt im Deutschen Reich zu kandidieren (eine Reichsbürgerschaft wurde erst 1934 von den Nazis eingeführt). Eingefädelt hatte dies der thüringische Innenminister und Minister für Volksbildung, Wilhelm Frick (NSDAP), der der ersten unter Beteiligung der Nazis gebildeten Landesregierung in Deutschland angehörte (Baum-Frick-Regierung).

III.
Seit 1925 hatte es verschiedene erfolglose Versuche gegeben, Hitler ‚einzudeutschen‘. Alle wurden peinlichst geheim gehalten. Warum allerdings die Reichsregierung oder andere deutsche Behörden es verabsäumten, den österreichischen, seit 1925 staatenlosen Putschisten (heute würde er wohl zumindest als „Gefährder“, korrekter allerdings als „Terrorist“ bezeichnet werden) des Landes zu verweisen – was nach damaligem Recht durchaus möglich gewesen wäre – ist eine interessante Frage. Eine naheliegende Antwort ist: die offene und verdeckte Komplizenschaft staatlicher Institutionen mit dem ‚völkischen‘ Terroristen.

IV.
In Hildburghausen schien es endlich geklappt zu haben mit der ‚Eindeutschung‘. Angeblich soll Hitler aber die Ernennungsurkunde nach einigen Tagen Bedenkzeit zerrissen haben – „Kreisstadtgendarm“ schien ihm für seine Person nicht bedeutend genug gewesen zu sein – und danach habe auch Frick die von Hitler unterschriebene Empfangsbestätigung vernichtet. Der ‚Führer‘ war damit – zumindest in seinem Selbstverständnis – wieder staatenlos.
Die Geschichte flog im Januar 1932 auf und zog neben einer Spottkampagne in der Presse auch einen parlamentarischen Untersuchungsausschuß des Thüringer Landtags nach sich. Konsequenzen hatte das allerdings nicht.

V.
Die ungeklärte Staatsbürgerschaftsfrage mußte 1932 allerdings endgültig geklärt werden, da Hitler bei der Reichspräsidentenwahl vom 13. März 1932 kandidieren wollte. Abhilfe schuf die Landesregierung des Freistaates Braunschweig, die seit September 1930 von einer Koalition aus bürgerlichen Parteien und den Nazis gestellt wurde. Am 25. Februar 1932 ernannte sie Hitler zum »Regierungsrat beim Landeskultur- und Vermessungsamt« mit Dienstpflicht als Sachbearbeiter bei der Braunschweigischen Gesandtschaft am Lützowplatz in Berlin – einen Posten, den der frisch Gekürte nie antrat. Er hatte schließlich wichtigeres zu tun.

VI.
Dies ist der engere geschichtliche Hintergrund der Schrift »Über Hildburghausen ins dritte Reich!« von Gerhard Wartenberg, die unter seinem Pseudonym H.W. Gerhard im Verlag »Der Syndikalist« der Freien Arbeiter-Union Deutschlands (Anarcho-Syndikalisten) 1932 veröffentlicht wurde, und die wir hier als digitalen Faksimile-Reprint veröffentlichen – in Erinnerung an unseren 1942 von den Nazis ermordeten Genossen Gerhard Wartenberg. Und weil diese Schrift ihre Aktualität auch heutzutage leider nicht eingebüßt hat.

VII.
1981 erschien eine Neuauflage im AHDE-Verlag Berlin/W, die mittlerweile auch nur noch antiquarisch erhältlich ist. Die Herausgeber schrieben seinerzeit dazu:

»Diese anti-nazistische, konsequent demokratische, freiheitlich sozialistische Schrift, kurz vor der Errichtung der NS-Diktatur erschienen (Herbst 1932), konnte nur noch relativ wenige Leser erreichen. Die Schließung des Verlages durch die „Ordnungskräfte“ der im Januar 1933 etablierten NS-Diktatur machte eine weitere Verbreitung unmöglich.

Der Titel der Schrift: „Über Hildburghausen ins dritte Reich!“ spiegelt die „Komödie“ wider, wie sich Adolf Hitler, der Bürger der Republik Österreich, zum Bürger der von ihm gehaßten Weimarer Republik mauserte. Nur so konnte er formaljuristisch ein Staatsamt im Deutschen Reich übernehmen. (…)

Der Verfasser H.W. Gerhard (d.i. Dr. Gerhard Wartenberg, 1904-1942), seit 1922 in der anarchistisch-syndikalistischen Jugend tätig, Mitglied der anarcho-syndikalistischen Gewerkschaft „Freie Arbeiter Union Deutschlands”, 1926 Herausgeber der Zeitung „Der Bakunist“, 1929 halbjähriger Aufenthalt für eine französische Chemiefirma in der UdSSR, Mitarbeiter an verschiedenen anarchistischen und anarcho-syndikalistischen Zeitschriften (u.a. „Der Syndikalist”, Mühsams „Fanal‘) meist unter dem Pseudonym Berg oder Gerhard, wurde 1938 wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. Anschließend kam er ins KZ-Sachsenhausen. Dort ist er angeblich an Tuberkulose gestorben. Wartenberg war einer der konsequentesten und frühesten Warner vor allen Spielarten des Faschismus und ein entschiedener Gegner jeglicher Form von Staatsherrschaft.

Seine Schrift dokumentiert durch zahlreiche Zitate von NS-Größen die nazistische Gewaltherrschaft in ihren Hauptausdrucksformen, wie sie dann im „Tausendjährigen Reich“ praktiziert wurden.

Wartenbergs Ausführungen über die kommende nazistische Apokalypse ist aber auch zugleich eine Abrechnung mit dem Versagen der sogenannten anti-faschistischen Kräfte/Arbeiterparteien, ihren Fehleinschätzungen, ihrer meist kampflosen Tolerierung der kalten und heißen Machtergreifung.«

Archiv Karl Roche
Hamburg-Altona, 29. Dezember 2020

Literatur:

Felix Durach, Hildburghausen mit Inzidenz über 500: Von der Neonazi-Hochburg zum Corona-Hotspot; in: Merkur (München), 01.12.2020
https://www.merkur.de/politik/corona-hotspot-hildburghausen-neonazis-landrat-demonstration-morddrohung-npd-zr-90116435.html

Manfred Overesch, Die Einbürgerung Hitlers 1930; in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Jg. 40/1992, Heft 4, S. 543 – 566
http://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/1992_4.pdf

Hans-Jürgen Salier, Einbürgerung Hitlers. Von der wundersamen Einbürgerung eines Österreichers in Hildburghausen [zuerst in: Hans-Jürgen Salier und Bastian Salier, Hildburghäuser Lesebuch, Hildburghausen, 1999, S. 153 ff. (Verlag Frankenschwelle KG)]
http://www.schildburghausen.de/sagen/einbuergerung-hitlers/

Robert W. Kempner (Hrg.), Der verpaßte Nazi-Stopp. Die NSDAP als staats- und republikfeindliche, hochverräterische Verbindung. Preußische Denkschrift von 1930, Berlin/W 1983 (Ullstein-TB)

Wikipedia: Einbürgerung Adolf Hitlers
https://de.wikipedia.org/wiki/Einb%C3%BCrgerung_Adolf_Hitlers

Aus den Tiefen der Berliner Arbeiterbewegung

Reprint von Albert Weidner nun als pdf zum download – Druckausgabe ist ausverkauft!

barrikade # 8 – Juni 2013

Hier nun auch die barrikade # 8 als pdf-Datei zum download …

Unorganisierte direkte Aktion – Karl Roche 1919

Der syndikalistische Streik auf der ‚Vaterland‘ 1914

Hier nun endlich auch die Broschüre als pdf-Datei …

Radikale Nachbarn Deutsche und jiddische AnarchistInnen in New York 1880–1906

Radikale Nachbarn

Deutsche und jiddische AnarchistInnen in New York  1880–1906

von Tom Goyens

Associate Professor of History, Salisbury University

Vortrag auf der Konferenz »Yiddish Anarchism: New Scholarship on a Forgotten Tradition« im YIVO Institute for Jewish Research, New York, NY

20. Januar 2019

Übersetzung mit freundlicher Genehmigung des Autors:
Archiv Karl Roche und barrikade, Hamburg 2020

Thema

Mein Beitrag beschreibt kurz die symbiotische Beziehung zwischen den deutschen und jiddischen anarchistischen Bewegungen und insbesondere die Rolle von Johann Most. Dieses Beitrag argumentiert, dass im Großen und Ganzen das wichtigste Erbe der deutschen anarchistischen Bewegung die Grundsteinlegung für die jiddischsprachigen Anarchisten war, die dann den Anarchismus ins 20. Jahrhundert übertrugen, und dies trotz der schlechten Presse, die die deutsche Bewegung seit den 1880er Jahren für den Anarchismus erzeugt hatte wegen der manchmal unnötig gewalttätigen Rhetorik von Most und der Haymarket-Tragödie. Deutsche Radikale begannen auch während der 1870er und 1880er Jahre, grundlegende Unterschiede zwischen Sozialismus und Anarchismus zu artikulieren.

Die Entstehung des jüdischen Anarchismus in New York City ist gut dokumentiert. Der jüdische Anarchismus in New York entstand in den 1880er Jahren im Viertel Little Germany in Lower Manhattan und übernahm Jiddisch, die Sprache seiner Mitgliederbasis, und schuf so das, was Kenyon Zimmer eine »geografische und sprachliche Nähe« zwischen den deutschen und den jiddischen anarchistischen Bewegungen genannt hat.1 Da immer mehr eingewanderte jiddischsprachige Arbeiter den Anarchismus annahmen und sowohl innerhalb des bestehenden, von Deutschen dominierten Organisationsnetzwerk als auch darüber hinaus Organisationen aufbauten, wechselten jüdische Intellektuelle mehr und mehr vom Russischen über das Deutsche zum Jiddischen. Oder wie Tony Michels sagt, die deutschen Radikalen fungierten als »Hebammen der jüdischen Arbeiterbewegung«.2 Diese Art von Nähe zwischen deutschen und jiddischen Anarchisten war nicht nur in New York zu beobachten. In London schloss sich der deutsche Nichtjude Rudolf Rocker einer wachsenden jüdischen Bewegung an, lernte Jiddisch, heiratete eine jüdische Genossin und gab deren Zeitungen heraus.3 Der Historiker Jose Moya hat in seiner Untersuchung über die jüdischen Anarchisten in Buenos Aires zwei deutsche Pioniere identifiziert, Augusto Kuhn und Enrique Dickman.4

 

Johann Most (1846-1906)

Die Nähe zwischen den deutschen und jiddischen Anarchisten wird am besten von Johann Most verkörpert, dem deutschen atheistischen Brandstifter und berühmtesten Anarchisten in Amerika seit seiner Ankunft in New York im Dezember 1882. Seine Freundschaft mit russisch-jüdischen Revolutionären datiert aus den 1870er Jahren, als er ein führender Sozialist in Deutschland und London war. 1876 hatten Berliner Sozialisten Kontakt mit radikalen Studenten, darunter russischen Juden wie Aron Liebermann und anderen, die Vorträge von Most besuchten.5 Als Most 1879 nach London floh, freundete er sich mit mehreren russischen jüdische Revolutionären an und hielt Vorträge über die Situation in Russland.6 Es gab tatsächlich mehr Kontakte zwischen Juden und Anhängern von Most als zwischen Juden und Anhängern von Marx und Engels.7 Als Liebermann 1880 in New York einwanderte, trat er dem neu gegründeten Sozial-Revolutionären Club bei, der ersten deutschen anarchistischen Gruppe in den USA. Tragischerweise nahm sich Liebermann einige Tage später das Leben in Syracuse, NY, aber der Club würdigte seinen Kampf gegen die »Tyrannei des russischen Zarismus.«8

Illustration aus Harper’s weekly, 20. August 1892

 

Als Zar Alexander II. im März 1881 ermordet wurde, feierten Mosts Londoner Freiheit und die deutschen Radikalen in New York offen die Tat, was Most Inhaftierung, Gerichtsverfahren und eine 16-monatige Haftstrafe einbrachte.9 Die Folgen des Attentats veranlaßten sowohl Most wie auch eine größere Zahl von verfolgten russischen Juden, in die USA einzuwandern. Monate vor Mosts Ankunft war in New York eine kleine russisch-jüdische Gruppe, die kurzlebige Propaganda Association als Antwort darauf gegründet worden, dass neu angekommene Juden als Streikbrecher verwendet wurden, bis deutsche Radikale diese über die Situation informierten.10

Mosts feuriges Oratorium machte einen einzigartigen Eindruck auf jüdische Aktivisten, die genug Deutsch verstanden, um von seiner Bühnenkunst fasziniert zu sein: »Der Riese der Revolution tobt und brüllt«, erinnerte sich Yisroel Kopelov, »seine feurigen Worte lassen seine Lippen beinahe schäumen […]. Das Publikum war wie unter einem hypnotischen Bann.« Chaim Weinberg erinnerte sich daran, dass bei Most »alle Zuhörer fast behext waren, Gegner wie Freund«. Für einen anderen besaß Most »magnetische Qualitäten«, und der sozialistische Schriftsteller Abraham Cahan glaubte, Most sei »inkarnierte Gerechtigkeit«.11  Seine anarchistischen Reden appellierten an die Emotionen, sie waren voller Humor und Sarkasmus und weit weniger professoral als einige der sozialistischen Sprecher.

Es gab auch enge Verbindungen zwischen Most und jüdischen Radikalen. Zuerst mit der junge Aktivisten Emma Goldman, obwohl die beiden einen Streit über Geschlechterfragen und politische Gewalt hatten, bis zu dem Punkt, als Goldman Most 1892 während einer Pioneers of Liberty-Versammlung öffentlich mit einer Reitpeitsche schlug.12 Die jiddischen Genossen verurteilten Goldmans Vorgehen als »Wahnsinn« und im Gegenzug behauptete Goldman, dass Most immer »die größte Verachtung« für die jüdischen Anarchisten hatte.13  Most traf später Helene Minkin, Goldmans Mitbewohnerin und Mitanarchistin, die 1893 Mosts Lebensgefährtin und Mutter ihrer beiden Söhne wurde. Minkins Memoiren sind jetzt in englischer Sprache verfügbar.13a

Jiddische Gruppen

Die frühen jüdischen Anarchisten besuchten nicht nur Vorträge, sondern schufen sich ihre eigenen Organisationen und Publikationen in ihrer eigenen Sprache. Von ihren deutschen Genossen in New York erfuhren sie von der International Working People’s Association (IWPA), der amerikanischen anarchistischen Föderation, die 1883 in Pittsburgh vor allem durch die Bemühungen von Most gegründet wurde. Das Pittsburg-Manifest, das ein Destillat der Ideen Mosts zu dieser Zeit war, wurde im Jahr 1887 ins Jiddische übersetzt.14 In der Erklärung heißt es unverblümt: »Die heutige sogenannte ‘Ordnung’ ist begründet auf Ausbeutung der Besitzlosen durch die Besitzenden«, wodurch ein System geschaffen wird, das »ungerecht, wahnwitzig und raubmörderisch« ist, und dass deshalb die »Zerstörung der bestehenden Klassenherrschaft mit alle Mitteln, d.h. durch energisches, unerbittliches, revolutionäres und internationales Handeln« notwendig ist; »Aufklärung und Verschwörung können neben einander von Statten gehen«.15  Es war der Haymarket-Prozess und die Hinrichtungen (1886-7), die jiddische Anarchisten dazu veranlassten, sich zu organisieren: Sie gründeten die Pioneers of Liberty am Yom Kippur-Tag im Oktober 1886, kurz nach der Verkündung der Haymarket-Todesurteile, und schlossen sich der IWPA an.16 Tatsächlich war der erste Gedenktag an die Hinrichtung der Haymarket-Anarchisten am 11. November 1888 eine der ersten gemeinsamen deutsch-jiddischen öffentlichen Demonstrationen, bei denen Vertreter beider Gruppen das Organisationskomitee bildeten, und beide nahmen an einer großen, schlagzeilenträchtigen Parade durch die East Side teil, die an Brechts Saloon in der East 4th Street begann und zur Cooper Union führte, aber mit einem Umweg über die Houston Street, in der sich die jiddischen Demonstranten dem Zug anschlossen.17  [siehe Karte, in der pdf-Datei zeigt der rote Pfeil auf Brechts Saloon in den East 4th Street]

NY-Streets

Nachdem weitere Gruppen entstanden waren, begannen die New Yorker jiddischen Anarchisten seit 1889, jährliche Kongresse der Vereinigten jüdischen anarchistischen Gruppen Nordamerikas abzuhalten (meistens in Manhattan), immer am Weihnachtstag, und mindestens bis 1895.18 Einige dieser Kongresse schlossen Delegierte von deutschen Gruppen mit ein, und der von 1894 fand im Saloon von Paul Wilzig in der East 4th St (Nr. 85) statt, einem der wichtigsten Treffpunkte deutscher Anarchisten.19 Für das jiddische anarchistische Vereinsleben wurde routinemäßig in Mosts Freiheit geworben, zu der die Pioneers of Liberty auch mehrere finanzielle Zuschüsse machten, zumindest bis sie 1889 ihre eigene jiddische Zeitung gründeten, die dann durch Spenden unterstützt wurde, die von Most eingeworben wurden.20 In den 1880er und 1890er Jahren luden jüdische anarchistische Gruppen regelmäßig Most und andere deutschsprachige Referenten wie Franz Wiesinger und Moritz Schultze ein.21

 

Militanter Atheismus

Der militante Atheismus war eine Kerndimension des eingewanderten Anarchisten und stand im Mittelpunkt der Verbindung zwischen Most und den jüdischen Anarchisten.22 Most wurde Atheist, bevor er Sozialist wurde und schwelgte immer in der öffentlichen Kritik an Religion und Geistlichkeit. Bezeichnenderweise startete Most 1878, fünf Jahre vor seiner Ankunft in New York, im Alleingang eine »Kirchaustrittsbewegung«, die in Deutschland für Aufsehen sorgte. Im Jahr 1883 schrieb er Die Gottespest, eine seiner berühmtesten und meistgelesenen Broschüren, die 1888 ins Jiddische übersetzt wurde. Darin griff Most den von Menschen geschaffenen monotheistischen Gott als brutalen Despoten an, der Menschen unter ewiger »göttlicher Polizeiaufsicht« halte. Religion und Aberglaube haben immer den Mächtigen gedient, argumentierte Most: »Jedem Reichen und Mächtigen ist es kein Geheimniss, dass der Mensch nur dann geknechtet und ausgebeutet werden kann, wenn alle Schwarzkünstler irgend einer Kirche es fertig bringen, genügend Sklavensinn in die Herzen der Volksmassen zu pflanzen.« Aus diesen Gründen war nach Ansicht von Most eine anti-religiöse Militanz erforderlich, um den Geist der Menschen zu befreien. »Jeder religionslose Mensch begeht eine Pflichtvernachlässigung, wenn er täglich und stündlich nicht Alles aufbietet, was in seinen Kräften steht, die Religion zu untergraben. Jeder vom Gottesglauben Befreite, der es unterlässt, das Pfaffenthum zu bekämpfen, wo und wenn und wie er nur immer Gelegenheit dazu hat, ist ein Verräther seiner Sache« erklärte er.23 Der jüdische Anarchist Chaim Weinberg wurde Anarchist, nachdem er die Broschüren von Most gelesen hatte.24

Es ist wichtig zu verstehen, dass der Atheismus für die eingewanderten Anarchisten nicht nur eine intellektuelle Debatte war; er war Teil ihrer direkten Aktion gegen Kapitalismus und Unterdrückung, weil die Religion die ausgebeuteten Massen lähmte, wie der Historiker Elias Tcherikower richtig beobachtet hat.25 Inspiriert von den jüdischen Radikalen in London und zum Entsetzen der Orthodoxen Gemeinde organisierten die New Yorker Anarchisten im Jahr 1889 einen festlichen Ball am Jom Kippur, dem Tag von Sühne, mit dem ausdrücklichen Ziel, religiöse Bräuche zu verspotten. Diese Aktionsform, die häufig zu einer Konfrontation führte, wurde von jüdischen Anarchisten in New York mindestens bis 1909 unternommen oder geplant und verbreitete sich 1890 in anderen Städten an der Ostküste wie Baltimore.26 Johann Most nahmen viele Jahre lang an diesen jüdischen antireligiösen Aktivitäten teil. Er erklärte für seine nichtjüdischen Leser, was Jom Kippur war (er nannte ihn »den langen Tag«) und bezeichnete die Aktionen der jüdischen Genossen als »eine ganz famose Idee«.27 Im Jahre 1890 wurde der geplante Ball in Brooklyn durch die Polizei verhindert, nachdem sich Rabbiner beim Bürgermeister beschwert hatten, worauf die Freiheit dies als »Leviten-Terrorismus« und »Zarismus in Amerika« verurteilte.28 Für die deutschen und jiddischen Anarchisten verhinderte dieses geheime Einverständnis zwischen Polizei und Rabbinern nicht nur eine legale anarchistische Veranstaltung, sondern illustrierte auch, wie Staat und Synagoge sich verschwören können, um die Massen unwissend zu lassen und ein »Raubsystem« aufrecht zu erhalten.29

 

Die Fackel weitergeben

Meine letzten Bemerkungen haben mit den turbulenten Depressionsjahren 1893-97 mit ihrer Massenarbeitslosigkeit, Verwerfungen und Arbeitskämpfe zu tun. Alle radikalen Bewegungen litten, aber weil die deutsche Bewegung alterte und sich zersplitterte, war Little Germany zum jüdischen Ghetto geworden. Eine jugendliche jüdische Bewegung erwachte langsam wieder zum Leben, insbesondere nach 1899, als die Fraye Arbeter Shtime wieder erschien. Eine Grund war die Tatsache, dass sich die Basis der jüdischen Bewegung unter den Tausenden von Textilarbeitern befand, die einige der dynamischsten Arbeitsorganisationen des Landes aufbauten, während sich die deutsche Bewegung auf Handwerker – wie Tischler, Maschinisten, Brauereiarbeiter, Zigarrenhersteller und Bäcker – stützte. Die jüdische anarchistische Bewegung zählte viel mehr Aktivistinnen als die deutsche jemals hatte, und dies erklärt auch teilweise, warum sie andauerte. Der Historiker Paul Buhle hat angemerkt, dass die Stärke des jüdischen Radikalismus sein »eigentümlicher Kosmopolitismus« war, im Vergleich zur Selbstisolierung der deutschen Radikalen.30 Eine Illustration davon stammt aus einer etwas anekdotischen Quelle, dem Bericht des bürgerlichen Journalisten John Gilmer Speed über verschiedene anarchistische Treffpunkte. Sobald er eine laute deutsche Bierhalle der Anarchisten betrat, »hörte das Stimmengewirr auf und nur raues Flüstern war zu hören.« Niemand wollte mit ihm sprechen. Also ging er und machte sich auf den Weg zu einem jüdischen anarchistischen Treffpunkt in der Division Street, wo er überrascht war von der »außerordentlichen Offenheit des Inhabers«, die sich so sehr von dem unterschied, was Speed die »Schweigsamkeit« der Deutschen nannte.31

Grafik zu Johan Most

Most und die Freiheit bemerkten häufig die Energie und Militanz der jiddischen Genossen, die als die »eifrigsten« beschrieben wurden.32 Die Freiheit drückte eine besondere Bewunderung für die Pioneers of Liberty aus: »Diese Organisation wirkt in ihren Kreisen überhaupt förmlich Wunder, wie die allerorts in jüdischen Vierteln erstehenden Gruppen der ‘Pioniere der Freiheit’ deutlich beweisen. An ihr sollte sich andere Vereine ein Beispiel nehmen und von ihr lernen, was man durch Ausdauer, Energie und Ehrlichkeit erreichen kann.«33 Während die deutschen Aktivisten sich in den 1890er Jahren in ihre Bierhallen zurückzuziehen schienen, waren es die jüdischen Anarchisten, die auf ihrer dritten Jahrestagung 1891 vorschlugen, freie Schulen, einen anarchistischen Weltkongress und eine Versammlung aller amerikanischen anarchistischen Gruppen zu organisieren.34 1895 bemerkte sogar die Mainstream-Presse die Weitergabe der Fackel, als sie sagte, dass die russischen Juden (»ein sozialistisches Volk«) jetzt die aktivsten Sozialisten in New York wären: »Vor einigen Jahren hieß es«, so schrieb eine Zeitung auf Staten Island, »der Sammelpunkt des Sozialisten mit der roten Fahne in New York wäre immer ein deutscher Lagerbier-Saloon […] Aber heutzutage sucht man in New York nicht unter den Deutschen nach Anarchisten, sondern unter den russischen Juden auf der Eastside. «35

Der Anarchismus hatte in Amerika weitgehend deshalb Bestand, weil die jiddische Bewegung seine Ideen und Praxis in das zwanzigste Jahrhundert weiter trug. Ihr müßt euch nicht auf mein Wort verlassen. Chaim Weinberg (1861-1939), der Anarchist aus Philadelphia, der 45 Jahre alt war, als Most starb, schrieb, dass »die deutschen anarchistischen Arbeiter, mit Most als Schriftsteller und Sprecher, nicht nur eine einflussreiche deutsche anarchistische Bewegung in Amerika schufen, sie halfen auch, sowohl eine jüdische als auch eine amerikanische anarchistische Bewegung zu schaffen.«36

 

Anmerkungen

Note: Ergänzungen der Übersetzer zu den Anmerkungen stehen in [eckigen Klammern].

1 Kenyon Zimmer, Immigrants Against the State. Yiddish and Italian Anarchism in America, Urbana 2015 (University of Illinois Press), S. 20.

2 Tony Michels, A Fire in Their Hearts. Yiddish Socialists in New York, Cambridge 2005 (Harvard U.P.), S. 43.

3 Rudolf Rocker, The London Years, translated by Joseph Leftwich, Oakland 2005 (AK Press).

4 Jose C. Moya, The Positive Side of Stereotypes. Jewish Anarchists in Early-Twentieth-Century Buenos Aires; in: Jewish History, Vol. 18/2004, No. 1 (Gender, Ethnicity, and Politics: Latin American Jewry Revisited), S. 21.

5 Sobald er in London war, schickte Liebermann an Most nach dessen Entlassung aus einem Berliner Gefängnis ein Glückwunsch-Telegramm. Siehe Berliner Gerichts-Zeitung, 27. Jahrgang, Nr. 50, 29. April 1879, S. 1; Heiner Becker, Johann Most; in: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Jg. 41, Nr. 1, (März 2005), S. 30; Der Volksstaat (Leipzig), Nr. 72, 23. Juni 1876, S. 4.

6 Friedrich Meyer von Waldeck, Die russischen Nihilisten; in: Unsere Zeit. Deutsche Revue der Gegenwart. Neue Folge, Bd. 15, 2. Hälfte, Leipzig 1879 (Brockhaus), S. 112 [https://babel.hathitrust.org/cgi/pt?id=uc1.a0003598067&view=1up&seq=118&q1=112]; Freiheit (London), 3. & 10. Mai 1879.

7 Elias Tcherikower (ed.), The Early Jewish Labor Movement in the United States, New York 1961 (YIVO Institute for Jewish Research), S. 183.

8 Freiheit (London), 11. Dezember 1880; William Fishman, East End Jewish Radicals 1875-1914, London 1974 (Duckworth)

9 Freiheit (London), 19. März 1881.

10 Der vollständige Name der Gruppe war »Propaganda-Verein für die Verbreitung sozialistischer Ideen unter den eingewanderten Juden« (Propaganda Association for the Dissemination of Socialist Ideas Among the Immigrant Jews). Diese Gruppe traf sich einmal in einem deutschen anarchistischen Saloon, in dem Vorträge auf Deutsch und Russisch gehalten wurden (gegen Jiddisch hatten die russischen Intellektuellen eine Abneigung). Siehe Tcherikower (ed.), The Early Jewish Labor Movement, S. 203-207; Ronald Sanders, The Downtown Jews. Portrait of an Immigrant Generation, New York & London 1969 (Harper & Row), S. 60-65; Michels, A Fire in Their Hearts, S. 36.

11 Zitiert bei Tcherikower (ed.), The Early Jewish Labor Movement, S. 221. Siehe auch Yisroel Kopelov, Amol in Amerike. Zikhroynes fun dem yidishn lebn in Amerike in di yorn 1883-1904, Warschau 1928 (Farlag Kh. Bzhoza).

12 Whipped With A Rawhide; in: The [New York] Evening World, December 19, 1892, S. 2.

13 Freiheit, 24. Dezember 1892; Der Anarchist, 31. Dezember 1892.

13a [Helene Minkin, Storm In My Heart. Memories from the Widow of Johann Most, translated by Alisa Braun, edited by Tom Goyens, Oakland 2015 (AK Press)]

14 Sie erschien in dem Londoner Arbayter Fraynd. Siehe Tcherikower (ed.), The Early Jewish Labor Movement, S. 89, Anm. 24.

15 Das The Pittsburgh Manifesto ist wieder abgedruckt in Chester McArthur Destler, American Radicalism, 1865–1901. Essays and Documents, New London 1946 und Freiheit (New York), 20. Oktober 1883.

[Online-Ausgabe: Tim Davenport (ed.), The ‚Pittsburgh Proclamation‘, Corvallis, OR, 2006 (http://www.marxisthistory.org/history/usa/parties/anarchist/1883/1014-iwpa-pittsburgh.pdf) ; eine – offenbar leicht gekürzte – deutsche Übersetzung findet sich Rudolf Rocker, Johann Most. Ein Leben als Revolte, Berlin 1924 (Der Syndikalist), S. 146 – 149]

16 Die Nachrichten über die Hinrichtungen waren für die frisch angekommene Helene Minkin, Mosts künftige Partnerin, »mein erster Schlag in diesem freien Land«. Siehe Helene Minkin, Storm In My Heart, S. 67. Isidore Stein war ein Gründungsmitglied der New Haven Gruppe. Siehe Paul Avrich, Anarchist Portraits, Princeton 1988 (PUP), S. 176.

17 Freiheit, 14. September 1889; Preaching Red Anarchy; in: New York Sun, November 11, 1888, p. 2.

18 A. Sartorius Freiherr von Waltershausen, Der moderne Socialismus in den Vereinigten Staaten von Amerika, Berlin 1890 (H. Bahr), S. 364.

19 Anarchists in Council; in: New York Sun, December 27, 1894, p. 7; Freiheit (New York), 22. Dezember 1894. Wilzig war in der Boykott-Kampagne gegen die gewerkschaftsfeindliche Theiss-Brauerei aktiv gewesen und 1886 wegen Erpressung angeklagt worden. Siehe Victoria Hattam, Labor Visions and State Power. The Origins of Business Unionism in the United States, Princeton 2014 (PUP), S. 145-146.

20 Freiheit (New York), 11. Dezember 1886 und 2. April 1887; Freiheit (New York), 5. Februar 1889.

21 Freiheit (New York), 24. September 1887 und 28. September 1889.

22 Die italienischen Radikalen kritisierten und verspotteten die religiösen Feiern und Rituale der Einwanderer – etwa die »Madonna del Carmine« – aufs schärfste, obwohl einige radikale Zeitungen Jesus als proletarischen Rebellen feierten. Siehe Marcella Bencivenni, Italian Immigrant Radical Culture. The Idealism of the Sovversivi in the United States, 1890-1940, New York 2011 (NYU Press), S. 78-82.

23 John Most, The Deistic Pestilence, Hull 1903 (Free Commune Press), S. 4, 8, 9, 11. [https://babel.hathitrust.org/cgi/pt?id=wu.89003344116;view=1up;seq=13].
[Johann Most, Die Gottespest (Zwölfte vermehrte und verbesserte Auflage. Internationale Bibliothek No. 3), New York 1887 (John Müller), S. 3, 7, 8. (http://archive.org/details/bub_gb_dIcvAAAAYAAJ)].

24 Chaim Leib Weinberg, Forty Years in the Struggle. The Memoirs of a Jewish Anarchist, translated by Naomi Cohen, edited by Robert Helms, Duluth, MN 2008 (Litwin Books), S. 5.

25 Tcherikower, ed. The Early Jewish Labor Movement, S. 249.

26 The Reform Advocate (Chicago), September 25, 1909; im Jahre 1901, nach der Ermordung von Präsident McKinley durch einen Anarchisten, nahmen sie davon Abstand, einen Ball zu veranstalten. Siehe Police Don’t Know ‘Reds’; in: New York Tribune, September 12, 1901, S. 2; The Hebrew Day of Atonement; in: New York Tribune, September 22, 1901, S. 7. Für den Ball in Baltimore, auf dem zwei New Yorker Aktivisten sprachen, siehe Eine aufgeregte Versammlung; in: Der Deutsche Correpondent (Baltimore), 30. September 1890, S. 3.

27 Zwei deutsche anarchistische Musikgruppen nahmen am ersten Ball teil; siehe Freiheit (New York), 21. September 1889 & 12. Oktober 1889; siehe auch Some Blood Spilt; in: Pittsburg Dispatch, October 6, 1889.

28 Freiheit (New York), 4. Oktober 1890 & 11. Oktober 1890.

29 Im Cooper Institut; in: Freiheit (New York), 11. Oktober 1890.

30 Paul Buhle, Themes in American Jewish Radicalism; in: Paul Buhle and Dan Georgakas (ed.), The Immigrant Left in the United States, New York 1996 (SUNY Press), S. 78.

31 John Gilmer Speed, «The Anarchists of New York,” Harper’s Weekly, August 20, 1892, p. 799.

32 Freiheit (New York), 28. Dezember 1889.

33 Freiheit (New York), 1. Februar 1890.

34 Der Anarchist (New York), 9. Januar 1892. Der Sekretär der New York Cloakmakers Union appellierte 1890 in einem Artikel in der Frayen Arbeter Shtime an die Mitglieder, ihre Zeit nicht in Saloons zu verschwenden und sie mehr für die Bildung zu nutzen. Siehe Gerald Sorin, The Prophetic Minority. American Jewish Immigrant Radicals, 1880-1920, Indiana 1985 (IUP), S. 68.

35 A Socialistic People; in: Richmond County Advance (West New Brighton, NY), May 4, 1895, S. 2.

36 Weinberg, Forty Years in the Struggle, S. 8.

 

Quelle:

Tom Goyens, Radical Neighbors: New York’s German and Yiddish Anarchists, 1880–1906
https://www.academia.edu/38390165/Radical_Neighbors_New_Yorks_German_and_Yiddish_Anarchists_1880_1906

bzw. Tom Goyens neue Internetseite:
anarchist history – immigrant | transnational | spatial
https://txgoyens.wixsite.com/tomgoyens

Publikationen des ASy-Verlages in Berlin 1919-1932 und der DAS in Barcelona 1937

Publikationen der Verlage »Der Syndikalist« – ASy-Verlag G.m.b.H. (Berlin) – ASy-Verlag der Gruppe DAS (Barcelona) im Internet

 

Zeitschriften

Die Internationale. Organ der Internationalen Arbeiter-Assoziation. Jg. 1, 1924-1925. Redaktion: Augustin Souchy.

https://web.archive.org/web/20110715175801/http://digital.a-bibliothek.org/Die%20Internationale%20I.A.A./01.%20Jg.%20Die_Internationale_I.A.A./

 

Bücher und Broschüren

1919

Karl Roche, Einheitslohn und Arbeitersolidarität, 8 S.

[digitale Neuausgabe]

http://archivkarlroche.wordpress.com/archiv-karl-roche/broschuren/einheitslohn-und-arbeitersolidaritat/

 

Karl Roche, Organisierte direkte Aktion, 12 S.

[digitale Neuausgabe]

http://archivkarlroche.wordpress.com/archiv-karl-roche/broschuren/organisierte-direkte-aktion-1919/

 

Karl Roche, Zwei Sozialisierungsfragen: Wer soll sozialisieren? Ist die zusammengebrochene Wirtschaft für die Sozialisierung reif?, 8 S., Hamburg

[Verlag der »Syndikalistischen Föderation Hamburg« – die Auslieferung erfolgte wohl über den Verlag Der Syndikalist; gedruckt in der ‚Hausdruckerei‘ der FVdG/FAUD, Maurer & Dimmick]

[digitale Neuausgabe]

http://archivkarlroche.wordpress.com/archiv-karl-roche/broschuren/zwei-sozialisierungsfragen/

 

Peter Kropotkin, Die Eroberung des Brotes. Wohlstand für alle

[digitale Neuausgabe]

https://de.wikisource.org/wiki/Die_Eroberung_des_Brotes

[Ohne die Vorrede von Rudolf Rocker]

 

1920

Rudolf Rocker, Prinzipienerklärung des Syndikalismus. Referat des Genossen Rudolf Rocker auf dem 12. Syndikalisten-Kongreß, abgehalten vom 27. bis 30. Dezember 1919 in dem »Luisenstädtischen Realgymnasium« zu Berlin, Dresdener Straße, 20 S.

https://portal.dnb.de/bookviewer/view/1153069938#page/n0/mode/2up

 

Max Baginski, Was will der Syndikalismus? Lebendige, keine toten Gewerkschaften, 16 S.

http://syndikalismusinberlin.files.wordpress.com/2010/11/was-will-der-syndikalismus.pdf

http://library.fes.de/pdf-files/bibliothek/bestand/a-49133.pdf

 

Freie Arbeiter-Union Deutschlands, Prinzipienerklärung, programmatische Grundlage und Streikresolution der Freien Arbeiter-Union Deutschlands (Syndikalisten), 16 S., o.J.

http://library.fes.de/pdf-files/bibliothek/bestand/a98-03357.pdf

 

Fritz Oerter, Was wollen die Syndikalisten?, 16 S.

http://library.fes.de/pdf-files/bibliothek/bestand/a-49169.pdf

 

Peter Kropotkin, Syndikalismus und Anarchismus, 16 S.

[digitale Neuausgaben]

http://www.anarchismus.at/txt3/kropotkin7.htm

http://www.syndikalismusforschung.info/kropas.htm

 

Franz Barwich, Die Irrlehre und Wissenschaftslosigkeit des Marxismus. (Volkstümlich bearbeitet nach dem Buch gleichen Namens unseres Geistesfreundes Pierre Ramus, Wien), 16 S.

https://portal.dnb.de/bookviewer/view/1132661625#page/n0/mode/2up

[digitale Neuausgabe]

http://www.syndikalismusforschung.info/barwichmarx.htm

 

Karl Peter, Die Zersetzung des Weltkapitalismus, 16 S.

http://www.syndikalismusforschung.info/KARL%20PETER%20Die%20Zersetzung%20des%20Weltkapitalismus.pdf

 

Max Tobler, Der revolutionäre Syndikalismus, 16 S.

http://syndikalismusinberlin.files.wordpress.com/2010/10/tobler_der_revolutionare_syndikalismus.pdf

 

1921

Peter Kropotkin, Landwirtschaft, Industrie und Handwerk oder Die Vereinigung von Industrie und Landwirtschaft, von geistiger und körperlicher Arbeit. Neue, durchgesehene und vermehrte Auflage. Mit Nachwort des Übersetzers Theodor Plivier, XII, 228 S. [254 MB!]

https://d-nb.info/1204427135/34

 

Bertrand Russel, Kunst, Wissenschaft und der Sozialismus. Ein Wort an die Intellektuellen, 16 S., o. J.

https://portal.dnb.de/bookviewer/view/1017282463#page/n0/mode/2up

 

Augustin Souchy, Wie lebt der Arbeiter und Bauer in Rußland und in der Ukraine? Resultat einer Studienreise von April bis Oktober 1920, 144 S., o. J.

https://portal.dnb.de/bookviewer/view/1014626226#page/n0/mode/2up

 

Fritz Kater, Die Entwicklung der deutschen Gewerkschaftsbewegung. Vortrag gehalten am 17. Januar 1921 in der Berliner Arbeiter-Börse, 23 S.

https://portal.dnb.de/bookviewer/view/1115208926#page/n0/mode/2up

 

1922

Max Nettlau, Errico Malatesta. Das Leben eines Anarchisten, 180 S.

https://portal.dnb.de/bookviewer/view/103355443X#page/n0/mode/2up

 

Max Nettlau, Verantwortlichkeit und Solidarität im Klassenkampf – Ihre gegenwärtigen Grenzen und möglichen Ausdehnung, 16 S.

[digitale Neuausgabe]

http://www.anarchismus.at/txt5/nettlauverantwortlichkeit.htm

 

Milly Witkop-Rocker, Was will der Syndikalistische Frauenbund?, 16 S., o. J.

https://portal.dnb.de/bookviewer/view/1130407489#page/n0/mode/2up

 

  1. Maximoff, M. Mratschni, J. Jartschuk, 13.Februar 1921 – Kropotkin-Beerdigungs-Album mit 32 Bildern und Einleitung von Rudolf Rocker in englischer und deutscher Sprache, Querformat, 31 S.

http://raumgegenzement.blogsport.de/index.php?s=Kropotkin

https://archive.org/details/2917627.0001.001.umich.edu

https://portal.dnb.de/bookviewer/view/1163246301#page/n0/mode/2up

 

Emma Goldman, Die Ursachen des Niedergangs der Russischen Revolution. Mit Vorwort von Rudolf Rocker, 77 S.

http://www.archive.org/details/dieursachendesni00gold

 

Alexander Berkman, The Kronstadt Rebellion, 44 S.

http://www.archive.org/details/TheKronstandtRebellion

 

1923

Alexander Berkman, Die Kronstadt-Rebellion, 32 S.

http://www.archive.org/details/diekronstadtrebe00berkuoft

 

Internationale Arbeiter-Assoziation (Hrsg), Resolutionen angenommen auf dem Kongreß der revolutionären Syndikalisten zu Berlin, vom 25. Dezember 1922 bis 2. Januar 1923, 40 S.

http://warumiaa.files.wordpress.com/2011/02/resolutionen-iaa.pdf

https://www.sac.se/en/About-SAC/Historik/Arkiv/Andra-spr%C3%A5k/Tyska/Resolutionen-IAA

 

Franz Barwich, Der kommunistische Aufbau des Syndikalismus im Gegensatz zum Parteikommunismus und Staatssozialismus

[digitale Neuausgabe]

http://www.syndikalismusforschung.info/barwichks.htm

 

Fritz Oerter, Jugend!Voran! Eine Sammlung von Anregungen in Poesie u. Prosa. Für den Jugend ausgewählt, 64 S.

https://portal.dnb.de/bookviewer/view/113820370X#page/n0/mode/2up

 

1924

Peter Kropotkin, Gerechtigkeit und Sittlichkeit. Aus dem Russischen übersetzt [v. Alexandra Stera Pfemfert], 23 S.

https://portal.dnb.de/bookviewer/view/1147393281#page/14/mode/2up

 

Errico Malatesta, In Wahlzeiten. Ein Arbeiterzwiegespräch. Übersetzt von Augustin Souchy, illustriert v. Karl Holtz, 14 S. [2. Aufl. 1928]

[digitale Neuausgabe]

http://www.anarchismus.at/txt2/malatesta1.htm

 

1925

Alexander Berkman, The Anti-Climax. The concluding chapter of my Russian diary „The Bolshevic Myth“, 29 S.

[keine ›offizielle‹ Ausgabe. »Printed by Maurer & Dimmick«]

http://www.archive.org/details/Theanti-climaxTheConcludingChapterOfMyRussianDiarytheBolshevik

 

1926

Der Bonzenspiegel. Splitter und Späne aus dem Klassenkampf – Für den Klassenkampf!, 80 S.

https://portal.dnb.de/bookviewer/view/1160494649#page/n0/mode/2up

 

1932

I.A.A. – 10 Jahre internationaler Klassenkampf. Gedenkschrift zum zehnjährigen Bestehen der Internationalen Arbeiter-Assoziation von 1921-1931. Berichte von Augustin Souchy, Rudolf Rocker, Alexander Schapiro, Albert Jensen, Arthur Müller-Lehning, Pierre Besnard, Eusebio C. Carbo, Avelino Gonzalez Mallada, Armando Borghi, H.W. Gerhard (d.i. Gerhard Wartenberg), 53 S.

[digitale Neuausgabe in 10 Kapiteln]

http://syndikalismus.wordpress.com/category/iaa/

https://www.anarchismus.at/texte-anarchosyndikalismus/internationale-arbeiter-assoziation-iaa

 

Freie Arbeiter-Union Deutschlands (Anarcho-Syndikalisten), »Dem Deutschen Volke«, 8 S.

[Antifaschistische Flugschrift zu den Reichstags-Wahlen am 31. Juli 1932]

http://vabaltona.blogsport.de/images/FAUDAntiwahl31.Juli1932.pdf

 

Anderes

Postkarten

https://cartoliste.ficedl.info/spip.php?page=recherche&lang=de&recherche=FAUD

 

Gruppe DAS (Barcelona) 1937

Gruppe DAS, (Hrsg), Schwarz-Rotbuch. Dokumente über den Hitlerimperialismus, 1937

[komplett digitalisiert in mehreren PDF-Dateien im Archiv Karl Roche]

http://archivkarlroche.wordpress.com/schwarzrotbuch-1937/

 

(Stand: 20. Juni 2020)

Zur Erinnerung | Osterunruhen in Hamburg 1919 – 1921

Osterunruhen in Hamburg 1919 – 1921

Während in München die Räterepublik durch Militär im April 1919 niedergeschlagen wurde … passierte wie überall in der neuen Weimarer Republik auch in Hamburg – Altona, Groß-Hamburg, ein mehrjähriges Nachspiel zur unvollendeten und verratenen November-Revolution 1918/19.

Wir haben es nicht nötig, auf linksradikale oder anarchistische Berichterstattungen zurückzugreifen, wir lassen einfach die (angeblich) liberale Presse sprechen. All diese Berichte widerlegen unserer Ansicht nach die bürgerlich-sozialdemokratischen Behauptungen, dass es sich hierbei nur um lokale Angelegenheiten und vor allem unorganisierte Unruhen gehandelt habe. Mag sein, dass es sich 1919 um keinen geplanten Putsch gehandelt hat, zu Ostern 1921 und im Oktober 1923 waren es eindeutig kommunistisch organisierte Umsturzversuche der KPD. Auch 1919 handelten organisierte Gruppen – wie sonst kommen Tausende zusammen, um gegen Hunger und Elend zu protestieren und bewaffnet zu kämpfen?

Titelseite der ersten Ausgabe des Alarm, März 1919

Wir verweisen hierbei nur auf die Tageszeitung der (Mehrheits-)  Sozialdemokratischen Partei, dem Hamburger Echo, das von der „Wühlarbeit der Freien Sozialisten“ sprach. Die Freien Sozialisten und Anarchisten waren eine gegenüber traditionellen Organisationsmodellen feindlich eingestellte Gruppierung in Hamburg, die sich um den anarchistischen Tischlergesellen Carl Langer formiert hatte – und die seit Anfang März 1919 als wöchentliches Kampfblatt den Alarm herausgab. Die Gruppierung hatte in der Marienstraße in der Neustadt in direkter Nähe zum Heiligengeistfeld und St. Pauli ihren Versammlungskeller und hier erschien auch die Zeitung.

Nach oder bei der Lektüre der damaligen hetzerischen Presseberichte kann sich jede/r selbst ein Bild von den damaligen Unruhen in der Großstadt Hamburg machen. Wie immer – die Herrschenden liessen auch hier mit Maschinengewehren auf aufbegehrende Arbeiter und Erwerbslose schießen. Zu den damaligen Lohn- und Arbeitsbedingungen finden sich im Anhang einige Beispiele.                                                                                                                        Isegrim

Die Davidwache an der Reeperbahn nach dem Sturmversuch zu Ostern 1919 (Foto: 25.4.1919)

Teil I

Die Osterunruhen im April 1919

*

Zu den gestrigen Plünderungen
erfahren wir noch folgendes: Nachdem die Bande auf der Esplanade geplündert hatte, zog sie nach der Schönen Aussicht, Klopstockstraße und Alsterufer. Hier drang der Mob in verschiedene Villen ein und erpreßte Schmucksachen und Eßwaren oder plünderte. Inzwischen waren Sicherheitswachleute herbeigekommen, deren Aufforderung, auseinander zu gehen, nicht befolgt wurde. Die Sicherheitsleute machten von ihren Waffen Gebrauch. Dabei wurde ein 19 Jahre alter Plünderer von einer Kugel niedergestreckt. Er wurde schwer verletzt dem Krankenhaus übergeben. Sein Zustand ist so bedenklich, daß er noch nicht vernommen werden konnte. Als die Menge sah, daß Ernst gemacht wurde, entfloh sie. Inzwischen war der Hauptbahnhof für den Durchgangsverkehr gesperrt worden, doch ließen die Plünderer das Bahnhofsgebäude unbesucht. Die Polizei verhaftete 6 Personen,
die beim Plündern betroffen wurden; es handelt sich nur um Burschen im Alter von 17—19 Jahren.

Da für heute nachmittag 3 ½  Uhr wieder eine Zusammenkunft der Arbeitslosen angesagt ist, hat die Sicherheitsmannschaft umfangreiche Maßregeln getroffen, um Vorkommnisse wie die gestrigen im Keime zu ersticken. Die gesamte Sicherheitsmannschaft befindet sich im Alarm, starke Patrouillen durchziehen die Straßen und die Zugänge des Rathausmarktes werden in der Weise abgesperrt,
daß die an der Demonstralion teilnehmenden Personen beim Verlassen des Rathausmarktes sich nur in der Richtung fortbegeben können, in der sich ihre
Wohnung befindet. Außerdem ist die Sicherheitsmannschaft durch die Bahrenfelder Volkswehr verstärkt worden.

• Hamburger Anzeiger, 16. April 1919

*

Altona

Zu wüsten Ausschreitungen ist es hier vergangene Nacht gekommen. Ein Trupp Arbeitslose, dem sich Plünderungslustige beiderlei Geschlechts angeschlossen hatten, kam gegen elf Uhr nachts von St. Pauli und nahm seinen Weg über die Königstraße nach der Flottbeker Chaussee, wo die Villen Str. 54 und 56 als Opfer ausersehen waren. Der Pöbel zerschlug die Fenster und hauste dann in bekannter Manier. Es wurden nicht nur Lebensmittel, sondern auch Wertgegenstände geraubt. Den Sicherheitsmannschaften, die sehr schnell zur Stelle waren, gelang es, die Menge durch einige Schreckschüsse zu zerstreuen und drei Personen, zwei Frauen und einen Mann, zu verhaften. Vor diesem Streifzug hatte der Pöbel in St. Pauli die Autos angehalten und vergeblich nach Lebensmitteln durchsucht. Ferner wurde in der Adolfstraße das Schaufenster eines Juwelengeschäfts geplündert. Hier kommen als Täter Feldgraue und Angehörige der Marine in Frage.

• Hamburger Anzeiger, 17. April 1919

*

Kampf mit Plünderern.

Ein ernster Zusammenstoß mit Plünderern entstand heute nacht in der Gegend des Nobistors. Um 11 ½ Uhr wurde die Sicherheitsmannschaft alarmiert, da gemeldet worden war, daß in St. Pauli Zusammenrottungen von größeren Menschenmengen erfolgten. Bald darauf wurde mitgeteilt, daß eine größere Bande von Plünderern planmäßig vorgehe und sich gegen die Altonaer Grenze hin in Bewegung setze. Sofort rückten die Sicherheitsmannschaften aus. Im Eilschritt gingen sie bis zum Nobistor vor. In der Höhe der Talstraße und der Silbersackstraße erhielten sie vom Nobistor aus Feuer. Die Plünderer hatten sich in den Häusern verschanzt und aus Hauseingängen und den Fenstern das Feuer auf die anrückende Sicherheitsmannschaft eröffnet. Dabei erlitt einer der Sicherheitswachleute schwere, mehrere andere leichte Verletzungen. Inzwischen waren die zu Festungen umgewandelten Häuser erreicht worden. Mit dem Kolben wurde gegen die Verteidiger vorgegangen, wobei verschiedene der Plünderer verletzt wurden. Diese schossen aber aus anderen Häusern weiter auf die Sicherheitsleute, so daß auch diese wieder von ihren Gewehren Gebrauch machten. Es entspann sich nun ein lebhaftes Feuergefecht. Namentlich aus der Concordia, die von den Plünderern stark besetzt war, wurde heftig geschossen. Es wurde zum Sturm auf das Gebäude angesetzt. Nach kurzer Zeit drangen die Sicherheitstruppen ein. Die Plünderer setzten sich verzweifelt zut Wehr und versuchten, die Eindringenden aus dem Hause zu werfen, was ihnen aber nicht gelang. Die Sicherheitsleute drangen mit den Kolben auf die Banditen ein, dadurch entstand ein schwerer Kampf innerhalb des Hauses und seiner nächsten Umgebung. Hierbei wurden zwei der Plünderer getötet und sechs schwer verwundet. Von den Verwundeten ist einer nachträglich im Krankenhaus gestorben, außerdem wurden bei dem Kampf vorher noch sieben Personen verletzt. Während des Kampfes wurde eine große Zahl Verhaftungen vorgenommen.

Daß man es nur mit Plünderern zu tun hat, geht daraus hervor, daß sowohl alle Verhafteten, wie die Verwundeten, außer Waffen auch im Besitz von zahlreichem Einbruchsmaterial befunden wurden. Ein politischer Charakter kann den Ereignissen  demnach nicht beigemessen werden. Erst gegen 2 Uhr nachts war der Kampf beendet und die Ruhe wiederhergestellt.

Da man für heute nacht eine abermalige Wiederholung der Vorgänge befürchtet, so werden die Wachen verstärkt und die Sicherheitsmannschaften auch mit Handgranaten ausgerüstet werden. Die Leiter der Sicherheitsmannschaften sind fest entschlossen, mit den Plünderern tabula rasa zu machen, ein Entschluß, der im Interesse der Allgemeinheit nur auf das wärmste zu begrüßen ist.

Aus Altona meldet dazu noch unser p-Mitarbeiter, daß die dortige verstärkte Wache 2 den Uebertritt von Plünderern auf Altonaer Gebiet verhindert habe. Drei verletzte Radaubrüder wurden dort verbunden.

Der Hauptbahnhof, auf dem ein Ueberfall befürchtet wurde, war gestern abend stark besetzt worden, doch blieb dort alles ruhig.

• Neue Hamburger Zeitung, 19. April 1919

Altona.

p. Blutige Zusammenstöße am Nobistor. In der Nacht zum Sonnabend bildete sich am Nobistor eine große Menschenansammlung, die den Versuch machte, nach Altona hinein zu gelangen. Die Polizei hatte aber rechtzeitig die Wache 2 soweit verstärkt, daß die Zugangsstraßen in der Nähe des Nobistors wirksam abgesperrt werden konnten. Der Hamburger Sicherheitswehr gelang es, den Haufen zu Dabei gab es auf seiten der Radaulustigen mehrere Opfer; allein auf Wache 2 erhielten drei Verletzte einen Notverband.

• Hamburger Anzeiger, 19. April 1919

*

Gegen die Räuber-Rotten.

Es ist tief bedauerlich, daß gerade in der Stillen Woche, am Karfreitag, unsaubere Elemente der Grobstadt sich wieder zusammengerottet haben, um systematisch, mit Waffen wohlausgerüstet, auf Plünderungen und Raub auszugehen. Nach den blutigen Zusammenstößen zwischen dem Mob und den Sicherheitsmannschaften in der Nacht von Freitag auf Sonnabend war von vornherein damit zu rechnen, daß die Tumulte und Räubereiversuche gestern eine Fortsetzung finden würden. Und die Sicherheitsmannschaften hatten denn auch ihre Vorsichtsmaßregeln getroffen. Leider noch immer nicht in ausreichendem Maße, wie die unten geschilderten Tatsachen deutlich beweisen. Immerhin hat sich in der Leitung unseres Sicherheitsdienstes und  auch unter den Sicherheitsmannschaften selbst die Ueberzeugung befestigt, die von allen Freunden der Ordnung in allen Schichten unserer Bevölkerung geteilt wird, daß nur mit ganz festem Zupacken und Durchgreifen jene Elemente im Zaum gehalten werden können, die jetzt wieder von ihren dunkelsten Instinkten fortgerissen sind.

* * *

Die Unsicherheit in Hamburg hat die Kommandantur Groß-Hamburg zu folgender Anordnung veranlaßt:

„Volkswehrtruppen, Sicherheits- und Polizeimannschaften haben ausdrücklichen Befehl erhalten, gegen Einbrecher- und Plünderer-Banden in und außerhalb GroßHamburgs rücksichtslos von der Waffe Gebrauch zu machen. Es wird daher dringend davor gewarnt, sich bei Aufläufen als Zuschauer zu beteiligen, da es unvermeidlich ist, daß auch Unbeteiligte beim Einschreiten des Militärs in Mitleidenschaft gezogen werden. Gegenüber jeder Widersetzlichkeit wird ohne jede Schonung vorgegangen und die Waffe angewendet werden. Die Folgen hat sich jeder selbst zuzuschreiben.“

Am Sonnabend nachmittag wurden die Räubereien der vorhergehenden Nacht fortgesetzt. Wie bereits im größten Teil unserer gestrigen Abendausgabe berichtet, wurden am hellen Tage auf offener Straße die Wachführer der Sicherheitstruppen, die von der Kasse der Sicherheitsmannschaften in Altona, Palmaille, Geld geholt hatten, um die Löhnungen auszuzahlen, überfallen und ihrer Barschaft, sowie der Waffen beraubt. In jedem Falle erbeuteten die Täter mehrere tausend Mark. Als die ersten vier Ueberfälle, die sich kurz hintereinander ereigneten, im Stadthaus bekannt wurden, rückten sofort Sicherheitsleute aus, um weitere Räubereien zu verhindern. Später wurden die abzusendenden Löhnungen mit starker Bedeckung an die einzelnen Empfangsorte gesandt. Die Auszahlungen der Löhnungen erfolgten wegen des Osterfestes nur dieses eine Mal in Altona, Palmaille. In Zukunft wird das Geld nach wie vor bei der Hauptkasse in Hamburg ausgezahlt werden.

In St. Pauli
nahmen die Ruhestörungen ihren Fortgang. In der Nähe der Altonaer Grenze am Nobistor wurde eine Ladenscheibe zertrümmert und das Schaufenster, in dem Bijouterie- und Galanteriewaren lagen, ausgeraubt. Der Mob terrorisierte die Straße. Alle Passanten, Männer und Frauen, Alt und Jung, wurden angehalten, ins Gesicht geschlagen und auf Waffen durchsucht. Dabei nahm der Pöbel den Leuten die Uhren, das Geld und sämtliche Wertsachen weg. Es hatten sich verschiedene Banden gebildet, die in dieser Weise vorgingen. Alle Automobile, die des Weges kamen, wurden angehalten und auf Waffen durchsucht. Als die Autos der Sicherheitsmannschaften ankamen, wurden auch diese umringt, die Mannschaften heruntergeholt und ihnen die Waffen abgenommen. Ebenso erging es den Patrouillen der Sicherheitswachen. Vom Sicherheitsdienst des Stadthauses aus wurden sofort alle in der Umgegend liegenden Wachen verstärkt und
Großalarm gegeben.

Dann rückten mit Maschinengewehren besetzte Automobile nach der Reeperbahn ab. Hier zählte die Menge bereits nach Tausenden. Die Reeperbahn und alle Nebenstraßen, die in diese führen, wurden abgesperrt, so daß der St. Pauli-Hauptstraßenzug nicht mehr betreten werden konnte. Der gesamte Verkehr mußte sich durch die Hinterstraßen bewegen. Bei Ankunft der Sicherheitsmannschaften sollten die Straßen gesäubert werden. Dabei zog einer aus der Menge einen Revolver und legte auf einen Sicherheitsmann an. Dieser kam ihm aber zuvor und schoß ihn ins Bein. Der Mann würde ins israelitische Krankenhaus  geschafft. An der Ecke der Talstraße staute sich die Menge. Als ein Sicherheitsauto erschien, drang der Mob auf dieses ein und wollte die Besatzung herunterreißen. Dabei wurden aus der Menge heraus Schüsse abgegeben. Nun feuerten die Sicherheitssleute ihrerseits Schreckschüsse ab. Das war das Zeichen zu einem lebhaften Feuergefecht, wobei die Sicherheitsleute verständigerweise meistens in die Luft schossen, denn sie wußten, daß unter den Andrängenden sich zahlreiche Neugierige befanden. Trotzdem wurden noch zwei weitere Personen verletzt, ein Mann aus Winterhude, der als Zuschauer an einer Ecke stand und der einen Streifschuß am Arm erlitt, sowie ein anderer Mann, der durch einen Bauchschuß schwer verwundet wurde. Er wurde ins Hafenkrankenhaus gebracht. Bei dem Tumult wurden verschiedene Rädelsführer ergriffen und verhaftet. Einer von ihnen hatte eine  Anzahl Uhren bei sich, die aus einem in Altona geplünderten Uhrenladen stammen.

Im Laufe des Abends verbreitete sich das Gerücht, die Bahrenfelder Kaserne sei gestürmt worden. Auf Anfrage bei der Kommandantur Groß-Hamburg wurde von dort geantwortet, daß es sich nur um ein Gerücht handle. Später rotteten sich auf dem Heiligengeistfelde wieder etwa 1000 Personen, zusammen, die anfänglich beschlossen, die Lebensmittelläger im Freihafen zu stürmen. Die Menge, die sich auf dem Marsche verdreifachte, zog nach der Markusstraße und versuchte hier die Schule, in der sich ein Lebensmittellager befindet, zu stürmen. Hier kam es kurz nach 10 Uhr zu einem Feuergefecht, die andrängenden Massen wurden aber durch Maschinengewehrfeuer und Handgranaten zurückgetrieben. Vorher wurde die

Wache 14 in der Eimsbüttelerstraße gestürmt.

Die dort befindlichen Gewehre wurden geraubt. Dann zog die Menge wieder nach St. Pauli und versuchte die Wache 13 in der Davidstraße zu stürmen, wurde hier aber ebenso wie an der Wache 10 in der Peterstraße abgewiesen. Da inzwischen alle verfügbaren Sicherheitsmannschaften nach dem Freihafen dirigiert worden waren, so gelang es den Plünderern nicht, dorthin zu gelangen. Als ihre Vorposten und Kundschafter die starke Besetzung sahen, machte die Menge kehrt und ergoß sich wieder in das Innere der Stadt. Hier währten, namentlich in der Neustadt, die Schießereien bis in die späte Nacht hinein. Sämtliche Bewohner der Markusstraße hatten die Weisung erhalten, wegen des Maschinengewehrfeuers sich in die hinteren Räume zurückzuziehen und auch während der Nacht nicht in den Vorderzimmern zu schlafen.

* * *

Kommunistische Flugblätter,

in denen die Arbeiterschaft zum Streik aufgefordert wird, wurden gestern abend in Hamburg verteilt. Nach Aufzählung der bekannten Forderungen (deutsche Räterepublik usw.) wird die Arbeiderschaft zu einem „einheitlichen, gewaltigen Willensentschluß, zu einer letzten großen mächtigen Tat“ aufgerufen. Die Organisation von Bezirksstreiks soll die neue Umwälzung vorbereiten. Bei dem gesunden Sinn der Hamburger Arbeiter werden die Hetzereien der Gewaltapostel weiter vergeblich bleiben.

• Neue Hamburger Zeitung, 20. April 1919

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Ostermontag, den 21. April 1919, erschienen keine Tageszeitungen in Hamburg.

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 Viel Unsicherheit in Hamburg.

So kann es nicht weiter gehen!

Auch während der Ostertage hat der Mob in Groß-Hamburg weiter gewütet. Wenn jetzt nicht sofort scharf durchgreifende Maßnahmen getroffen werden, so besteht die Gefahr, daß wir es mit einem Schrecken ohne Ende, mit einer völligen Unterwühlung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit in Groß-Hamburg zu tun haben werden. Wiederum hat es während der Ostertage Tote und Verwundete gegeben, am hellen Tage sind Passanten auf St. Pauli ausgeplündert worden, Läden sind zerstört und ausgeraubt, Gefangene sind befreit, Polizeiwachen sind gestürmt, und regelrechte  Feuergefechte haben sich entsponnen. Diese Zustände sind ein schreiender Hohn auf die öffentliche Sicherheit und Ordnung.

Wir wissen sehr wohl zu würdigen, daß sich die Polizei und die Sicherheitsmannschaften m einer schwierigen Lage befinden: Sie stehen vielfach Menschenmassen gegenüber, in denen die räuberischen Elemente eng vermengt sind mit Neugierigen, Frauen und Kindern. Eine geradezu krankhafte Neugier und Sensationslust veranlaßt ungezählte Scharen, die von Haus aus gar nicht von verbrecherischen Instinkten beseelt sind, sich nach den Gegenden zu begeben, wo all die wilden Szenen sich abspielen. Alle Warnungen, die bereits veröffentlicht worden sind, fruchten nicht gegenüber dieser krankhaften Sensationslust, dieser kindischen und unreifen Neugier. Dadurch wird das Vorgehen der Polizei und Sicherheitsmannschaften ungemein erschwert. Man kann es verstehen, daß diese Bedenken tragen, von der Waffe den Gebrauch zu machen, der gegenüber dem Verbrechergesindel durchaus am Platze ist. Aber es hilft nicht: Jedes Zaudern gegenüber den verbrecherischen Elementen vormehrt nur die Gefahr und lockert noch weiter die Bande der Ordnung. Hier muß fest durchgegriffen werden.

Es dürfen nicht Hunderttausende ehrbare Mitbürger und Mitbürgerinnen in Angst und Sorge um die Sicherheit ihrer Person und ihres Eigentums leben, nur weil es ein paar Hunderten Rohlingen gefällt, ihre dunklen Instinkte auszuleben. Wir fordern  deshalb, daß mit rücksichtsloser Energie hier Ordnung geschafft wird!           H.

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Nachklänge der Unruhen.
Das Ziel einer großen Schar Neugieriger bildet die Markusstraße, da dort nächst St. Pauli der Hauptkampf tobte. Namentlich die Häuser Nr. 23, 25 und 27 haben schwer gelitten. Als die Menge gegen die Schule anrückte, warfen die Sicherheitsmannschaften zur Verteidigung und zur Abwehr zwei Handgranaten, die sofort explodierten und eine gewaltige Wirkung hatten, vom Keller bis zum Dachgeschoß blieb in den drei Häusern keine Fensterscheibe heil. Nach Angabe des  Sicherheitsdienstes ist aber — fast wie durch ein Wunder — kein Hausbewohner verletzt worden. Auch das Maschinengewehrfeuer hat zahlreiche Spuren hinterlassen. Ladenfenster, Wohnungsfenster, Firmenschilder und andere Aushänge sind zertrümmert worden, das Mauerwerk weist zahlreiche Kugelspuren auf,
desgleichen die Fenster- und die Türrahmen. In einen Milchladen hinein wurden allein 16 Schuß abgegeben, da man der Meinung war, daß sich dort Spartakisten verschanzt hätten.

Ein Artist Paul Krug aus Berlin nahm in der Nacht zum Ostermontag von Barmbeck ein Auto, um nach Altona zu fahren. Am Millerntordamm wurde das Auto von etwa 200 bewaffneten Leuten angehalten und Krug, der sich in Begleitung seiner Braut befand, durch Vorhalten eines Revolvers gezwungen, seine Brieftasche mit 1600 Mk. und seine Granatnadel herzugeben.

Am Holstenplatz wurde gestern nachmittag ein Wachtmeister von fünf uniformierten Leuten, von denen einer das Eiserne Kreuz l. Klasse trug, umringt und seiner Waffen beraubt. In der letzten Nacht wurde in der Talstraße eine aus 30 Mann bestehende Patrouille von einer großen bewaffneten Bande umzingelt und entwaffnet. Später traf große Verstärkung ein, und es begann ein regelrechtes Kesseltreiben gegen die Plünderer, 31 Personen wurden aus den verschiedensten Schlupfwinkeln herausgezogen und verhaftet. Sie alle hatten außer Waffen auch Einbruchswerkzeuge im Besitz.

Da immer noch mit einem Sturm auf das Stadthaus gerechnet werden muß, so ist dieses noch weiter verstärkt worden. Eine starke Sicherheitsmannschaft ist im Stadthaus zusammengezogen, überall sind Maschinengewehre aufgestellt, so daß ein Besuch dieses Staatsgebäudes den Stürmenden recht übel bekommen würde.

Am St. Pauli Fischmarkt unter Brücke 6 wurde am ersten Feiertag von spielenden Kindern ein Waffenlager mit 40 Gewehren, zirka 2000 Patronen und einer Anzahl
Handgranaten entdeckt. Die Kinder benachrichtigten die Sicherheitsmannschaften, die in aller Stille das Lager ausräumten und sich dann mit Eintritt der Dunkelheit an Ort und Stelle wieder einfanden, um die verbrecherischen Elemente festzunehmen. Es gelang ihnen, 7 Halbstarke zu verhaften.

• Neue Hamburger Zeitung, 22. April 1919

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Ein häßliches Osterfest.

Wunderliche Ostern liegen hinter uns. Eine Art mittelalterlicher Ostern, als man noch keine Straßenbahn kannte und das Raubrittertum in hoher Blüte stand. Nur daß man früher Gefahr lief, wenn man sich zu weit von den Stadttoren entfernte; heute dagegen mitten in den Stadtstraßen selber am gefährdetsten war. Unser ehemals so wohlgeordnetes Gemeinwesen, das jedem Einwohner Schutz und Sicherheit verbürgte, hat alle Ursache, den Kopf zu senken: das Straßenräuber – Unwesen triumphiert, der harmlose Spaziergänger wird seiner Barschaft und Uhr am hellichten Tage beraubt, der Giftmischer und Raubmörder darf sich der tatkräftigen Hilfe guter Freunde erfreuen und den letzten Respekt vor Gefängnisgitter und „Grünem August“ fahren lassen, in den lichtlosen Nächten toben die Straßenschlachten um Polizeiwachen und Lebensmittellager. Es ist eine Lust, in Groß-Hamburg zu leben!

Die Empörung über diese Zustände ist naturgemäß allgemein, und wo man hinhört, begegnet man derben Ausdrücken des Unwillens über die glimpfliche Behandlung des Raubgesindels, das mit irgendwelchen politischen Anschauungen und Absichten nicht das mindeste zu tun hat. In der Tat muß man sich wundern, daß die Sicherheitswehr in Hamburg, die doch immerhin über 8000 Mann verfügt, der Unruhestifter nicht gründlicher Herr wird, als aus den hier vorliegenden Berichten hervorgeht. Wenn bei den Schießereien kaum mehr Banditen als Sicherheitsmannschaften verwundet, ja getötet werden; wenn es schon als mannhafter Erfolg gilt, daß vielfache Anstürme des Pöbelhaufens auf diese oder jene Wache abgeschlagen wurden; wenn das Gesindel in großen Haufen vor immer neuen Wachen die Versuche der Ueberrumpelung wiederholen und dort überraschend erscheinen kann — so muß hier ein Mangel an festem Entschluß oder ein Organisationsmangel vorliegen, der zweifellos der Besserung bedarf.

Da die Sicherheitswehr erst ganz neuerdings eine Umwandlung erfahren hat, so mag die neue Organisation noch nicht genügend haben wirken können; denn
an dem energischen Willen, gegen Straßenräuber mit gehöriger Rücksichtslosigkeit vorzugehen — in einem Aufruf der Kommandantur ist diese Rücksichtslosigkeit gegen Einbrecher- und Plünderer-Banden noch unmittelbar vor Ostern versprochen worden — möchten wir doch nicht zweifeln. Nachdem sich die Unruhen mehrere Tage und Nächte wiederholt hatten, hat sich ja denn auch eine bessere Borsorge in der Unterdrückung neuentstehender Zusammenrottungen gezeigt. Es wäre wünschenswert und im Sinne aller Mitbürger, wenn der Kampf gegen das gar nicht mehr lichtscheue Gesindel bald stärkere Erfolge zeitigte als bisher.          H.

* * *

Die Nacht zum ersten Osterfeiertag verlief namentlich für St. Pauli recht unruhig. Der Mob hatte es, wie so oft bei Aufruhrgelegenheiten, hauptsächlich auf die Wache 13 an der Davidstraße abgesehen. Viele Male stürmten Banden gegen das Gebäude an, immer wurden sie aber wieder zurückgeworfen. Als man in der Nacht gegen die Wache vorging, verlangte man sofortige Herausgabe aller Waffen. Dies wurde natürlich ablehnt. Das war das Zeichen, zum allgemeinen Angriff. Der Sturm begann mit dem Werfen einer Handgranate, die sich im Zimmer des Oberwachtmeisters entlud, ohne aber glücklicherweise irgend jemand zu verletzen; vier Schutzleute, die durch den Luftdruck zu Boden geschleudert wurden, erhoben sich sehr bald wieder. In kurzer Aufeinanderfolge wurde nun aus den gegenüberliegenden Häusern, die die Spartakisten besetzt hatten mit Gewehren geschossen und mit Handgranaten geworden. Das Feuer wurde von der Wache heraus kräftig erwidert, dadurch wurden in den Häusern, namentlich im Hotel Stein zahlreiche Fensterscheiben zertrümmert und auch sonstiger Schaden an den Gebäuden angerichtet. Eine Kugel, die aus der Richtung Friedrichstraße kam, tötete den Oberwachtmeister Möhring, einen ledigen, 35 Jahre alten Beamten, der sich schon über zehn Jahre im Polizeidienst befindet. Die Kugel drang ihm in den Leib und trat zum Rücken wieder heraus. Möhring brach zusammen und war auf der Stelle tot. Dreimal wiederholte sich der Sturm auf die Wache, stets mit demselben negativen Erfolg. Erst am Sonntagmorgen um 5 Uhr konnten die Verstärkungen zurückgezogen werden. Auf seiten der Polizei und Sicherheitsmannschaften sind außer Möhring keine Todesfälle vorgekommen, auch wurde niemand schwer verletzt, nur eine Anzahl Leichtverletzter konnte an Ort und Stelle verbunden und dann nach Haus entblassen werden. Auch von dem stürmenden Mob ist eine Person, die noch nicht anerkannt ist, getötet worden, außerdem wurde eine Anzahl schwer vorletzter Personen in die Krankenhäuser gebracht. Zahlreiche Leichtverletzte wurden von den Spießgesellen fortgeschafft, ihre Zahl war nicht festzustellen. In der Polizeiwache 10 erschienen
50 bewaffnete Spartakisten und velangten sämtliche Waffen und Uebergabe der Wache. Als dies Ansinnen abgelehnt wurde, hielt man den Polizisten und Sicherheitsmannschaften die Gewehre auf die Brust, andere Plünderer erbrachen alle Behälter, die sie durchsuchten und ausplünderten. Dann zog die Bande zum Hüttengefängnis, um hier in derselben Weise zu verfahren. Zuerst setzte man alle Verbrecher, etwa 30 Männer und Frauen, in Freiheit, darunter mehrere Schwerverbrecher unter denen sich auch die Frau befand, die im Dezember in Breslau die Witwe Püschel durch Gift getötet hat. Als Verstärkung nahte, zog sich der Mob zurück. Auch bei dem Sturm auf das Hüttengefängnis wurden viele Kugeln gewechselt, von denen zahlreiche in den Wänden und den Möbeln stecken geblieben sind. Dann wiederholte sich der Sturm auf die Schule in der Marcusstraße, in dem sich das Lebensmittellager der Sicherheitstruppen befindet. Wieder entwickelte sich ein heftiges Feuergefecht mit Gewehren, Maschinengewehren und Handgranaten. Mehrfache Stürme wurden stets erfolgreich abgewiesen, sodaß die Spartstisten schließlich abziehen mußten. Auch hier haben sie ihre Verwundeten mitgeschleppt, sodaß ihre Zahl nicht festzustellen ist. Daß von den Bewohnern der Marcusstraße niemand verletzt ist, muß den getroffenen Sicherheitsmaßregeln zugeschrieben werden, nach denen sich kein Bewohner in den Vorderzimmern aufhalten durfte. Die Gebäude der Marcusstraße sind von zahlreichen Kugeln getroffen worden.

Am ersten Feiertag erfolgten schon in den Mittagsstunden in St. Pauli größere Zusammenrottungen, die aber erst beim Einbruch der Dunkelheit einen ernsteren Charakter annahmen. Wieder ging der Mob zum Sturm auf die Wache 13 vor, sodaß sich abermals ein lebhaftes Feuergefecht entwickelte. Der Sturm wurde noch mehrere Male resultatlos wiederholt.

Es war bekannt geworden, daß ein großer Teil der Sicherheitsmannschaften in die Wachen 36 und 39 gesandt worden war. Die Menge zog dahin und trug dadurch die Unruhen nach dem Hammerbrook. Zuerst erschien eine große Horde vor der Wache 39. Hier wurden keine Sicherheitsmannschaften angetroffen, die Woche war nur durch Polizisten besetzt. Diese wurden in Schach gehalten, bis das Gebäude durchsucht war. Dann zog die Menge vor die am andern Ende der Hammerbrookstraße belegene Wache 36. Hier  fand der Mob heftigen Widerstand, sodaß er das Feld räumen mußte.

Zwei Sicherheitsleute und vier Schutzleute wurden bei den Stürmen auf diese Wache schwer verletzt, sodaß sie ins Krankenhaus geschafft werden mußten. Auch hier nahmen die Aufrührer ihre Leichtverletzten mit.

Inzwischen spielte sich in St. Pauli eine widerliche Szene ab. Eine Rotte des Mobs  erkannte einen Sicherheitsmann wieder, der am Abend vorher in der Marcusstraße das Maschinengewehr bedient hatte. Die Menge umringte den Mann, warf ihn zu Boden und trat ihn mit Füßen. Aus der Menge wurden Rufe laut: „Tretet ihn tot.“ Nur dadurch kann der Mann mit dem Leben davon, daß rechtzeitig Hilfe kam und die Menge zerstreute.

Am Grünendeich 50 befindet sich die Spirituosenfabrik von J. J. W. Peters. Hier wurde an der Tür geklingelt. Herr Robert Peters öffnete und fand sich einer Horde von Menschen in Marine-Uniform gegenüber, die ihn fragte, ob Sicherheitsleute im Hause wären. Herr Peters verneinte und schloß die Tür. Nun wurde von draußen ein Schuß abgegeben, die Kugel durchschlug die Tür, drang Herrn Peters in die Brust und tötete ihn auf der Stelle. Der Täter ist nicht ermittelt worden.

Ein Waffenlager wurde auf St. Pauli-Fischmarkt unter Brücke 6 am ersten Feiertag von spielenden Kindern mit 40 Gewehren und ca. 2000 Patronen und einer Anzahl Handgranaten entdeckt. Die Kinder benachrichtigten die Sicherheitsmannschaften, die in aller Stille das Lager räumten und sich dann mit Eintritt der Dunkelheit an Ort und Stelle wieder einfanden, um die verbrecherischen Elemente festzunehmen. Es gelang ihnen, 7 Halbstarke zu verhaften.

Der zweite Feiertag verlief im ganzen ruhiger als der Sonntag. In den Vormittags- und frühen Nachmittagsstunden waren in St. Pauli Spartakisten am Werk, die die Passanten anhielten und ausplünderten. Geld, Uhren und Schmucksachen wurden ihnen auf offener Straße abgenommen. Den Damen zog man die Ringe ab und nahm ihnen die Ohrringe aus den Ohren. Diese Taten verübte eine kleinere Rotte von Menschen in Marine-Uniform. Als das Alarm-Bataillon und Verstärkungen aus der Kaserne erschienen, verschwanden die Plünderer schnell. Am Abend wurden verschiedene kleinere Wachen, in denen sich nur Schutzleute, aber keine Sicherheitswachleute befanden, gestürmt. Den Schutzleuten wurden die Revolver abgenommen und die Wachen auf weitere Waffen durchsucht. Ein stärkeres Aufgebot von Sicherheitsmannschaften sperrte dann abends in breiter Front die Straßen ab, sodaß größere Ansammlungen verhindert wurden. Außer einzelnen Einbrüchen in der Gegend der Reeperbahn, Ausplünderungen einiger Personen, vornehmlich Frauen, und Verhaftungen, die vom Mob verhindert werden sollten, blieb es bis gegen Morgen auf St. Pauli ruhig. Unter den Verhafteten befindet sich auch ein Mann, von dem festgestellt werden konnte, daß er auf Wachtmannschaften geschossen hat.

* * *

Vom Logishause Concordia in St. Pauli, das uns am Sonnabend als Mittelpunkt eines Feuergefechts geschildert wurde, erfahren wir, daß die Straßenkämpfe wohl in der Nähe stattgefunden, nicht aber das Logishaus selber irgendwie in Mitleidenschaft gezogen haben. Das Logishaus liegt etwa 50 Meter von der Straße ab. Offenbar ist unserem Gewährsmann also eine Verwechslung unterlaufen, die wir hiermit richtig stellen.

• Hamburger Anzeiger, 22. April 1919

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Belagerungszustand in Groß-Hamburg.

Im Einvernehmen mit dem dem Senat der Freien und Hansestadt Hamburg sowie den Magistraten der Städte Altona und Wandsbek wird hiermit der Belagerungszustand über Hamburg-Altona und Wandsbek verhängt.

Die Hoffnung der Kommandantur Groß-Hamburg, ohne Verhängung des Belagerungszustandes auskommen zu können, ist durch die schamlose Unverfrorenheit organisierter Verbrecherhorden zuschanden gemacht worden. Die vollziehende Gewalt geht hiermit auf den Kommandanten von Groß-Hamburg über.

Demonstrationen und Versammlungen unter freiem Himmel sind verboten. — Versammlungen in gedeckten Räumen sind 48 Stunden vorher anzumelden und bedürfen der Genehmigung des Kommamdanten. Für Versammlungen am 23. und 24. April ist die Genehmigung telephonisch zu beantragen.
Ansammlungen auf Straßen und Plätzen sind verboten.
Polizeistunde: 8 Uhr.
Rennen, Ringkämpfe und ähnliche Schauspiele sind verboten.
In der Zeit von 9 Uhr abends bis 6 Uhr morgens darf sich niemand außerhalb der Wohnung aufhalten, ausgenommen die Personen des öffentlichen Sicherheitsdienstes und diejenigen, die einen Ausweis der Polizeibehörde oder der Kommandantur Groß-Hamburg bei sich führen.
Den Anordnungen der Volkswehr- und Polizeimannschaften ist umbringt Folge zu  leisten. Zuwiderhandelnde werden sofort festgenommen.
Volkswehr- und Polizeimannschaften erhalten hiermit strengsten Befehl, Personen, die mit den Waffen in der Hand beim Plündern oder im Kampfe mit Volkswehr, oder Polizeimannschaften angetroffen werden, auf der Stelle zu erschießen.
Wrede, Kommandantur-Soldatenrat.
Lamp’l, Kommamdant von Groß-Hamburg.

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Die Unruhen in Hamburg

Auf der Reeperbahn sammelte sich gestern abend um 11 Uhr eine größere Menschenmenge an, aus der heraus eine Ladenscheibe zertrümmert wurde. Eine  starke Sicherheitspatrouille forderte die Leute auf, auseinanderzugehen. In diesem Augenblick wurde aus den umliegenden Häusern auf die Sicherheitsmannschaften geschossen. Diese erwiderten das Feuer sofort. Dabei wurde ein unter Sittenkontrolle stehendes Mädchen durch einen Rückenschuß getötet. Außerdem wurden zwei Leute schwer verletzt, viele Neugierige erlitten leichte Verletzungen.

Auf die Lebensmittelkartenausgabestellen in den Volksschulen hatten es die Plünderer am Dienstag abgesehen. Sie drangen in die Volksschule Eduardstraße ein und forderten von dem Ausgabepersonal die Herausgabe sämtlicher Lebensmittelkarten. Der Schuldiener telephonierte an die Polizei, und sein Sohn schloß hinter den Räubern die Tür, so daß diese gefangen saßen. Die sprangen aus dem Fenster und entliefen in der Richtung Altona. Leider sind die Burschen entkommen.

Sonst blieb es in der Stadt gestern wähnend des Abends und im Laufe der Nacht ruhig. Die starken Patrouillen, die überall auftauchten, brauchten nirgendwo in Tätigkeit zu treten.

Heute um die Mittagsstunde rührten sich die Plünderer wieder. Um 12 Uhr wurde von der Hoheluft-Wache gemeldet, daß ein starker Menschenstrom im Anmarsch sei. Vom Stadthaus aus fuhr das mit Maschinengewehren besetzte Feuerwehrauto mit großer Verstärkung nach der Hoheluft. Die Plünderer wurden in die Flucht geschlagen.

Bis jetzt 9 Tote.

Die Unruhen haben bis jetzt 9 Tote gefordert. Es sind dies der Wachtmeister Möhring, der in der Wache 13 (Davidstraße) erschossen wurde; der Inhaber der Spirituosenfabrik Peters, der am Grünendeich am Ostersonntag durch Aufrührer den Tod fand; ferner der Knabe, der am Dienstag beim Sturm auf die Margaretenstraßen-Wache getroffen wurde; dann der Sicherheitswachmann, der am gleichen Tage am Sandweg aus einem Hause heraus einer mörderischen Kugel zum Opfer fiel, und 3 weitere Tote, über deren Tod erst jetzt Näheres bekannt wird: Kaufmann Bierwirth, Markusstraße 77, stand im Laden seines Vaters, eines Brothändlers, als am Sonnabendabend der Sturm auf die Schule in der Markusstraße erfolgte. Eine Kugel streifte die Nase des alten Bierwirth und traf dann den Sohn an der linken Schläfenseite, um rechts aus  dem Kopfe wieder herauszutreten und dann die Holzausläufer im Laden zu durchschlagen. Bierwirth sank tot zu Boden. Als sechstes Opfer fiel in der Nacht vom Sonnabend zum Sonntag der in der Erichstr. 38 wohnende, 35 Jahre alte Arbeiter Gustav Harms, der beim Kampf um die Davidstraßen-Wache in der Nähe stand. Der 53 Jahre alte Arbeiter Hackbarth, Jackobstraße 32 wohnend, fiel an der Ecke des Nobistores, als die Aufrührer dort zurückgeschlagen wurden. Dort mußte auch der 37 Jahre alte Arbeiter Ulbricht, Große Frecheit 33, Altona, bei der gleichen Gelegenheit sein Leben lassen. Als neuntes Opfer lief heute nacht das unter Sittenkontrolle stehende Mädchen auf der Reeperbahn.

Im Krankenhaus befindet sich auch der schwer verletzte Portier Timm, der am Sonntag abend auf der Reeperbahn einen Schuß durch den Unterschenkel erhielt, desgleichen der Maschinenbauer Zander und der Musketier Bedarf, der durch einen Gesäßschuß schwere Verletzungen erlitten hat.

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In Altona ist die Nacht verhältnismäßig ruhig verlaufen. Einzelne Versuche der Straßenräuber, über die Stadtgrenze zu dringen, mißlangen dank der Wachsamkeit der Polizei; nur in einem Falle konnten die Spitzbuben bis zum Grund vordringen, wurden jedoch schnell wieder zerstreut.

Das Gerede, wonach der Altonaer Hauptbahnhof Angriffspunkt des Pöbels gewesen sein sollte, ist müßig. Es ist aber Vorsorge getroffen, daß ein etwaiger Angriff im Keime erstickt werden kann: Das Bahnhofsgebäude ist sehr strenge bewacht, und die aufgestellten Maschinengewehre müssen es den Banden ratsam erscheinen lassen, die Hände davon zu lassen.

• Neue Hamburger Zeitung, 23. April 1919

Der Hamburger Anzeiger berichtete wie folgt:

Am Nobistor fuhr gestern nachmittag gegen 2 Uhr ein Automobil mit einer weißen Flagge, dessen Insassen Gewehre an Zivilisten verteilten. St. Pauli und Nebenstraßen durchziehen Trupps von 200—500 bewaffneten Spartakisten, die die Passanten anhalten und ausplündern. Etwa 50 bewaffnete haben sich des Kleiderdepots am Paulinenplatz bemächtigt. 30 Bewaffnete drangen in das Pferdelazarett am Neuen Pferdemarkt ein, das sie besetzten. Bewaffnete Spartakisten durchziehen auf vier großen Lastautos St. Pauli und Eimsbüttel und versuchen, sich in den Besitz der Polizeiwachen zu setzen. Wache 15 in der Margarethenstraße ist von ihnen besetzt worden. Bei dem Kampf um die Margarethenstraßen-Wache drang eine Kugel einem Jungen in den Kopf. Das schwer verletzte Kind wurde ins Hafenkrankenhaus geschafft, starb aber bald nach seiner Einlieferung. Nachdem die Wache in der Margarethenstraße genommen worden war, zog die Bande zur Fruchtalle-Wache. Als die Aufrührer hier eindrangen, kamen die Sicherheitswachleute heran und es entstand ein schweres Feuergefecht, bei dem auch Handgranaten geworfen wurden. Auf beiden Seiten gab es Leichtverletzte, die der Spartakisten wurden von diesen wie stets mitgenommen. Zu einem weiteren schweren Gefecht kam es am Sandweg. Auf dem Wege zu einer anderen Wache blieb ein Anto der Spartakisten auf der Straße stecken. Sicherheitswachmannschaften rückten an und es kam zu einem schweren Feuerkampf. Dabei wurde ein Sicherheitswachmann erschossen. Aus einem Hause heraus ist die Kugel abgefeuert worden; eine Durchsuchung des Hauses nach dem Täter blieb erfolglos. Es wurden aber zwei der Aufrührer verhaftet und ins Stadthaus geschafft.

Gegen Abend erschienen vor den Kasernen in der Bundesstraße mehrere Banden, die die Kasernen zu stürmen versuchten.

Sie wurden aber zurückgewiesen und stellten ihr Beginnen ein, als sie sahen, daß Maschinengewehre in Stellung gebracht wurden. Die Straßenzugänge zu den Kasernen wurden für den Abend und die Nacht gesperrt, an allen Straßenecken zogen starke Posten mit Maschinengewehren auf.

In St. Pauli kam es im Laufe des Nachmittags wieder zu verschiedenen Zusammenstößen. In einem Falle wurde ein Sicherheitswachmann von einer Kugel getroffen. Ein Sanitäter, der ihm Hilfe leisten wollte, wurde mit vorgehaltenem Revolver von der Menge daran gehindert. Dann gossen die entmenschten Leute dem verwundeten Säure ins Gesicht. Glücklicherweise nahte eine große Patrouille von Sicherheitswachleuten, die den bedrängten Kameraden aus den Händen des Mobs befreite und für seinen Transport ins Hafenkrankenhaus sorgte. Auf seiten der Angreifer gab es auch in St. Pauli wieder zahlreiche Verletzte, die aber mitgeschleppt wurden und dadurch der Festnahme entgingen. Dagegen gelang es, fünf Personen zu verhaften, die ebenfalls in St. Pauli aufrührerische Reden hielten, die sich gegen die Sicherheitswachmannschaften richteten. In die Wohnung des am ersten Osterfeiertage erschossenen Wachtmeisters Möhring drangen zwei Leute, einer in Marineuniform, der andere in feldgrau, und plünderten die Wohnung aus.

In der gestrigen Versammlung des Grundeigentümer-Vereins stellten die Grundeigentümer der Marcusstraße den Antrag, der Vorstand möge vorstellig werden, daß die Sicherheitswache aus der Marcusstraße zurückgezogen werde, weil ihr Vorhandensein durch die ständigen Kämpfe das Grundeigentum ganz bedenklich schädige.

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Nach einem WTB.-Bericht tragen wir noch nach, daß die Spartakisten bei der Schießerei am Sandweg 6 Tote und 3 Schwerverletzte, die Sicherheitsmannschaften 1 Toten und wenige Verwundete hatten.

Ferner legt die Feuerwehr Wert darauf, bekannt zu geben, daß sie bei Plündereien und Schießereien keinen Schutz gewährt. Ihre Ausgabe ist es, Feuer zu löschen und bei Unglücksfällen (Hauseinsturz, Explosionen, Verschüttungen, Verkehrshindernissen usw.) Hilfe zu leisten. Bei Diebstählen und ähnlichen- Vorkommnissen einzugreifen, ist Polizeisache.

• Hamburger Anzeiger, 23. April 1919

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Hamburg im Belagerungszustand.

In St. Pauli sind 1500 Sicherheitsmannschaften und Soldaten des 76., 31. sowie der Bahrenfelder und Wandsbeker Regimenter zusammengezogen worden, um den Schutz des Eigentums zu gewährleisten. Geschütze, Maschinengewehre und Minenwerfer sind vor dem Hauptangriffszentrum, der Wache an der Davidstraße, in Stellung gebracht. Die Reeperbahn ist in der Richtung nach Altona abgesperrt worden, der Verkehr darf sich nur vom Nobistor nach Hamburg bewegen. Alle Zugänge zur Reeperbahn durch die Seitenstraßen sind durch Drahtverhaue abgesperrt. Im Laufe des Vormittags waren starke Polizeiaufgebote in St. Pauli tätig, in den verschiedensten Straßen verdächtige Häuser nach Waffen zu durchsuchen. Viele Waffen wurden gefunden, beschlagnahmt und auf Lastwagen ins Stadthaus geschafft. Die Herberge in der Talstraße ist geschlossen worden, dort wurde eine starke Militärwache eingerichtet. Außerdem wurden verschiedene Restaurationen für militärische Zwecke in Anspruch genommen und dort Wachen eingerichtet, um die starken Verstärkungen unterzubringen. Das Hauptquartier für die Kommandantur Groß-Hamburg und die andern Stäbe befindet sich der Davidstraßenwache gegenüber, im Hotel Stein. Zahreiche Verhaftungen von Personen, die sich verdächtig machten, erfolgten gestern abend, im Laufe der heutigen Nacht und heute vormittag; bei vielen von ihnen wurden auch Waffen gefunden. Wenn auf Aufforderung die Wohnungen nicht geöffnet werden, machen die Patrouillen von ihrer Schußwaffe Gebrauch. Eine große Anzahl Mädchen, die St. Pauli zu einem Bummel ausersehen hatte, wurde festgenommen und der Davidstraßenwache übergeben. Heute morgen wurden sie mit einem großen Lastauto zum Stadthaus gebracht. Dabei ereignete sich, damit auch der Humor zu seinem Rechte kommt, eine hübsche Szene. Eine junge Dame, die Besorgungen in der Stadt zu machen hatte, sah das Auto, glaubte, es sei ein zur Personenbeförderung bestimmter Wagen und kletterte seelenvergnügt hinauf. Auf der Fahrt zum Stadthaus fielen dem Fräulein bereits die schlüpfrigen Gespräche der Geschlechtsgenossinnen auf und als sie sich ängstlich an einen der Transporteure wandte, stellte sich bald das Mißverständnis heraus. Die junge Dame wird an diese Freifahrt durch die Stadt noch lange denken. Unter den Verhafteten befindet sich auch eine ältere Frau, die gegen die Sicherheitsmannschaften aufrührerische Reden an Publikum hielt.

Im Laufe der Nacht versuchten mehrere Banden von Aufrührern die Polizeiwache 23 Am Markt in Barmbeck und die Hafenwache 9 zu stürmen. Die heranziehenden Massen waren rechtzeitig gemeldet worden, so daß sie beim Eintreffen vor den Wachen durch herangezogene Verstärkungen abgewehrt werden konnten. In mehreren Fällen wurden gestern abend Personen, die nach 9 Uhr auf der Straße waren, von Plünderern angehalten und gefragt, ob sie sich im Besitz von Ausweisen befänden, die das Betreten der Straßen gestatten. Bejahten die Angeklagten diese Frage, dann wurden ihnen die Ausweise abgenommen und sofort zerrissen. Fünf Leute, von denen drei Zivilisten, einer in Marineuniform und der letzte feldgrau gekleidet waren, überfielen am Schlump einen Sicherheitswachmann, hielten ihm Gewehr und Revolver vor und durchsuchten ihm dann seine Taschen. Seine Brieftasche mit sämtlichen Ausweispapieren wurde ihm abgenommen. In verschiedenen Stadtgegenden wurde im Laufe der Nacht Schüsse gehört. Diese hatten nur den Zweck, Ansammlungen und Einbrecher zu verscheuchen.

Lokales. Hamburg, 24. April.

Einwohnerwehr!

Alle Einwohner, die bereit sind, auf Grund des Aufrufs in die Einwohnerwehr einzutreten, werden gebeten, sich baldigst an nachstehenden Stellen in die Wehrlisten einzuschreiben:

  • Für Horn, Hamm, Hammerbrook und Borgfelde, Hammerdeich 57.
  • Für Eilbeck und Barmbeck-Süd: von Essenstraße 32.
  • Für Uhlenhorst: Schillerstraße, Turnhalle.
  • Für Barmbeck-Nord: Steilshoperstraße 2.
  • Für Winterhude: Ulmenstraße VI.
  • Für St. Georg, Hohenfelde: Große Allee, Hotel Schadendorf.
  • Für Altstadt und Neustadt, St. Pauli-Süd: Stadthaus.
  • Für St. Pauli-Nord, Nothorvaum: Kaserne 76.
  • Für Eimsbüttel: Eidelstedterweg. Park-Hotel.
  • Für Harvestehude und Eppendorf: Rothenbaum-Chaussee 7.
  • Für Altona-Nord: Kaserne 31.
  • Für Altona-Süd, Ottensen: Palinaille 63-65.
  • Für Bahrenfeld: Kaserne Fuß-Art. 20.
  • Für Wandsbek: Geschäftszimmer der Frewaba, Husarenkaserne.

Sobald eine Uebersicht über die Zahl der Meldungen vorliegt, wird jedem, der sich gemeldet hat, mitgeteilt werden, welcher Alarmabteilung er angehört. Hierbei wird jeder möglichst in der Umgebung seiner Behausung tätig sein.

Alsdann werden die Mitglieder der Einwohnerwehr zu einer kurzen Versammlung eingeladen werden, bei der die Führerwahl, Ausgabe der Waffenscheine und Vorbesprechungen stattfinden.

Als Unterstützung der Volkswehr-Abteilungsführer treten Vertrauensleute aller Berufskreise zu ihnen. Sie versehen diesen Dienst ehrenamtlich.

Meldungen von Personen, die bereit sind, in Betrieben und Vereinen oder von Haus zu Haus zu werben, sind willkommen und können bei den oben genannten Stellen erfolgen.

Lamp’l. Kommandant von Groß-Hamburg.

* * *

Endlich sind wir so weit! Der hamburgische Senat, die Magistrate von Altona und Wandsbek, der Kommandant von Groß-Hamburg und der Kommandantur-Soldatenrat haben einen Aufruf an die Einwohnerschaft Groß-Hamburgs zur Bildung einer Einwohnerwehr erlassen. Die unerhörten Vorgänge der Ostertage haben den Entschluß zuwege gebracht; es gilt, den selbstverständlichen Weg zu beschreiben, sich einmütig gegen Verbrecherbanden zu bewaffnen und zur Wehr zu setzen. Noch schöner wäre es, wenn sich ein kleiner Haufen arbeitsscheuen Lumpengesindels herausnehmen dürfte, ein großes Gemeinwesen dauernd zu beunruhigen, in seinen Arbeiten zu stören, in seinem Eigentum und Leben zu schädigen! Ein Gemeinwesen, das sich das gefallen ließe, müßte völlig desorganisiert und heruntergekommen sein. (…)    H.

Die Wirkung des Belagerungszustandes.

Die Verhängung des Belagerungszustandes über Hamburg hat wenigstens gestern zunächst Ruhe geschafft. Abgesehen von kleineren Zusammenstößen in St. Pauli und vor kleineren Polizeiwachen, die ohne jede Bedeutung waren, haben sich keine Ruhestörungen ereignet. Wo immer sich unruhige Elemente zeigten und die sofort alarmierten Sicherheitsmannschaften auf dem Feuerwehrauto nahten, ergriffen die Plünderer die Flucht vor der bewaffneten Macht.

Da um 8 Uhr bereits die Polizeistunde vorgeschrieben war, mußten auch die Theater und Kinos wie alle anderen Lokale um diese Zeit schließen. Einige Theater begannen bereits um 5 Uhr mit den Vorstellungen, andere und viele Kinos, die sich noch nicht auf den frühen Beginn einrichten konnten, blieben geschlossen. Für heute ist in allen diesen Stätten der Beginn auf 5 Uhr bzw. 5 1/4 oder 5 1/2 Uhr angesetzt worden.

In der Zeit von 8 Uhr ab sah man alle Menschen den heimischen Penaten zustreben, denn um 9 Uhr mußte jeder in seiner Wohnung sein, da das Betreten der Straße nach dieser Zeit verboten und nicht ohne Gefahr war. Es wurden bis jetzt über 100 Personen wegen Plündern, Beraubung von Passanten und Aufruhrs verhaftet, von denen 81 im Laufe des gestrigen Tages dem Fuhlsbütteler Gefängnis zugeführt wurden.

In Altona

ist, da man vermuten muß, daß das Straßengesindel den Schauplatz seiner Taten auf Altona ausdehnen werde, Vorsorge getroffen worden, diesen Plan zuschanden zu machen. Der Grund ist mit Drahtverhau abgesperrt worden, der Passantenverkehr nach Hamburg wird streng geregelt.

• Hamburger Anzeiger, 24. April 1919

 *

Hamburg im Belagerungszustand.

Seit Ausbruch der Unruhen hat die Niederwerfung der aufrührerischen Elemente im ganzen 12 Tote gekostet. Zu den bereits gemeldeten neun Toten sind in den letzten Tagen drei weitere Opfer gekommen, von denen zwei bestimmt als Unbeteiligte anzusehen sind. Inzwischen ist auch der am Sandweg erschossene Sicherheitswachmann erkannt worden. Es ist der am Lehmweg 33 wohnende Karl Tellkamp. Das 10. Opfer ist der 33 Jahre alte Kellner Colberg, wohnhaft Jägerstr. 15, Haus 6, der von der Arbeit kommend seine Wohnung aufsuchen wollte und durch einen Kopfschuß schwer verletzt wurde. Man brachte ihn ins Israelitische Krankenhaus, doch ist er dort bald nach seiner Einlieferung gestorben. Das elfte Opfer ist der 23 Jahre alte, in der Rosenhofstraße wohnende Artist Teschen. Er besuchte einen Künstleragenten in St. Pauli und wurde durch einen Kopfschuß auf der Stelle getötet. Die Leiche kam ins Hafenkrantenhaus. Im zwölften Falle handelt es sich um die in der Bernhardstraße 23 wohnende 20jährige Arbeiterin Ellrich, die durch einen Brust- und Armschuß getötet wurde.

Außerdem haben die Sicherheitsmannschaften

                   sechs Plünderer auf der Stelle erschossen,

die mit der Waffe in der Hand angetroffen wurden und sich gegen die bewaffnete Macht wandten. Es mußte hier ein warnendes Exempel statuiert werden.

Die letzte Nacht verlief allgemein ruhig. Vielfach wurden in der St. Pauli-Gegend Schüsse abgegeben, es handelte sich aber in allen Fällen nur um Schreckschüsse, die namentlich in der Nähe der Altonaer Grenze bis gegen Mitternacht zur Aufrechterhaltung der Ordnung erforderlich waren. Immer waren kleine Ansammlungen von Menschen zu bemerken, die, wenn Schreckschüsse fielen, sofort auseinandergingen, so daß ernstlich nirgendwo eingeschritten zu werden brauchte.

Eine große Anzahl Verhaftungen wurde wieder vorgenommen. Unter den Festgenommenen befinden sich auch drei Frauen. Teilweise sind es Leute, die sich den Anordnungen nicht fügen wollten, aber auch verschiedene Plünderer konnten in sicheren Gewahrsam gebracht werden. Darunter ein besonders schwerer Junge in Feldgrau, dem nachgewiesen werden kann, daß er sich zweimal an Ueberfällen auf Zahlmeister, mit denen bekanntlich der Aufruhr begann, schuldig gemacht hat. In einem Falle hat er über 10 000 Mk. erbeutet. Außerdem war er der Anführer einer Räuberbande, die in St. Pauli Restaurants und Kaffeehäuser überfiel und unter Androhung von Gewalt Speisen und Getränke erpreßte. Ein anderer Verhafteter ist erkannt als einer von denen, die auf Schutzleute geschossen haben. Er hat auch eine Anzahl Frauen bei dem Sturm auf das Hüttengefängnis befreit. Im Besitz eines anderen Festgenommenen fand man eine große Anzahl falscher oder gestohlener Meldescheine; mit diesen erschwindelte sich der Bursche Brotkarten, die er in Herbergen für teures Geld verkaufte.

p. In Altona bildete sich Donmerstag nachmittag gegen 6 Uhr auf dem Rathausmarkt eine Ansammlung von zweifelhaften Elementen. Als man den Aufforderungen der Wachmannschaften zum Auseinandergehen nicht Folge leistete, wurden einige Schüsse abgegeben. Dadurch wurde ein Zigarrettenarbeiter am rechten Oberschenkel verletzt. Die Menge zerstreute sich darauf.

In Bahrenfeld ereignete sich eim bedauerlicher Unfall: Am Donnerstag abend war  gemeldet worden, daß 100 bis 150 Spartacisten im Anzuge seien. Daraufhin wurden die Truppen sofort alarmiert. Ein Maschinengewehr gab einige Probeschüsse ab und verletzte dabei einen Wachtmeister an der Backe. Die signalisierten Spartacisten ließen sich nicht sehen.

• NHZ, 25. April 1919

*

Die Säuberung Hamburgs.

Das Gängeviertel im Drahtverhau.

Gestern wie in St. Pauli ist heute im Laufe der Nacht unerwartet und in aller Stille eine Besetzung des Gängeviertels der Neustadt erfolgt, in dem ja seit langer Zeit ebenfalls viel Gesindel Unterschlupf gefunden hat. Zwischen Holstenplatz, Hütten, Zeughausmarkt, Neuer Steinweg, Groß-Neumarkt, Alter Steinweg und Kaiser-Wilhelmstraße sind sämtliche Zugänge zu den Gängen durch Drahtverhaue abgesperrt worden, die von Pionieren gezogen wurden.

Geschütze, Maschinengewehre und Minenwerfer sind am Holstenplatz aufgefahren. 1500 Soldaten sind bei der Absperrung tätig. Einige hundert Kriminalbeamte und Sicherheitsleute begannen schon in aller Frühe mit einer Durchsuchung sämtlicher Häuser nach Waffen. Bei dieser Durchsuchung wurde eine große Zahl Leute verhaftet, die sich unangemeldet im Gängeviertel aufhielt, und viele Leute, die sich nicht ausweisen konnten. Darunter auch einige, die als Anführer von Plündererbanden schon seit mehreren Tagen gesucht werden. Als die Bewohner des Gängeviertels heute morgen erwachten, fanden sie sich eingeschlossen in einem kleinen Festungsbereich. Nur an den Seiten war ein schmaler Durchgang gelassen worden; wer passieren wollte, mußte sich ausweisen, daß er dort wohnt. Selbst die Zugangsstraßen, wie die Düsternstraße usw., sind gesperrt; wer dort geschäftlich zu tun hat, kann nur nach gehörigem Ausweis passieren.

Auch der Anführer, der am Dienstag nachmittag den Sturm auf die Kasernen leitete, ist bei dieser Razzia erwischt und verhaftet worden. In seinem Besitz fand man geladene Waffen und einen Sack voll Munition. In seiner Wohnung in der Speckstraße wurde der Malermeister Heider verhaftet, der früher bei den Sicherheitsmannschaften als Wachführer tätig war. Er wird in Kreisen seiner früheren Kameraden als Verräter bezeichnet, der den ersten Putsch auf das Stadthaus im Januar leitete, bei dem die Waffen geraubt wurden. Er wird auch als der Anführer bei dem Sturm auf die Wachen 10 und 13 am Ostersonnabend bezeichnet. Heider hatte einen großzügigen Plan entworfen, der mit der Festsetzung Lehmkuhls und anderer Bevollmächtigter als Geiseln eingeleitet werden sollte. Er hatte, wie einwandfrei nachgewiesen ist, bereits einen neuen Putsch vorbereitet.

Das Hauptquartier für die Absperrung des Gängeviertels befindet sich in Hüttmanns Hotel an der Ecke von Holstenplatz und Poolstraße. Die einzelnen Mannschaften sind auf die Gastwirtschaften der verschiedenen Straßen in der Neustadt verteilt, um mit warmer Kost versehen zu werden. Mehrere Autos, voll mit Gefangenen aus dem Gängeviertel, sind bereits im Sdadthaus eingetroffen, außerdem wurde wieder sehr viel Diebesgut gefunden.

Vielfache Schießereien in allen Stadtteilen im Laufe des gestrigen Abends und der Nacht hatten den Zweck, Leute, die nach 10 Uhr noch Licht brannten, zu warnen und sie zu veranlassen, das Licht zu löschen. Zwischen 10 und 11 Uhr gestern abend erfolgte auf dem Rathausmarkt eine kleine Ansammlung, sodaß Verstärkung vom Stadthaus erbeten wurde. Mehrere Leute, die im Besitz von Revolvern waren, wurden festgenommen und in die Wache gebracht. Damit war der Auflauf beendet, und die Verstärkungen brauchten nicht einzuschreiten. Weitere Schießereien bezweckten in allen Stadtgegenden Einbrecher zu verscheuchen und Ansammlungen zu zerstreuen.

50 Sicherheitsleute hoben in der Lincolnstraße eine Spielhölle aus. Als die festgenommenen Spieler, etwa 30 Personen, zur Wache 13 geführt wurden, schossen unbekannte Täter aus Fenstern heraus vielfach auf den Zug. Das Feuer wurde von den Truppen kräftig erwidert. So weit bekannt geworden ist, sind bei dieser Schießerei Verletzungen nicht vorgekommen.

• NHZ, 26. April 1919 (Abendausgabe, Sonnabend)
Kopf der 7. Ausgabe des Alarm (vierte Ausgabe im April 1919)

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Die Säuberung Hamburgs.

Neuerdings wurden aus der gesperrten Neustadt und St. Pauli 375 Personen verhaftet; darunter befinden sich viele Schwerverbrecher, die schon seit einiger Zeit von den Behörden gesucht werden. Es befinden sich dabei auch mehrere Leute, die von außerhalb verfolgt werden und namentlich im Gängeviertel Unterschlupf gefunden haben.

Eine große Menge Diebesgut und Waffen ist beschlagnahmt worden. Auf große Lastautos wurden die beschlagnahmten Massen verladen und einstweilen im Stadthaushof aufgestapelt.

Zu Ruhestörungen ist es im Laufe des Sonnabends nicht gekommen. Eine Horde unlauterer Elemente stattete der Druckerei des Klugschieter am Neuen Steinweg einen Besuch ab, schleppte die fertig gedruckten Exemplare auf die Straße und errichtete einen großen Scheiterhaufen, der angezündet wurde, so daß alle Blätter verbrannten.

• NHZ, 27. April 1919 (Morgenausgabe, Sonntag)

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Aufhebung des Belagerungszustandes.
Der am 23. April 1919 durch die Kommandantur Groß-Hamburg über Hamburg, Altona und Wandsbek verhängte Belagerungszustand wird am 30. April 1919, mittags 12 Uhr, aufgehoben.
Sämtliche, während der Zeit des Belagerungszustandes ausgestellten, besonderen Ausweise werden hiermit für ungültig erklärt.
Lamp’l,
Kommandant von Groß-Hamburg.
Wrede,
Kommandantur-Soldatenrat.

Hamburger Anzeiger, 30. April 1919
Straßensperre auf St. Pauli – Drahtverhau und Militärpatrouille

Eine logische Konsequenz sind die im Juni 1919 folgenden „Sülze-Unruhen“ und die Besetzung Hamburgs durch den Afrika-Schlächter Lettow-Vorbeck.

Stadtplan-Ausschnitt Altona-St.Pauli-Neustadt 1920

*

Anhang:

Löhne und Arbeitszeiten

Metallarbeiter: Stundenlöhne zwischen 1,60-2,20 Mk. (HA, 17.4.1919)

—n. Die Löhne der Mühlenarbeiter sind nach längeren ergebnislos verlaufenen Verhandlungen durch einen Schiedsspruch des Schlichtungsausschusses wie folgt festgelegt worden: Für Müller 95 Mk., für Arbeiter 90 Mk., und für Arbeiterinnen 50 Mk. die Woche. Der Schiedsspruch wurde von den beteiligten Parteien anerkannt. (HA, 22.4.1919)

Die Angestellten des Hamburgischen Arbeitsamtes haben allen Grund zur Unzufriedenheit, wenn die folgenden, uns vom einem Leser unseres Blattes eingesandten Ausführungen allgemein zutreffend sind. Unser Gewährsmann schreibt uns:

Erwerbslose erhalten nach den neuen Tagessätzen an Erwerbslosenunterstützung: 7.50 Mk. für den Ehemann, 4 Mk. für die Ehefrau, das macht zusammen 11.50 Mk. täglich oder 299 Mk. monatlich (26 Werktage). Außerdem trägt das Hamburgische Arbeitsamt die Beiträge für die Krankenversicherung.
Angestellte des Hamburgischen Arbeitsamts erhalten dagegen, wenn sie verheiratet sind, 12.30 Mk. täglich, das macht für 26 Werktage (Sonntage werden ebenfalls nicht bezahlt) monatlich 319.80 Mk. Davon sind abzuziehen für Reichsversicherung, Krankenkasse und Invalidenversicherung 21.30 Mk., so daß nur monatlich 298.50 Mk. als Einkommen verbleiben.
Noch wesentlich ungünstiger gestellt sind Angestellte mit Kindern. Erwerbslose Familienväter erhalten für die Folge pro Kind und Tag 2 Mk.; ein Angestellter des Hamburgischen Arbeitsamtes pro Kind und Tag nur: 1.50 Mk. ausbezahlt. Ein Angestellter mit 2 Kindern erhält also für die 26 Tage weitere 26 Mk. weniger als ein Erwerbsloser.“

—n. Ein verschärfter Lohnkampf im Stellmachergewerbe, der, wenn keine Einigung bis Sonnabend erzielt wird, am Montag zur Arbeitseinstellung führen soll, steht bevor. Die Arbeitgeber hatten sich bereit erklärt, den Lohn ab 1. Mai von 1,80 M. auf  2,00 M. für die Stunde zu erhöhen. In einer Versammlung der Gesellen wurde ein Stundenlohn von 2,50 M. für Stellmacher und 2,70 M. für Kastenmacher und Einführung einer Arbeitszeit von wöchentlich 46 Stunden gefordert. Dieser Beschluß soll der Innung und den Arbeitgebern nochmals unterbreitet werden. (HA, 25.4.1919)

Die Tarifvereinbarungen im Baugewerbe sind, wie in einer Mitgliederversammlung des Deutschen Bauarbeiterverbandes bekanntgegeben wurde, mit folgender Grundlage zum Abschluß gekommen: 1. Die normale Arbeitszeit beträgt bei Lohn- und Akkordarbeit 8 Stunden. An den Sonnabenden ist in der Zeit vom 16. Februar bis 31. Oktober nachmittags eine halbe Stunde, an den Tagen vor Weihnachten, Ostern und Pfingsten zwe:i Stunden früher Feierabend ohne Lohnabzug. Ueberstunden-, Nachtarbeit, sowie Arbeit am Sonn- und Festtagen dürfen nur gefordert und geleistet werden bei Gefahr von Menschenleben oder bei Verkehrsstörungen und sind mit dem entsprechenden Lohnaufschlag zu bezahlen. Der Stundenlohn beträgt für gelernte Arbeiter wie Maurer, Zimmerer, Steinträger usw. 2.40 Mk., für Bau- und Betonhilfsarbeiter 2,30 Mk. Die Vereinbarungen gelten rückwirkend ab 1. April für ein Jahr. (HA, 28.4.1919)

—n. Zur Lohnbewegung der Hafenarbeiter nahm eine vom Transportarbeiterverband einberufene Versammlung aller Branchen Stellung. Hähnel teilt, mit, daß der Hafenbetriebsverein sich bereit erklärt habe, auf die bisherigen Teuerungszulagen einen Zuschlag von 1.50 Mk. pro Tag und für Ueberstunden eine Lohnerhöhung von 25 Prozent zu gewähren. Ueber die übrigen Forderungen seien keine Vereinbarungen getroffen. Nach einer lebhaften Aussprache, in der die Zugeständnisse allgemein als unannehmbar bezeichnet wurden, lehnte die Versammlung die vom Hafenbetriebsverein gemachten Vorschläge einmütig ab und beschloß, die Forderung der Erhöhung der Teuerungszulagen um sechs Mark täglich unter allen Umständen zur Durchführung zu bringen.

—n. Eine teilweise Arbeitseinstellung im Holzgewerbe ist gestern dadurch erfolgt, daß die Einigungsverhandlungen in Stellmachergewerbe, über die wir bereits berichtet haben, gescheitert sind. (HA, 30.4.1919)

Zur Lohnbewegung der Hafenarbeiter.
—n. In der Angelegenheit der Hamburger Hafenarbeiter hat der Schlichtungsausschuß am Mittwoch seinen Spruch gefällt. Es soll den Arbeitern zu den bisherigen Teuerungszulagen noch eine Zulage von 3.60 Mk. gewährt werden, so daß sie im ganzen eine tägliche Zulage von 12.60 Mk. erhalten. Der Tagesverdienst würde sich damit auf 18 Mk. erhöhen. Für Ueberstunden würde dann einschließlich des Zuschlages von 33 1/3 Prozent ein Lohn von 3 Mk. zu zahlen sein. Die Vertreter der Arbeiter erklärten aber, diese Sätze nicht ohne weiteres annehmen zu können, sondern erst die Entscheidung ihres Verbandes abwarten zu müssen. (HA, 2. Mai 1919)

* * *

Hinweis: sämtliche kursiv gesetzten Textteile sind in den Originalbeiträgen  g e s p e r r t  gesetzt. Die Texte sind der neuen deutschen Rechtschreibung nicht angepasst worden.

Replik – Gegendarstellung von Doris Ensinger gegen V. Bianchi

Replik

In dem in „Arbeit.Bewegung.Geschichte – Zeitschrift für historische Studien“ (2018/1) veröffentlichten Artikel von Vera Bianchi mit dem Titel „Feminismus in proletarischer Praxis: Der ‚Syndikalistische Frauenbund‘ (1920 bis 1933) und die ‚Mujeres Libres‘ (1936 bis 1939)“ werde ich namentlich mit folgender Aussage erwähnt: „Bis heute gibt es HistorikerInnen, die die Existenz von Sexismus in der anarchistischen Bewegung in der Zwischenkriegszeit negieren. So spricht Doris Ensinger den Mujeres Libres jede Existenzberechtigung ab, da es in der CNT weder Sexismus noch Paternalismus gegeben habe, obwohl Mary Nash und Martha A. Ackelsberg deren Vorhandensein ausdrücklich belegen.“

Ich möchte hiermit klarstellen, dass ich zu keinem Zeitpunkt die Existenzberechtigung der Mujeres Libres infragegestellt habe. Ebenso wenig bezweifle ich die Forschungsergebnisse anerkannter feministischer Autorinnen und habe auch nie paternalistisches oder machistisches Verhalten in der anarchosyndikalistischen Bewegung bestritten. Allerdings erlaube ich mir, Aussagen zu kritisieren, die nicht der historischen Wahrheit entsprechen. Bianchis Aussage ist völlig absurd und eine Verdrehung dessen, was ich tatsächlich sagte, eine infame Lüge.

Ich lebe seit 1977 in Barcelona, wo ich durch meine politischen Aktivitäten sowie über zahllose CNT-Aktivisten der älteren wie der jüngeren Generation Kenntnisse über Bürgerkrieg und Anarchismus erwarb. Selbstverständlich gab es Macho-Verhalten bei manch einem Genossen, das auch ich zu spüren bekam, die Organisation pauschal als sexistisch zu charakterisieren ist jedoch falsch und zudem unwissenschaftlich. Die Mujeres Libres blieben mir natürlich nicht fremd. Über ihr Wirken erfuhr ich durch das 1973/74 entstandene Buch „Mujeres Libres“ von Mary Nash sowie über Veranstaltungen zu dieser anarchistischen Frauengruppe. Zu Beginn der 1980er Jahre lernte ich u.a. Pepita Carpena kennen, die immer wieder zu einem Kongress oder zu sonstigen Veranstaltungen der CNT nach Barcelona kam. Die mir unterstellte Aussage, ich würde diesen Frauen die Existenzberechtigung absprechen, entbehrt folglich jeder Grundlage.

Wie kommt die Autorin des genannten Artikels zu einer solchen Behauptung?

Im April 2016 stellte ich mein Buch* im Rahmen der Veranstaltungsreihe „80 Jahre Soziale Revolution in Spanien“ in Hamburg vor. Bei dieser Präsentation war auch V. Bianchi anwesend und erwarb ein Exemplar meines Buches, wie mir später mitgeteilt wurde. In der Vorankündigung der Veranstaltungen wurde die Präsentation ihrer Magisterarbeit zum Thema Mujeres Libres sinngemäß mit den Worten eingeleitet: „Aufgrund des Sexismus der CNT beschlossen einige Frauen …“. Es war allein diese Formulierung, die mich neugierig auf die Veranstaltung machte. Und was ich schließlich zu hören bekam, war in vielen Punkten hanebüchen und zeugt von einer absoluten Unkenntnis der spanischen Gesellschaft und der Geschichte der CNT, ohne die die Geschichte der Mujeres Libres gar nicht erzählt werden kann. Der Vortrag bedeutete in wesentlichen Punkten eine klare Geschichtsklitterung, da Bianchi bei vielen Aspekten die Ereignisse nicht angesichts des kulturellen und sozialen Hintergrunds der damaligen Zeit analysiert und referiert, sondern immer wieder von ihrer Sichtweise und heute gängigen Vorstellungen ausgeht, was automatisch zu Entstellungen und Verfälschungen führt, worauf ich schließlich reagierte.

Was ich in Wirklichkeit in Hamburg sagte – denn das ist das einzige Mal, dass ich mich öffentlich zu diesem Thema äußerte – und was mich zu dieser Gegendarstellung gezwungen hat, da ich öffentlich diskreditiert und diffamiert werde, war Folgendes:

Mein erster Einwurf war, dass eine Organisation wie die CNT als Ganze nicht als ‚sexistisch‘ bezeichnet werden kann und dass eine Analyse Jahrzehnte zurückliegender Ereignisse nicht von heute üblichen Maßstäben und Wertvorstellungen ausgehend vorgenommen werden kann. Ebenso können heute gebräuchliche Termini nicht einfach auf Ereignisse früherer Zeiten übertragen werden, da automatisch falsche Assoziationen hervorgerufen werden. Sexismus ist ein Terminus, der Mitte der 1960er Jahre in Amerika aufkam und später ins Deutsche übernommen wurde. „Sexismo“ ist inzwischen auch in Spanien gebräuchlich, ist aber kein Synonym von „machismo“, ein Terminus, der längst in die deutsche Sprache eingegangen ist bzw. mit Machoverhalten wiedergegeben wird. „Machismo“ ist das überlegene, herablassende Verhalten der Männer gegenüber Frauen, demgegenüber bedeutet „sexismo“ im Wesentlichen die Verachtung des anderen Geschlechts (der personifizierte Sexist ist D. Trump), und das heißt, auch Frauen können sich sexistisch verhalten. Im Übrigen gab es etliche Anwesende im Publikum, die mir in diesem Punkt beipflichteten, allerdings kritisierte keiner der Genossen den männerfeindlichen und CNT diffamierenden Vortrag.

Mary Nash differenziert übrigens, indem sie von einer Mehrheit der Aktivisten spricht, die eine paternalistische Haltung an den Tag legten, es ist nie die Rede von der CNT oder der Libertären Bewegung insgesamt. Zumindest in ihren frühen Publikationen taucht der Terminus Sexismus nicht auf, weil er in Spanien ja noch gar nicht existierte. Sie verwendet Bezeichnungen wie „autoritarismus“, „prejuicios machistas“ (machistische Vorurteile), „hostilidad“ (Anfeindung), „animosidad“ (Abneigung). Die Mujeres Libres als Anarcho- oder Anarchafeministinnen zu bezeichnen, was sich inzwischen durchgesetzt hat, ist meiner Meinung nach ebenfalls falsch, da sie sich stets ausdrücklich dagegen verwehrten, als Feministinnen bezeichnet zu werden. Sie wollten sich klar von den ihrer Ansicht nach bürgerlichen Feministinnen und den Frauengruppen linker Parteien abgrenzen, die hauptsächlich, vor Ausrufung der Republik, für das Wahlrecht der Frauen gekämpft hatten und während des Bürgerkriegs für den Sieg der Antifaschisten, die im Wesentlichen von Stalin unterstützt wurden. Die Mujeres Libres waren jedoch Anarchistinnen, was ihre Texte belegen, viele von ihnen ihr Leben lang, und ihr Ziel war eine freie, gerechte Gesellschaft, die Abschaffung des Staates, letztendlich die Befreiung aller Menschen.

So schreibt das Kollektiv Paideia in dem Text La Anarquía. Mujeres libres: luchadoras libertarias, dass sich diese Frauen als libertäre Organisation mit den Bestrebungen der spanischen libertären Bewegung identifizierten und die Frauenorganisation als integralen Bestandteil dieser Bewegung betrachteten. In den Statuten der Gruppe war festgelegt: „Durch Austausch mit den Gewerkschaften, Ateneos und Juventudes eine Verzahnung schaffen, durch die unsere revolutionäre Bewegung gestärkt wird.“ Dies widerspricht eindeutig der immer wieder vorgebrachten Ausführung, die Gruppe sei wegen des sexistischen Verhaltens der CNT gegründet worden.

Einige der Aspekte, die von der Autorin von verschiedenen Publikationen kritiklos übernommen wurden bzw. völlig falsch wiedergegeben werden und die mir in Erinnerung geblieben sind, sind Folgende:

Um einen Beweis für den ‚Sexismus‘ der CNT-Aktivisten zu liefern, diskreditiert die Autorin das Verhalten der Milicianos, die die Frauen an der Front zum Waschen, Kochen, zu Lazarettarbeiten verdonnert hätten, um so auf ihre Minderwertigkeit hinzuweisen. Sie seien schmutzig gewesen und wären schließlich von der Front ins Hinterland zurückgeschickt worden. Wie kommt Bianchi zu dieser Behauptung? Ihre Quelle ist Diego Camacho / Abel Paz, der „Alpha–Macho“, der sich für den einzigen wahren Anarchisten hielt und mir 1978 wortwörtlich dasselbe erzählte. Ich habe diesen Kommentar angezweifelt und für machistisches Geschwätz gehalten. Er selbst war nie an der Front, aber man muss nicht dort gewesen zu sein um zu wissen, dass es an der Front nie und nirgends sauber zugeht. Es gibt keine Duschen, und im Spanien der 1930er Jahre gab es meist nicht einmal eine Waschgelegenheit. Wer wissen möchte, wie es an der Aragón-Front zuging, sollte George Orwells Homage to Catalonia lesen, wo er die Zustände ausführlich beschreibt. Im Sommer, bei glühender Hitze, wurde den Menschen im Schützengraben der Staub ins Gesicht geweht, sobald es regnete, wateten sie im Schlamm. Teilweise lagen sie zehn Tage bis zu einer Ablösung in den Schützengräben. Die Milicianas wurden auch nicht von den Genossen fortgeschickt, wie behauptet, sondern aufgrund des Dekrets der Volksfrontregierung über die Militarisierung, also die Aufstellung einer regulären Armee, abgezogen. Dies war die Voraussetzung dafür, dass die Anarchisten mit Waffen versorgt werden würden. Es war die erpresserische Auflage „entweder keine Frauen oder keine Waffen“. Frauen, die mit Waffen umgehen konnten, kämpften sehr wohl an der Seite der Milicianos, und trotz der genannten Verordnung blieben sie mit deren Unterstützung an der Front, wie z.B. Clara Thalmann oder La Dinamitera, manche auch bis zum Kriegsende wie Mika Etchebéhère, die zur Capitana einer POUM–Brigade ernannt wurde. Die Milicianas wurden vor allem von den Kommunisten als Mannweiber disqualifiziert und gerne auch als Prostituierte abgestempelt. Die nach Emanzipation strebenden „freien Frauen“ waren eben vielen ein Dorn im Auge, und durch Verhöhnung oder herabsetzende Bemerkungen sollte den Frauen und der anarchistischen Bewegung insgesamt geschadet werden. Mercedes Comaposada, eine der drei Gründerinnen der Gruppe, schreibt in einem Artikel im März 1937: „Der Verband Mujeres Libres richtete in den ersten Tagen des Kampfes in allen Vierteln Barcelonas Gemeinschaftskantinen ein und organisierte die „Kolonne Mujeres Libres“, die mit Wasch- und Bügelmaschinen an der Front agieren sollte.“ Haben sich diese Frauen freiwillig zu typischer, angeblich minderwertiger Frauenarbeit erniedrigen lassen, oder ging es nicht vielmehr darum, dass angesichts der dramatischen Lage jede nach ihrem Vermögen das Kollektiv unterstützte?

Der Vortrag war meiner Meinung nach großen Teils eine Glorifizierung und Idealisierung dieser Frauen, da Bianchi ihnen immer wieder Dinge zuschreibt, die so nicht der historischen Wahrheit entsprechen, zudem unterschlägt, dass zehntausende Frauen der libertären Bewegung und eine Million CNT-Aktivisten an der Umsetzung der revolutionären Ziele mitarbeiteten. Die soziale Revolution wurde ja von der Libertären Bewegung als ganzer vorangetrieben, die Mujeres Libres waren also ein Teil davon. Viele Projekte, wie Schulen, Institute, Vortragszyklen, spezielle Kurse etc. wurden zwar von den Mujeres Libres organisiert, die Initiative ging aber oft von der republikanischen Regierung zwischen November 1936 bis Mai 1937 aus, als Federica Montseny das Gesundheitsministerium leitete und einer ihrer Staatssekretäre, der Arzt Félix Martí Ibañez, seine fortschrittlichen Ideen realisierte, wie die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs. Die Idee der sogenannten Liberatarios, Zentren zur Resozialisierung der ehemaligen Prostituierten, kam im Gesundheitsministerium auf. Die Evakuierung und menschenwürdige Unterbringung der Kriegswaisen oder die Verschickung der Kinder in sichere Gegenden Spaniens oder ins Ausland geht ebenfalls auf die Initiative Federica Montsenys zurück wie auch die Einrichtung von Kindergärten in den Fabriken oder in der Nähe der Handwerksbetriebe. Es schmälert das Werk der Mujeres Libres absolut nicht, wenn festgestellt wird, dass sie all diese Projekte zur Verbesserung des Lebens der Frauen und Kinder mitorganisierten und vorantrieben. Denn trotz aller Widrigkeiten aufgrund der Kriegssituation und der Anfeindung durch die nichtrevolutionären Sektoren der Gesellschaft versuchten sie diese umzusetzen. Zur geschichtlichen Wahrheit gehört es jedoch festzustellen – und das vermisse ich in den meisten Publikationen über die Mujeres Libres –, dass es oftmals bei den Projekten blieb; so existierte bei Kriegsende ein einziger Fabrikkindergarten. Dies ist keinesfalls einem eventuellen Unvermögen dieser Frauen anzulasten, sondern wie gesagt den Umständen jener Zeit. Außerdem waren die zur Verfügung stehenden Mittel begrenzt, und die vorhandenen Kräfte wurden vorrangig für die Aufrechterhaltung des täglichen Lebens eingesetzt.

Nichts erfahren wir übrigens von dem überaus interessanten Aspekt der Finanzierung der genannten Projekte wie der Kinderheime, Schulen, sonstiger Ausbildungsstätten. Bekannt ist, dass die CNT Villen in Barcelona beschlagnahmte, die dann als Schulen oder Kinderheime dienten. Die aus Madrid und der Region Centro geflüchteten Frauen und Kinder wurden von der katalanischen Regierung in Hotels einiger Küstenorte untergebracht. Zum anderen profitierten die Mujeres Libres selbstverständlich von der CNT, da einige Gewerkschaften für die Unterbringung der evakuierten Kinder sorgten und ihre Lokale für Kurse der Mujeres Libres zur Verfügung stellten. Bekannt ist auch, dass sie von der anarchosyndikalistischen Organisation für den Erhalt ihrer Zeitschrift eine Subvention erhielten. Mit welchen Mitteln wurden aber die unzähligen Projekte finanziert, von denen auch V. Bianchi sprach?

Kultur und Bildung waren für die „Mujeres Libres“ wie für die anarchistische Bewegung insgesamt von höchster Bedeutung. Dazu ist zu sagen, dass die Anarchisten bereits Ende des 19. Jahrhunderts neue pädagogische Konzepte und Unterrichtsformen entwickelten, so Francisco Ferrer i Guardia mit seiner „Escuela Moderna“, die später von Joan Puig Elias in der „Escuela Natura“ fortgeführt wurde. Er war es auch, der ab dem 1. Oktober 1936 in Katalonien als Präsident des neuen, unter dem Namen CENU bekannten Schulsystems diese pädagogischen Ideen umsetzte. Welch großartige Leistung dies war, nämlich in zwei Monaten unter Kriegsbedingungen und dem Widerstand bestimmter gesellschaftlicher Sektoren dieses neue System zu implementieren, sieht man daran, dass heutige Schulreformen Jahre benötigen und das Unterrichtswesen nicht unbedingt verbessert wird. In den von den Mujeres Libres gegründeten Ausbildungsstätten wurden die Beschlüsse des IV. Kongresses der CNT in Zaragoza im Mai 1936 im Bereich Pädagogik umgesetzt, d.h. die bereits Jahrzehnte zuvor ausgearbeiteten Konzepte. Dazu gehörte ein Programm zur Alphabetisierung, ein Hauptanliegen der Anarchisten seit Ende des 19. Jahrhunderts, dem sie sich in den Ateneos und insbesondere in den Gefängnissen gewidmet hatten. Das Verdienst der Mujeres Libres war es, dass sie die Alphabetisierung der Frauen forcierten, die bis dahin weitgehend von Bildung und Kultur ausgeschlossen gewesen waren.

Die Mujeres Libres waren keine männerfeindliche Gruppe. Ihr Ziel war es, „die Rolle der Frauen und Männer auf ein höheres kulturelles Niveau zu heben, das ihnen den gemeinsamen Kampf für den Aufbau einer gerechteren und humaneren Gesellschaft ermöglichen sollte“. Zwischen den männlichen und weiblichen Mitgliedern der Libertären Bewegung sollte sich kein Graben auftun, gefordert wurde „eine echte Übereinstimmung zwischen den Genossen und Genossinnen erreichen; zusammenleben, zusammenarbeiten und sich nicht abgrenzen; Energien in die gemeinsame Arbeit einbringen.“ Lucía Sánchez Saornil schrieb, dass Männer und Frauen komplementär sind, sich ergänzen müssen. Mary Nash stellt fest: „Die Mujeres Libres identifizierten sich mit dem revolutionären Ideal des Anarchismus und daher mit dem Bestreben, eine Gesellschaft aufzubauen, in der es eine echte Gleichberechtigung hinsichtlich der Rechte und Pflichten beider Geschlechter gäbe und deren Sozialsystem auf dem libertären Kommunismus basiere.“ Lucía Sánchez spricht in diesem Kontext auch vom „integralen Humanismus“. Wie eng verbunden die Mujeres Libres mit den anarchistischen und anarchosyndikalistischen Organisationen waren, lässt sich nicht nur aus den „Statuten der Föderation Mujeres Libres“ ablesen. Lucía Sánchez schreibt in einem Text: „Diese Sektionen verdanken eine direkte Hilfe der CNT, deren Ortsverband Madrid uns eine entschlossene und effektive Förderung zuteilwerden ließ.“

Die Gründerinnen der Mujeres Libres waren also keineswegs gegen die anarchosyndikalistische Organisation eingestellt, wie das ständig angeführte Sexismus-Argument vermuten lässt. Folgende Aussage von Lucía Sánchez unterstreicht die enge Verbindung zwischen der CNT und den Frauen: „Nur Antifaschist zu sein ist sehr wenig; (…); wir setzen dieser Negation eine Affirmation entgegen, und unsere Affirmation – unsere, die der Mujeres Libres – ist in drei Buchstaben zusammengefasst, in einem dieser Anagramme, die heute ein wenig unschuldig von vielen Frauen auf ihrer Kleidung getragen wird: C.N.T. (Confederación Nacional del Trabajo), was bedeutet, dass das Leben auf der Grundlage von Arbeit, Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit rational organisiert wird.“

Auch M. A. Ackelsberg betont: „Die Frauen von Mujeres Libres waren vollkommen im Anarchismus und in den Zielen und Strategien der spanischen anarcho-syndikalistischen Bewegung verwurzelt.“ Diese Frauen kamen nämlich aus einem durch die CNT und den Anarchismus geprägten Umfeld, aus anarchistischen Familien, in denen sie „DIE IDEE gleichsam mit der Muttermilch aufgenommen“ hatten. Die eigene Gewerkschaftsarbeit, der Besuch der Ateneos seit frühester Kindheit, der Lebensgefährte hatten ebenso ihre anarchistischen Ideen gefördert. So manifestiert sich vor allem in den Artikeln der Gründerinnen der Mujeres Libres nicht nur ihre anarchistische Überzeugung, sondern auch die gewerkschaftliche Erfahrung, die sie im Laufe der Jahre in der CNT gesammelt hatten. Viele der Frauen lebten mit einem CNT-Genossen zusammen, und von den namentlich Bekannten, die in den Texten über diese Frauen erwähnt werden, weiß ich, dass sie – bis auf Lucía Sánchez – nach Kriegsende mit einem der angeblichen Sexisten der CNT eine Ehe eingingen und fünfzig oder sechzig Jahre glücklich mit ihm zusammenlebten.

Bei zwei Aspekten der Präsentation zeigte sich eine klare Unkenntnis der Geschichte sowie die kritiklose Übernahme von Behauptungen. In verschiedenen Publikationen, auch bei Mary Nash und Martha A. Ackelsberg, wird zwar das Plenum der CNT im Oktober 1938 erwähnt, mit keinem Wort jedoch der eigentliche Anlass für dieses 15tägige Plenum mitten im Krieg angesprochen. Es geht nur darum, zum wiederholten Male das „sexistische“ Verhalten der CNT an den Pranger zu stellen. Die Sachlage war Folgende: Die Faschisten hatten bereits die Provinz Castellón erobert, waren also bis ans Mittelmeer vorgedrungen, und somit war das Gebiet der Republik zweigeteilt. Die Delegierten aus Levante mussten per Schiff anreisen, während italienische Bomber über sie hinwegflogen und ihre Last über katalanischem Gebiet, auch über Barcelona, abluden. Am Ebro tobte seit Ende Juli eine der blutigsten Schlachten des Bürgerkriegs und die alles entscheidende Schlacht. Nach mehr als zwei Jahren Krieg fehlte es an allem, die Bevölkerung konnte nur noch mit dem aller notwendigsten versorgt werden. Die Kritik an der Beteiligung von CNT-FAI an der republikanischen Regierung war in der Organisation immer heftiger geworden, und das Plenum sollte über die weitere Unterstützung der Regierung entscheiden. Die Juventudes, die schon zehntausende Mitglieder an der Front verloren hatten, während weitere tausende von den Falangisten und den marokkanischen Söldnern ermordet worden waren, hatten bereits zu verstehen gegeben, dass sie nicht länger als Kanonenfutter herhalten würden. Auf dem Plenum ging es um nichts weniger als Fortbestand oder Untergang der Libertären Bewegung, um Leben und Tod. Die Mujeres Libres hatten den Antrag auf Aufnahme in diese Bewegung als vierter Säule – neben CNT, FAI und Juventudes – gestellt, und er wurde sehr wohl vom Plenum besprochen, mit folgender Begründung jedoch abgelehnt: “… eine frauenspezifische Organisation wäre ein Element der Uneinigkeit und Ungleichheit innerhalb der libertären Bewegung und hätte negative Folgen für die Entwicklung der Interessen der Arbeiterklasse.“ Verschwiegen wird oft, dass auch viele weibliche Mitglieder von CNT-FAI und insbesondere die Juventudes gegen eine separate Frauenorganisation waren, dass andererseits der Beschluss gefasst wurde, der Basis die Entscheidung über den Antrag zu überlassen – eine Lösung, die voll und ganz den Prinzipien der Organisation entsprach. Dazu kam es nicht mehr, denn am 16. November war die Schlacht am Ebro vorbei, die franquistischen Truppen konnten fast ungehindert nach Katalonien einmarschieren. Zwei Monate nach diesem Plenum begann die große Massenflucht, am 26. Januar 1939 nahmen die Faschisten unter dem Jubel der Bevölkerung Barcelona ein. Und zwei Monate später war die Zweite Republik in ganz Spanien Geschichte.

Zum Abschluss des Vortrags erfuhr das Publikum dann noch, dass sich Lucía Sánchez Saornil schließlich „geoutet“ habe. Wer eine solche Behauptung aufstellt (die auf einem Gerücht beruht), muss auch erklären wann, wo, wie dieses Outing stattfand, da der seit Anfang der 1990er Jahre in Deutschland verwendete Begriff ja bedeutet,sich öffentlich zu seinen homosexuellen Veranlagungen zu bekennen“. Dazu ist erstens zu sagen: Die Nichte von América Barroso, der Frau, mit der Lucía seit 1939 zusammenlebte, bestreitet vehement, dass es sich um eine homosexuelle Beziehung der beiden Frauen gehandelt habe. Eine tiefe Freundschaft hätte sie verbunden. Zum anderen hat sich kein Mensch in Spanien vor 1976 „geoutet“. Selbst der bekannteste Homosexuelle Spaniens hat nie öffentlich über seine Sexualität gesprochen, er hat sie einfach gelebt, was letztendlich sein Schicksal besiegelte. Denn Federico García Lorca wurde von den Faschisten nicht allein wegen seiner fortschrittlichen Einstellungen und der Kritik an der spanischen Gesellschaft ermordet. In den letzten Minuten vor seiner Erschießung wurde er von seinen Peinigern und Mördern wegen seiner Homosexualität verspottet und gedemütigt. Im ultrakatholischen Spanien jener Jahre galt Homosexualität – wie überall damals – und insbesondere für die katholische Kirche als Abartigkeit, als Teufels Werk. Selbst in heutiger Zeit – im Jahr 2017 – gibt es noch Bischöfe in Spanien, die von der Kanzel herab von Krankheit sprechen, die geheilt werden könne. In Spanien wurde Homosexualität – wie vermutlich in allen Ländern damals – als Unzucht strafrechtlich verfolgt, und erst bei der Strafrechtsreform in den 1990er Jahren wurde dieser Paragraph aus dem Strafgesetzbuch gestrichen. In der Franco-Zeit gab es tausende Häftlinge, die aufgrund des Gesetzes von 1933, also aus der Zeit der Zweiten Republik, verurteilt worden waren. Das „Ley de vagos y maleantes“ entsprach dem NS-Asozialen-Paragraphen, und deshalb ist es völlig unglaubhaft, dass eine Frau wie Lucía Sánchez, die unerkannt bleiben wollte und deshalb jahrzehntelang untergetaucht lebte, sich eines Tages, in den Jahren der brutalen Repression, öffentlich als Lesbe zu erkennen gab.

Fazit

Wer wissen möchte, was ich über die anarchistischen Frauen denke, braucht nur das Vorwort zu meinem Buch zu lesen. Ich bin der Meinung, dass alle Frauen der Libertären Bewegung Spaniens unseren Respekt und unsere Wertschätzung verdienen, dass aber auch der aufopferungsvolle Kampf der CNT-Aktivisten und der Juventudes gegen die Militärs und den Faschismus entsprechend gewürdigt werden sollte. Es waren schließlich die Anarchisten, die am 19. Juli 1936 in Barcelona die Kasernen stürmten und in ganz Spanien zu den Waffen griffen, um die Republik zu verteidigen, zu einem Zeitpunkt, als die Mitglieder der katalanischen und spanischen Regierung noch zauderten. Lluis Companys, der katalanische Präsident, wollte am 20. Juli sogar den Anarchisten die Regierung übergeben. Heute gilt er als der große Held, als Märtyrer der Katalanen, weil er 1940, nach der Auslieferung durch die Gestapo an Spanien, von den Franquisten zum Tode verurteilt wurde. An die Anarchisten, von denen viele das gleiche Schicksal erlitten, Tausende ermordet wurden, wollen sich nur noch wenige erinnern.

Wer sich öffentlich äußert, kann nicht nur Zustimmung und Applaus erwarten, er sollte kritikfähig sein und sich andere Forschungsergebnisse, Meinungen oder Erfahrungen anhören oder aneignen. Sobald ich das Lokal betreten hatte, in dem die Präsentation stattfand, wurde ich von den Organisatorinnen mit einer kaum zu übertreffenden Herablassung und Verachtung beäugt, lange bevor überhaupt ein erstes Wort über meine Lippen kam. Es wurde mir später zugetragen, dass sie Angst hatten, ich würde diese Veranstaltung „sprengen“. Es gibt viele radikale Elemente, die glauben eine Veranstaltung sprengen zu müssen, weil etwas nicht zu ihrer Ideologie passt. Das ist nicht mein Stil. Allerdings reflektiere ich über Kritik und gehe darauf ein, wenn ich sie für berechtigt halte. Offensichtlich hat sich bisher niemand kritisch über Bianchis Texte geäußert, weshalb sie so wütend auf mich reagiert, und schlimmer noch, mir völlig erfundene Aussagen unterstellt und mich denunziert und diffamiert. Das ist unredlich und erbärmlich. Es ist eine Verletzung meiner Würde, ihre Texte eine Verdrehung der historischen Wahrheit.

Doris Ensinger, Barcelona, 22. November 2018

*Doris Ensinger, Quer denken, gerade leben. Erinnerungen an mein Leben und an Luis Andrés Edo. verlag barrikade, Hamburg, 2015.

Spanische Fassung: Amor y Anarquía. Mi vida en Alemania y con Luis Andrés Edo. Icaria, Barcelona, 2016.

Rezension ‚libertärer Atlantik‘

Der libertäre Atlantik

Tims Wetzolds Buch Der libertäre Atlantik wurde in ‚Moving the Social‚, der Zeitschrift der Uni Bochum, von Stefan Berger (S. 165) rezensiert. Der Kernsatz der sonst auf English erscheinenden Zeitschrift lautet:

»The strength of his analysis lies in his careful consideration of discourses and practices, of ideas and institutions and of national, as well as transnational, dimensions of the anarcho-syndicalist labour movements under investigation here. He accounts for the formation of political parties and trade unions but is equally interested in the ways in which labour movement shaped the lives of workers through associationalism, working-class theatres and libraries and other cultural institutions. Tim Wätzold’s book is therefore an important contribution to overcoming the well-entrenched dualism between an everyday history of work and workers and labour movement history.«

[Die Stärke seiner Analyse liegt in seiner sorgfältigen Erörterung der Diskurse und Praktiken, der Ideen und Institutionen und der nationalen wie auch transnationalen Dimensionen der anarchosyndikalistischen Arbeiterbewegungen, die hier untersucht werden. Er betrachtet die Entstehung von politischen Parteien und Gewerkschaften, ist aber genauso interessiert daran, wie die Arbeiterbewegung das Leben der Arbeiter durch Assoziationalismus, Arbeiter-Theater und -Bibliotheken und andere kulturelle Institutionen formte. Tim Wätzolds Buch ist deshalb ein wichtiger Beitrag, um den fest eingewurzelten Dualismus zwischen einer Alltagsgeschichte der Arbeit und der Arbeiter und einer Geschichte der Arbeiterbewegung zu überwinden.]

Tagebuch zur KATALANISCHEN REPUBLIK (III.)

TAGEBUCH ZUR KATALANISCHEN REPUBLIK

 

Tag 1, Samstag, 28.10.2017

Ich bin in der neuen Republik aufgewacht, ehrlich gesagt erleichtert. Am 10. Oktober dauerte die Republik nach deren Ausrufung durch Puigdemont ganze 8 Sekunden, bis er nämlich im nächsten Satz deren Suspendierung bis auf weiteres bekanntgab. Dieses Mal dauerte der Jubel ungefähr eine Stunde, da während in Katalonien die Unabhängigkeitsbefürworter im Parlament „als legitime Volksvertreter“ den Bruch zu Spanien vollzogen, im Senat in Madrid der Art. 155 in Gang gesetzt  wurde, durch den die kat. Regierung mit sofortiger Wirkung als abgesetzt gilt.

Die Sitzung am Freitag, den 27.10.2017, war ein weiterer Gesetzesbruch. Auch wenn von den 135 Abgeordneten 70 mit Ja stimmten, so hat dieses Votum keinerlei Wert, denn einerseits hatten die Justitiare des Parlaments die Präsidentin (für mich Feldwebel Forcadell, eine Schande für alle Abgeordneten, eine Schande für alle Frauen) ein weiteres Mal darauf hingewiesen, dass sie die Unabhängigkeitserklärung weder auf die Tagesordnung setzen noch über selbige abstimmen lassen dürfe, weil dieser Text von der Staatsanwaltschaft bereits als verfassungswidrig erklärt worden war. Da die Frau macht, was sie will, durften alle Fraktionssprecher ihre Meinung dazu sagen, wobei die Oppositionsparteien selbstverständlich dagegen waren und aus Protest gegen diesen weiteren Rechtsbruch, nach einer kaum noch aufzuzählenden Reihe von Rechtsbrüchen in diesem ‚procés‘, das Plenum verlieβen. Zweitens verstieβ die Abstimmung gegen das Statut von Katalonien, das eine Mehrheit von 90 Abgeordneten für eine derartige Abstimmung festlegt. Trotz allem gab es Euphorie und Jubel rund ums Parlament und auf den Straβen, aber es waren nicht hunderttausende, sondern nur einige zehntausende.

Am Samstag, 28.10.2017, war das Leben in den Straβen in meinem Viertel und auf dem Markt wie an jedem beliebigen Samstag. Die Leute kauften ein, sprachen miteinander, nirgends habe ich Anspielungen oder Diskussionen zu den politischen Ereignissen gehört, weder zur Unabhängigkeitserklärung noch zu den Maβnahmen aus Madrid.

Am Abend war ich bei der Erstaufführung des Dokumentarfilms „COPEL“, der Organisation der sozialen Gefangenen, die von 1977 – 1979 für Amnestie und Freiheit und Menschenwürde unter brutalsten Bedingungen kämpfte. Die Männer, die bei den Aktionen, Meutereien, Hungerstreiks und Selbstverletzungen mitmachten, in praktisch allen damaligen Gefängnissen Spaniens, können etwas zu brutaler Polizeigewalt sagen, denn sie vollzog sich hinter Gefängnismauern, nicht in der Öffentlichkeit und nicht vor laufenden Kameras.

Ich hatte etwas gemischte Gefühle, weil ich dachte, dass die Vorführung zu irgendwelchen Statements missbraucht würde, dem war aber nicht so. Der groβe Saal eines besetzten Kinos war rammelvoll, mit ehemaligen Gefangenen, deren Angehörigen, vielen jungen Leuten. Der Film ist beeindruckend, führt den damaligen Kampf durch die Zeugnisse der Akteure in den Gefängnissen sowie denen, die sie von auβen unterstützten, soweit dies überhaupt möglich war – Rechtsanwälte, Gefangenenkomitees, eine Sozialarbeiterin –, noch einmal vor Augen (ich habe diesen Kampf ja in den ersten Monaten meines Aufenthalts in Barcelona aus nächster Nähe miterlebt). Gegenübergestellt wurde die Aussage des damaligen Generaldirektors für das Gefängniswesen, nicht einmal mit dem Abstand von fast vierzig Jahren ein Wort der Selbstkritik. Bei den Wortmeldungen nach der Vorführung sprach auch die Mutter eines Gefangenen, der vor einigen Monaten im Knast Selbstmord beging. Ich hatte sie schon im Juni bei einer anderen Veranstaltung gehört – was für eine mutige Frau! Was sie sagt, und was auch der Strafrechtsprofessor Iñaki Rivera von der Univ. de Barcelona, der sich vor allem der Einhaltung der Rechte und der Menschenwürde von Gefangenen widmet, immer wieder sagt, ist: In den Gefängnissen, auch den katalanischen, hat sich in den vergangenen dreiβig Jahren nichts geändert, die Gefangenen werden weiterhin misshandelt, gefoltert und inzwischen durch massiven Pharmaka-Einsatz ruhig gehalten. Alles Verstöβe gegen katalanische Gesetze und die Menschenrechte im Allgemeinen. Seit das Gefängnis Modelo im Juni 2017 geräumt wurde, befinden sich alle Gefängnisse auβerhalb der Städte, sie wurden zu Festungen ausgebaut, aus denen eine Flucht unmöglich ist. Sie sind weit entfernt von der Zivilgesellschaft, die Presse berichtet so gut wie nichts über das, was hinter den Mauern vor sich geht, und Information bekommt nur noch derjenige, der sie sucht. Wenn in der deutschen Presse also viel vom demokratischen Katalonien geschrieben wird, so empfehle ich den Journalisten, kommt her und informiert euch, was in diesem spanischen Landesteil tatsächlich demokratisch ist (s.u.).

Danach, bei einem Bierchen, im Viertel, wo dieses Kino liegt, das gleiche Bild, der gleiche Eindruck: die Leute verbringen den Samstagabend wie jeden anderen, zusammen mit Freunden, in der Kneipe vor dem Fernseher (Barça spielte und gewann wieder), die Gespräche an den Tischen auf den Terrassen, soweit ich das mitbekommen habe, auf Spanisch, und es ging nicht um Independencia. Vielleicht wird darüber nur noch hinter verschlossenen Türen gesprochen.

Tag 2:

Ein weiteres Mal knattert der Hubschrauber über meinem Haus, nein, heute gleich zwei. Es demonstriert nun die andere Seite, diejenigen, die keine Abspaltung wollen. Wieder ziehen Scharen von Leuten am Haus vorbei, hunderttausende, laut Zahlen, die später durchgegeben werden, waren es zwischen 300.000 und einer Million, dieses Mal eingehüllt in die spanische Flagge, aber auch die offizielle katalanische, die ohne Stern. Wer aus diesem ganzen ‚procés‘ am meisten Gewinn herausschlägt, das sind die Flaggenhersteller und -verkäufer. Erst die katalanische Flagge, die mit dem Stern, jetzt millionenfach die spanische. Heute sieht man auch eine weiβe mit einem Herz, in dem die offizielle katalanische, die spanische und die europäische abgebildet sind. Wer sich nicht in eine Fahne einwickelt, macht sich allmählich verdächtig.

Auf Historiker, Politiker, Soziologen kommt eine schwierige Aufgabe zu, nämlich zu erklären, wie es in so kurzer Zeit zu diesem nationalistischen Ausbruch kam. Nationalismen hat es in Spanien ja immer schon gegeben, den spanischen, baskischen, katalanischen, andalusischen, kanarischen, usw. Aber erst durch das Vorantreiben des Unabhängigkeitsprozesses scheint im übrigen Land der schlafende Tiger des Nationalismus erweckt worden zu sein. Nicht einmal beim Gewinn der Fuβballweltmeisterschaft wurden so viele spanische Flaggen auf den Straβen geschwenkt, und nach ein paar Tagen war damals auch schon wieder alles „normalisiert“.

Vielleicht hätten sich die Politiker hier mal von Dombrowski inspirieren lassen sollen, der schon 2007 Folgendes sagte: „Statt das Groβe und Ganze in Angriff zu nehmen, treiben wir Politiker uns gegenseitig in den Wahnsinn, aber was wäre, wenn wir unsere Popularität nicht deswegen verlieren, weil wir Arschlöcher sind, sondern weil wir groβe gesellschaftliche Aufgaben vollbringen wollen.“ Hier haben sich zwei Seiten tatsächlich in den Wahnsinn getrieben und das halbe Volk gleich mit, ein Aufbruch kam nicht zustande und eine groβe gesellschaftliche Aufgabe wurde auch nicht vollbracht. Im Gegenteil: Hunderttausenden wurde etwas vorgegaukelt, das sich letztendlich als Luftblase herausgestellt hat, was schon lange abzusehen war. Es gab hier eben keine groβen Politiker, d.h. solche mit Weitsicht, mit einem wirklichen Programm, sondern es wurde nur von Tag zu Tag dahingewurschtelt. Das Ergebnis für viele: ein immenser Scherbenhaufen, für den die Verursacher mal wieder nicht verantwortlich zeichnen.

Ein Teil der Presse hat den ‘procés’ zwar von Anfang an kritisch begleitet, aber nun wird kein gutes Haar mehr an Puigdemont und seinen Kumpanen gelassen. Es wird von kafkaesken Momenten gesprochen, die Adjektive können nicht negativ genug sein: “ungeschliffen, plump, absurd, lächerlich, unsinnig, befremdend” in einem einzigen Satz. Der „Aufprall auf den Felsen des von Artur Mas eingeleiteten Prozesses“. Morgen fängt die Wahlkampagne für die auf den 21. Dezember festgesetzte Wahl an, und mal sehen, mit welchen Neuigkeiten sie uns sonst überraschen.

Tag 3:

Das Leben auf der Straβe ist völlig normal. Man fragt: War da nicht mal eine fröhliche Bewegung, die eine blendende Zukunft vor sich sah? Der Streik der Taxifahrer ist abgesagt, die Züge fahren wohl auch, ich kann also meine Reise beginnen und aus der Ferne zusehen, wie es weitergeht.

Beim Einsteigen ins Taxi in Málaga erfuhr ich schon die letzte Neuigkeit: Puigdemont nach Brüssel geflüchtet.

Tag 4 – 15 (31.10. – 11.11.):

In Málaga wollte ich einerseits in meine Vergangenheit abtauchen, die Orte wiederentdecken, an denen sich zwei Jahre lang mein Leben abspielte. Andererseits wollte ich ein paar Tage lang nichtkontaminierte Luft atmen, mir eine Verschnaufpause von all den Spannungen und dem Stress in Barcelona gönnen. Letzteres war nicht so einfach, weil über jeden Bildschirm stundenlang über die letzten Ereignisse berichtet wurde, in den Nachrichten und in Interviews mit „Experten“, und auch im Stadtbild war der Katalonien-Konflikt präsent: nicht nur vereinzelt, sondern relativ häufig wehte eine Fahne an einem Balkon, hier natürlich die spanische Flagge. Und dies muss klar gesagt werden: nicht Rajoy und die PP haben diesen nationalistischen Ausbruch provoziert, sondern es ist – in ganz Spanien – die Reaktion auf die separatistische Politik in Katalonien. Die „Ultras“ sind nie ganz verschwunden, sie marschierten an bestimmten Tagen auf, waren besonders in einigen Fuβballclubs aktiv, aber seit dem 1. Oktober tauchen sie massiv und in dem Bewusstsein auf, endlich wieder ihre Meinung kundtun zu können. Dass die Menschen überall in Spanien ihre Hispanität oder ihren Patriotismus zeigen, liegt auch daran, dass viele gerne bei einer solch wichtigen Entscheidung wie der Abspaltung eines Teils des Landes mitgeredet hätten, da auch sie das „derecho a decidir“, das Recht mitzuentscheiden, verteidigen.

DEMOCRACY IS COMING …. (Leonard Cohen)

… MAYBE TO CATALONIA?

Wie bekannt hat sich Folgendes ereignet: Puigdemont ist nach Brüssel entschwunden. Erst hieβ es, er wolle dort Asyl beantragen, dann verlautete, dass er dort eine Exilregierung bilden möchte – er war zusammen mit sechs seiner Minister dort angekommen, zwei fuhren zwei Tage später wieder nach Spanien. Schlieβlich hat er selber in einem Interview mit einem belgischen Fernsehsender und dann mit CatalunyaRadio vermeldet, dass er den ‚procés‘ internationalisieren, also europäisieren möchte. Die EU-Institutionen sollen sich endlich auf seine Seite, also die der Unabhängigkeitsbefürworter und der „legitimen Regierung“ von Katalonien und der Demokratie schlagen, die seiner Meinung gefährdet ist, und nicht länger die „faschistische Zentralregierung“ unterstützen. Die EU-Politiker lassen sich aber bisher nicht erpressen. Puigdemont, dieser notorische Lügner, erzählt weiter seine Ammenmärchen, z.B. das vom demokratischen Katalonien, im Gegensatz zum autoritären, sogar totalitären spanischen Zentralstaat. Die ‚indepes‘ haben die Behauptung von der katalanischen Demokratie so oft wiederholt, dass sogar deutsche Journalisten das glauben und nicht mehr nachfragen. Deshalb ein bisschen Nachhilfe, wie es mit der Demokratie hier aussieht. Denn hätten diese Journalisten auch nur ein bisschen an der Oberfläche gekratzt, dann hätten sie eine Menge Undemokratisches aufdecken können.

Eines der fundamentalen demokratischen Prinzipien ist die Gleichheit. Deshalb gilt im deutschen Wahlrecht neben allgemeiner, unmittelbarer, freier, geheimer Wahl auch der Wahlrechtsgrundsatz der gleichen Wahl, nämlich: “Jede Stimme soll den gleichen Zählwert und die gleiche Erfolgschance haben. Daher müssen die Wahlkreise etwa gleich groß an Stimmen sein.“ Wie sieht das in Katalonien aus? Weil auch dort Papier geduldig ist, stehen all die demokratischen Prinzipien im Wahlgesetz, die Realität ist aber Folgende: 1980 wurde unter dem damaligen katalanischen Ministerpräsidenten Tarradellas das neue Wahlgesetz beschlossen. Danach wurde Katalonien in vier Wahlbezirke aufgeteilt, die den vier Provinzen entsprechen. Die Zahl der Abgeordneten wurde wie folgt festgelegt: 85 für Barcelona, 18 für Tarragona, 17 für Girona und 15 für Lleida. Das bedeutete, dass Barcelona 63 % der Abgeordneten zugeteilt wurden, obgleich 77 % Wählerstimmen dieser Provinz entsprachen. Bei der letzten (gültigen) Wahl waren die Zahlen wie folgt:

Wahlberechtigte                             Wähler pro Abgeordneter

Barcelona                           3.972.775                                            46.738

Girona                                    495.557                                            29.150

Lleida                                      299.113                                            19.940

Tarragona                              547.291                                            30.405   (Quelle: El Confidencial)

Das Prinzip der Gleichheit und des gleichen Zählwerts der Stimmen ist also nicht gegeben. Warum ist das so? Geheimhin wird auf dem Land, in den Provinzen Girona, Lleida, Tarragona, konservativer = nationalistischer gewählt als in Barcelona und den übrigen Städten drum herum, wo die Industrie angesiedelt ist (war) und die Arbeiterklassen eher „links“ wählten, zu Tarradellas Zeiten die Sozialisten, PSC, und die Kommunisten, PSUC. Dank dieses völlig undemokratischen Wahlgesetzes wurde das Land 23 Jahre lang, von 1980 – 2003, von Jordi Pujol mit seiner durch und durch korrupten Partei CiU regiert. Niemand hat sich bisher daran gemacht, es zu ändern, und das ist der Grund, warum die Nationalisten die Politik bestimmen und schlieβlich die Unabhängigkeitsbefürworter die Regierung übernehmen konnten, ohne jedoch jemals eine Mehrheit in der Bevölkerung für ihr Vorhaben zu haben.

Zweitens: Hätten sich die Journalisten (und auch die katalanischen Wähler) die Mühe gemacht, sich die zwei am 6. und 7. September verabschiedeten Gesetze etwas unter die Lupe zu nehmen, hätten sie sehr schnell aufgedeckt, dass das Procedere der Abstimmung völlig undemokratisch, irregulär, illegal war und auch der Inhalt der beiden Gesetze, zum Referendum und für die Übergangszeit der Republik bis zur Abstimmung über eine neue Verfassung, an vielen Stellen weder demokratischen Prinzipien noch dem internationalen Recht entsprechen. Die beiden Gesetze wurden in völliger Geheimhaltung ausgearbeitet, während die Regierung doch vollmundig Transparenz versprochen hatte. Die Opposition hatte keine Möglichkeit, die Gesetze zu überprüfen, die Debatte dauerte wenige Stunden, obgleich 15 Tage von der Vorlage bis zur Abstimmung vorgeschrieben sind, und alle Eingaben wurden abgeschmettert vom Feldwebel Forcadell. Obwohl das Verfassungsgericht beide Gesetze umgehend kassierte, wurde das Referendum am 1. Oktober abgehalten, dessen Resultat, „90 % der Wähler stimmten für die Abspaltung“, die Tatsachen völlig verfälscht. Forcadell, die ständig über die Aufhebung der Gewaltenteilung in Spanien lästert, sollte den Mund nicht gar zu voll nehmen. Meiner Meinung nach gehört es nicht zur demokratischen Praxis, dass die höchste Repräsentantin der Legislative an den Sitzungen des Kabinetts teilnimmt. So werden Legislative und Exekutive vermischt, die Gewaltenteilung aufgehoben. Und die Kontrolle der Exekutive durch die Opposition, die das Bundesverfassungsgericht gerade angemahnt hat, hat es in Katalonien wohl auch nicht gegeben, bei all der Geheimnistuerei und der Nichtzulassung von Fragen der Opposition.

Drittens: Demokratie in der Praxis. 2014 wurde eine Gruppe gegründet, deren Ziel es ist, am Ort des ehemaligen Frauengefängnisses mit einem Denkmal für die dort inhaftierten Frauen zu erinnern. In dem Gefängnis, einem ehemaligen Kloster, waren von 1939 – 1955 Frauen inhaftiert, die das Regime zu seinen Gegnerinnen erklärte (Anarchistinnen, Kommunistinnen oder der Republik treue Frauen) und die durch die Umerziehungsmaβnahmen der Nonnen zum rechten Denken und Verhalten gebracht werden sollten. Die Frauen saβen teilweise Jahre wegen ihrer Überzeugungen ein, 12 Frauen wurden zum Tod verurteilt und hingerichtet. Zwei Mitglieder dieser Gruppe, die bisher das Projekt eines Denkmals wesentlich vorangetrieben haben, sind Professoren an der Uni und im Bereich der Erinnerungskultur tätig (European Observatory on Memories, einem von der Europäischen Kommission geförderten Netzwerk zur interdisziplinären Erforschung öffentlicher Erinnerung bzw. CrPolis, ein Forschungsbereich an der Univ. de Barcelona zu Erinnerung und Kunst im öffentlichen Raum). Zudem gehören zu dieser Gruppe eine ehemalige Gefangene und viele Familienmitglieder, vor allem Töchter ehemaliger Gefangenen. Zur Errichtung eines Denkmals gehört natürlich die entsprechende finanzielle Unterstützung, die von der Stadt bzw. dem Bezirksrat versprochen wurde. Auch hier galt: Partizipation und Transparenz bei allen Entscheidungen. Nachdem von dieser Gruppe verschiedene Vorschläge für ein Denkmal ausgearbeitet worden waren und eine Vertreterin bei entsprechenden Sitzungen des Bezirksrats diese Vorschläge unterbreitet hatte, wurde am 26.10. mitgeteilt, dass die Ausschreibung für ein Denkmal erfolgt sei, die Frist für die Einreichung von Vorschlägen wurde auf den 7. November festgesetzt, also auf 12 Tage, was z.B. eine internationale Teilnahme unmöglich macht. Wie immer gab es auch hier viel Blabla, im Endeffekt hat sich der Bezirk oder die Bezirksrätin all der Arbeit bemächtigt, die diese Gruppe bisher geleistet hat und ist zur Politik der vollendeten Tatsachen übergegangen.

Ähnliches gilt für die Plattform verschiedenster Gruppen und Organisationen, die seit Jahren ein Mitspracherecht bei der Umgestaltung bzw. Bebauung des Areals des ehemaligen Gefängnisses Modelo fordert. Es scheint, dass die Architekten und sonstiges Personal der Stadt die Planung an sich gerissen haben, und für eine Gedenkstätte („Dokumentationszentrum zu Geschichte und Repression der Arbeiterklasse“ wäre für mich treffender) auch nicht die Opfer berücksichtigt werden, sondern irgendwelche Historiker sich auslassen dürfen. Also auch hier nur viel Gerede von Demokratie, Mitsprache, Transparenz.

Währenddessen täglich neue Informationen über den ‚ex-presidente‘ Puigdemont in seinem Brüsseler Exil, wo er angeblich eine Exilregierung gebildet hat. In der SZ wird dieser Mensch als „der nette, ewig lächelnde P.“ charakterisiert. Wenn er aber mal zu lächeln aufhört, bekommen seine Augen einen eiskalten, skrupellosen Blick und manchmal auch schon einen Anflug von Irrsein. Luis Andrés meinte, dass die Leute im Empordà mit der Zeit boig werden, das heiβt verrückt, aufgrund der Tramuntana, die da häufig bläst. Wer einmal eine richtige Tramuntana miterlebt hat, kann sich gut vorstellen, dass das den Leuten mit der Zeit wirklich den Verstand raubt. In seiner Hybris legt sich P. nicht nur mit der spanischen Regierung, sondern auch der belgischen und den EU-Institutionen an, die ihn absolut nicht anhören möchten. Inzwischen liegt ja ein Haftbefehl gegen ihn vor, und in diesen Tagen wird darüber entschieden, ob er ausgeliefert wird oder nicht. Jedenfalls bewegt er sich ziemlich frei in Brüssel und nutzt die Zeit, baldmöglichst wieder sein Amt besetzen zu können. Dass er von Exil und Exilregierung spricht, ist eine weitere Verhöhnung der hunderttausenden von Spaniern, die Anfang 1939 ins Exil gehen mussten, um der Verfolgung und Ermordung durch die Franquisten zu entgehen. In Frankreich angekommen, wurden die meisten in Konzentrationslager gesteckt, vom Vichy-Regime zuerst und dann von den Nazis verfolgt, ermordet, in KZ im deutschen Reich deportiert, wo tausende unter unmenschlichen Qualen ihr Leben lieβen. Für diejenigen, die in Frankreich den Häschern entkamen, ging es immer ums nackte Überleben, Tag für Tag, bis August 1944. Sie hatten niemanden, der ihnen den Aufenthalt finanzierte – die Frage ist nämlich, wer eigentlich bezahlt P. und seinen vier ex-Ministern den Aufenthalt, die belgischen Rechtsanwälte etc.? Fast täglich meldet er sich irgendwie zu Wort, so zum neuerlichen „Generalstreik“ am 8. Nov., mit dem „das Land lahmgelegt werden“ sollte.

Über twitter verbreitete er hinsichtlich der Straβensperren in ganz Katalonien und der Blockierung des AVE, dem spanischen ICE, im Bahnhof Girona und im Hauptbahnhof von Barcelona: “Es un orgull representar un poble con tanta dignitat. Gracies.” = Ich bin stolz, ein Land mit so viel Würde zu repräsentieren.

Vor sieben Jahren lieβ er sich wie folgt anlässlich eines Streiks vernehmen:

Carles Puigdemont

✔ @KRLS

Això dels piquets que barren el pas, que impedeixen serveis, etc, em sembla lamentable.

6:49 AM – Sep 29, 2010 (Das mit den Streikposten, die den Weg versperren, den Verkehr behindern, erscheint mir bedauerlich).

So ändern sich eben die Zeiten. Aber Puigdemont ändert seine Meinung nicht nur nach sieben Jahren, am 26.10. tat er das dreimal innerhalb weniger Stunden. Um den Art. 155 abzuwenden, hatten der baskische Ministerpräsident Urkullu und andere ihn überredet, Wahlen anzusetzen, um so der Regierung in Madrid Argumente für den Beschluss des Art. 155 zu nehmen. Dazu war er bereit, unter dem Druck seiner Partei und auch der CUP lieβ er dann davon ab, um letztendlich im Parlament die Unabhängigkeit auszurufen.

Offensichtlich sind derartige Wenden symptomatisch für die ‚indepes‘. Der Feldwebel Forcadell musste am 9. Nov. zum zweiten Mal vor dem Richter des Obersten Gerichtshofs erscheinen. Jeder Beschuldigte hat das Recht, sich seine Strategie zurechtzulegen, die Aussage zu verweigern, mit dem Richter zu kooperieren, um ein günstigeres Urteil zu erwirken, er/sie darf auch völlig hirnrissige Argumente zu seiner Verteidigung vorbringen, sie sollten aber so stichhaltig sein, dass sie nicht sofort zu durchschauen sind. Diese Frau war von Anfang an die treibende und radikalste Kraft im ‚procés‘ zur Unabhängigkeit, sie hetzte bei den Massendemonstrationen die Leute mit ihrem Hass gegen Spanien auf. Am 27.10., nach Inkraftsetzung des Art. 155, lamentierte sie über die Verhängung des Ausnahmezustands. Um der Untersuchungshaft zu entgehen, erklärte sie sich nun bereit, die Anwendung des Art. 155 zu befolgen, erklärte zudem, dass die Unabhängigkeitserklärung vom 27. Okt. nur „symbolischen Charakter“ gehabt hätte. Mit anderen Worten: Sie gibt zu, ihre Anhänger fünf Jahre lang belogen und betrogen und aufs übelste verarscht zu haben. Was für ein Zynismus, der blanke Hohn. Man kann nur wünschen, dass die Menschen endlich erkennen, von welch nichtsnutzigen und völlig skrupellosen Politikern sie hinters Licht geführt wurden. Heute auf dem Markt am Gemüsestand war ein chico mit einem T-Shirt, auf dem zu lesen stand: It all was only a dream.

Die Kaution von 150.000 € übernimmt übrigens die ANC, so wie sie auch die ca. 900 Busse für die nächste Demo heute Nachmittag (11.11.) angeheuert hat. Der heutige Tag wurde zum „Nationaltag für die Freiheit der Gefangenen“ erklärt, gemeint sind die zehn „politischen Gefangenen“, die der beiden Jordis und der acht abgesetzten Minister. Wie kommt die ANC zu so viel Geld? Ganz einfach: Subventionen der kat. Regierung, also Steuermittel. Auch wenn die Anklage wegen Rebellion und Aufruhr laut mehrerer Juristen fraglich ist, die der Veruntreuung öffentlicher Gelder ist es auf jeden Fall nicht, denn in diesen ‚procés‘ wurden Unsummen gepumpt.

Was werden jetzt die ganzen ausländischen Journalisten, die diesen ‚procés‘ und die Unabhängigkeit Kataloniens so vehement verteidigt haben, schreiben? Die Rede war von der „fröhlichen, modernen Bewegung“, von der „weltoffenen, europafreundlichen Jugend“. Zweifelsohne hat diese Jugend alle Vorteile, die Europa bietet, akzeptiert und dankbar angenommen. Aber ich habe nicht eine einzige europäische Flagge bei ihren Demos gesehen, das war immer die des Estat Catalá, die mit dem blauen Stern. Die europäische Flagge tauchte zum ersten Mal am 15. Oktober bei der ersten groβen Gegendemo auf. Die Jugend, der so viele Versprechungen gemacht wurden, der eine verheiβungsvolle Zukunft vorgegaukelt wurde, müsste eigentlich erkennen, wer sie verraten und verkauft hat. Vermutlich heiβt für sie der Schuldige weiterhin Rajoy. Die logische Folge dieses Desasters wäre eigentlich, dass sie diese Parteien nicht mehr wählen. Der 21. Dezember wird uns die Antwort geben.

Puigdemonts letzte Aktionen werden in der Presse gern als surreal(istisch) bezeichnet, was meiner Meinung nach den wirklichen Surrealismus entwertet. Sie sind schlichtweg grotesk, irrational. In Málaga konnte ich eine Ausstellung über 18 Künstlerinnen, Vertreterinnen des Surrealismus, anschauen. Sie waren so frei, wie der Titel der Ausstellung lautet, und völlig unabhängig. So lösten sich von vielen Traditionen, waren provokativ, überschritten Grenzen, kümmerten sich nicht um Normen, brauchten keinen Staat und keine Republik, und das zu einer Zeit, als die Frauenrechte noch in den Kinderschuhen steckten.

Doris Ensinger, 11.11.2017

 

 

Referendum – DECLARACION (26.10.2017) – Doris Ensinger II

Alea iacta est … und die Dinge nehmen ihren Lauf.

Oder: Haben jetzt alle den Verstand verloren oder bin ich auf dem falschen Gleis gelandet.

Liest man so die Einlassungen zu den gegenwärtigen Ereignissen, staunt man (ich) immer mehr, wer sich nicht nur gegen die Regierung in Madrid, sondern vor allem für die Unabhängigkeit und die „Katalanische Republik“ ausspricht. Libertäre und auch nicht wenige Anarchisten verteidigen plötzlich die Abspaltung von Spanien und die Gründung eines neuen Staates, wobei es keine wirkliche Analyse dessen gibt, wie dieser Staat gestaltet sein wird, wie hoch die Kosten sein werden, wie die tatsächlichen Folgen für die Bevölkerung aussehen werden, und dass die Mehrheit der in Katalonien lebenden Menschen gerade keine Trennung von Spanien will, fällt einfach unter den Tisch. Allmählich hat man den Eindruck, einer Schmierenkomödie mit schrecklich schlechten Laienschauspielern beizuwohnen, die einen weder zum Lachen noch zum Weinen bringen, sondern nur entsetzlich langweilen.

Wie vorauszusehen, hat die katalanische Regierung auch das zweite Ultimatum (am vergangenen Donnerstag) verstreichen lassen und beharrt auf ihrem „Angebot des Dialogs“, dessen Inhalt und Resultat von vornherein feststehen: Nur die Bedingungen der Unabhängigkeit können ausgehandelt werden, denn dies ist „Volkes Wille“, der sich am 1. Oktober über die Wahlurnen offenbarte und den es nun umzusetzen gilt. Puigdemont verhält sich wie ein verstocktes, trotziges Kind, das so lange provoziert, bis es eine Ohrfeige fängt und dann ob der Ungerechtigkeit schrecklich brüllt. Obwohl weit und breit keine Unterstützung für ein unabhängiges Katalonien auszumachen ist, obwohl die EU-Oberen mehrfach klargestellt haben, dass das Land automatisch aus der EU ausgeschlossen würde und den langen Verhandlungsweg gehen müsste, um Mitglied zu werden (was bei Einstimmigkeit ebenfalls von vornherein nicht zum Erfolg führen kann, da weder Spanien noch andere Länder zustimmen würden), da auch international jede Unterstützung fehlt und nur Kosovo für ein unabhängiges Katalonien plädiert, hält die katalanische Regierung an ihrer Entscheidung fest, hofft wahrscheinlich auf ein Wunder. Da die vielen Massendemonstrationen bisher nichts gebracht haben, schlage ich vor, eine groβe Prozession zur Schwarzen Madonna, der Schutzpatronin von Katalonien, im Kloster Montserrat zu organisieren, vielleicht werden sie dann erhört.

Im Morgenmagazin behauptete am Freitag ein Befürworter der Unabhängigkeit, Katalonien wäre in der EU von Anfang an Nettozahler aufgrund seiner groβen Wirtschaftskraft, das heiβt es würde freiwillig die armen osteuropäischen Länder alimentieren, während sie diese Solidarität für ärmere spanische Regionen verweigern, weil es da ja hauptsächlich um „faule Andalusier“ geht. Wie kann man nur so schizophren und blind sein! Dieses Mal hat sich Jordi (Georg), der Drachentöter, jedoch verkalkuliert: er hat das „faschistische Monster“ in Madrid nicht besiegt, sondern ist unsanft vom Pferd gestoβen worden und überlegt nun, wie er wieder aus der Bredouille kommt. Hat er bei seiner Amtseinführung nicht auch geschworen, dem Wohle des Volkes zu dienen? Vielleicht erinnert ihn und seine Regierung mal jemand, welche Aufgaben sie wirklich haben. In ihrer Verzweiflung und Blindheit versuchen die Indepes, die Befürworter der Unabhängigkeit, mit ihren dreisten Lügen über die dreihundert Jahre dauernde Unterdrückung die Menschen in Europa von ihrem harten Schicksal zu überzeugen. Sie erfinden alle möglichen törichten Aktionen, die irgendwo im Nichts verpuffen. Ein tränenreiches Video, der Aufruf „am Freitag zwischen 8 und 9 Uhr massiv Geld bei der CaixaBank und BancSabadell (den beiden groβen katalanischen Banken, die als erste ihren Sitz nach auβerhalb Kataloniens verlegten) abzuheben, um mit dem Geld „ein Geschenk zu kaufen, den Wocheneinkauf zu erledigen oder es zu spenden,“ weil „wir eine starke katalanische Wirtschaft wollen“. Wer sollte mit dieser Aktion angesprochen werden? Wer zwischen 8 und 9 Uhr Zeit hat, zum Bankautomaten zu gehen, ist bestimmt nicht der normale Arbeiter oder Angestellte, der um 7, spätestens um 8 Uhr mit der Arbeit beginnt. Und wer es sich erlauben kann, eine gröβere Summe von seinem Konto abzuheben, gehört mit aller Sicherheit dem (nationalistischen) Mittelstand an, der – es ist ein offenes Geheimnis – sein Geld schon lange nach Andorra, in die Schweiz oder in eine Region jenseits der katalanischen Grenzen verbracht hat, wenn nicht sogar in irgendein Steuerparadies in der Karibik. Denn die vielen hunderttausend „Mileuristas“, diejenigen, deren Gehalt sich auf max. 1.000 € im Monat beläuft, müssen zusehen, dass sie damit überhaupt über die Runden kommen. Diese Aktion sollte eine von vielen sein, um Druck auf die Madrider Regierung und die Staatsanwaltschaft auszuüben, die beiden „politischen Gefangenen“, die Präsidenten der beiden nationalistischen Organisationen, umgehend aus der U-Haft freizulassen.

Ich gehöre bestimmt nicht zu denjenigen, die schnell dabei sind, Knast für andere zu fordern. Aber der demokratische Rechtsstaat, auf den die Separatisten ja bei jeder Gelegenheit pochen, beruht auf der Gleichheit vor dem Recht. Die zwei wurden nicht wegen einer ihrer Äuβerungen verhaftet, obgleich gegen die nationalistischen Organisationen ANC und Òmnium Cultural schon lange hätte vorgegangen werden müssen, wie ein Verleger schreibt, „wegen ihrer Inszenesetzung der Farce eines ‚unterdrückten Volkes‘ durch einen ‚Unterdrückerstaat‘. Es handelt sich um eine absolute moralische Perversion. Eine politische Oligarchie, die Katalonien seit 40 Jahren regiert, stilisiert sich mit der theatralischen Hilfe der CUP zu einem strangulierten Volk und versucht den Rechtsstaat mit Hilfe eines phänomenalen Propagandaapparates, bestehend aus Fernsehen, Radio und den öffentlichen Schulen, in Schach zu halten“ (s.u.). Die beiden Präsidenten sind Demagogen und Rattenfänger der übelsten Sorte, kamen jedoch wegen ihres Vorgehens gegen die Guardia Civil bei der Durchsuchung des kat. Wirtschaftsministeriums in U-Haft, u.a. um die Zerstörung von Beweismitteln zu verhindern, und das ihnen vorgeworfene Vergehen lautet „Aufruhr“. Dass hier von politischen Gefangenen gesprochen wird, ist eine Unverschämtheit und der blanke Hohn gegenüber all jenen, die während der Franco-Zeit tatsächlich wegen politischen Delikten wie Flugblattverteilen, Teilnahme an einer unerlaubten Demonstration, Mitglied einer verbotenen Organisation etc. vom TOP, dem Staatsschutzgerichtshof, zu teils immens hohen Strafen verurteilt wurden, nachdem sie bei der Gefangennahme brutal misshandelt worden waren und danach in den Kommissariaten tagelang gefoltert wurden. Politische Gefangene waren u.a. Luis Andrés Edo und die vielen anderen, die aktiv gegen Franco und sein Regime kämpften und in diesem Kampf auch immer wieder ihr Leben riskierten.

Zum anderen wird auch in diesem Fall wieder mit zweierlei Maβ gemessen und die jüngste Vergangenheit einfach ausgeblendet: In einer Parlamentssitzung sollte im Juni 2011 der Haushalt beschlossen werden, der drastische Kürzungen im Sozialbereich vorsah. Ministerpräsident war damals Artur Mas. Leute der 15M-Bewegung „umstellten“ das Parlament, das sich im Parc de la Ciutadella befindet, der von einem hohen Zaun umgeben ist, so dass unmöglich an das Gebäude heranzukommen war. Die Demonstranten fanden sich an einem von den Mossos d’Escuadra bewachten Eingang ein, die dort die Abgeordneten einschleusten. Einigen Demonstranten gelang es, diese nicht nur zu beschimpfen, sondern zu bespucken oder am Jackett zu zupfen. Die Staatsanwaltschaft forderte gegen 20 Angeklagte 5 Jahre und 6 Monate Haft, sowie für jeden eine Geldstrafe von 7.500 € (u.a. wg. Sachbeschädigung und für die Reinigung eines Jacketts) wegen „asedio“ (Belagerung) und Angriff auf die Obrigkeit. Verurteilt wurden schlieβlich 8 zu drei Jahren Haft. Gab es damals einen Aufschrei? Wurde gegen die Verhaftung und Verurteilung dieser Angeklagten protestiert? Wurden sie zu politischen Gefangenen stilisiert? Die Solidaritätskundgebungen hielten sich in Grenzen und Indepes waren nicht dabei, es handelte sich letztendlich nur um „Indignados“, Empörte, die für mehr Demokratie und gegen den Korruptionssumpf auch und gerade der katalanischen Politikerklasse kämpften.

In den letzten sechs Jahren wurde, wie bereits erwähnt, nichts, REIN GAR NICHTS, von den Unabhängigkeitsparteien im Parlament im sozialen Bereich unternommen, obwohl sie so viel von „sozialer Gerechtigkeit“ sprechen; alles dreht sich nur immer um den „Procés“. Und das zeigt auch, wer die Klientel dieser Parteien ist: der Mittelstand, dem es noch einigermaβen gut geht, freilich nur solange, bis die Wirtschaft die Folgen dieses Wahnsinns deutlich zu spüren bekommt. Jedes Mal, wenn ich ins Internet schaue, ist die Zahl der Unternehmen, die ihren Sitz verlagern, um weitere hundert angestiegen, inzwischen sind es (am 25.10.) über 1.500 Unternehmen. Die Indepes meinen trotzig, sie sollen halt gehen, in Katalonien gäbe es ja über 200.000 Firmen (dazu gehört z.B. auch mein Klempner, der einen Angestellten hat). Die Aussage mag stimmen, aber es sind die groβen, bedeutenden Unternehmen, die das Land verlassen. Offensichtlich denken die Indepes, dass sie stark genug sind, um mit Massenmobilisierungen die Madrider Regierung in die Knie zu zwingen und auch die EU schlieβlich noch umzustimmen. Wenn sich da der kleine David mal nicht getäuscht hat. Und was ist, wenn nach den Unternehmen die Künstler das Land verlassen, weil sie hier nicht mehr frei und unabhängig arbeiten können? Einige wurden so angefeindet, dass sie bereits weggezogen sind.

Nachdem die Regierung in Madrid nun die folgenreichste Maβnahme laut Artikel 155 der Verfassung angedroht hat, nämlich die Absetzung der gesamten katalanischen Regierung (eine Riege von absolut inkompetenten, zynischen Luschen) sowie der Leiter des Fernsehsenders TV3 und von CatalunyaRadio, gibt es allgemeinen Protest gegen die „faschistische Verfassung von 1978, die von den Erben Francos durchgesetzt wurde“. Was die meisten Katalanen offensichtlich nicht wissen oder vergessen haben, ist erstens, dass die „sieben Väter“ dieser Verfassung keinesfalls alle als Erben Francos bezeichnet werden können, da je ein Vertreter der sozialistischen und kommunistischen Partei (ein Katalane) sowie der „katalanischen Minderheit“ (alle damals in Katalonien existierenden Parteien) in diesem Siebener-Gremium vertreten waren (nur die Basken waren ausgeschlossen). Zweitens, dass sich diese Verfassung wie auch das spanische Strafrecht eng an das Grundgesetz und den StGB anlehnen, die Bundesrepublik somit in gewisser Weise bei der Ausarbeitung mitgeholfen hat. So entspricht dieser berüchtigte Artikel 155, bis auf einige Einfügungen, exakt dem Artikel 37 Grundgesetz:

Art. 37

(1) Wenn ein Land die ihm nach dem Grundgesetze oder einem anderen Bundesgesetze obliegenden Bundespflichten nicht erfüllt, kann die Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates die notwendigen Maßnahmen treffen, um das Land im Wege des Bundeszwanges zur Erfüllung seiner Pflichten anzuhalten.

Art. 155

Si una Comunidad Autónoma no cumpliere las obligaciones que la Constitución u otras leyes le impongan, o actuare de forma que atente gravemente al interés general de España, el Gobierno, previo requerimiento al Presidente de la Comunidad Autónoma y, en el caso de no ser atendido, con la aprobación por mayoría absoluta del Senado, podrá adoptar las medidas necesarias para obligar a aquélla al cumplimiento forzoso de dichas obligaciones o para la protección del mencionado interés general.

Auch wenn in Deutschland nicht unbedingt alle mit dem Grundgesetz übereinstimmen und gewisse Änderungen heftigst kritisiert wurden, wie zum Beispiel die des Artikels zum Asylrecht, hat wohl niemand das Grundgesetz als „faschistisch“ oder „von Erben des Nationalsozialismus ausgearbeitet“ bezeichnet. In Katalonien wird die „faschistische Keule“ bei jeder Gelegenheit verwendet, wobei ich natürlich nicht unterschlagen möchte, dass auch ich einiges an dieser Verfassung auszusetzen habe. Die Würde des Menschen ist in Spanien / Katalonien antastbarer als in der Bundesrepublik, wo diese allen anderen Bestimmungen in Artikel 1 GG vorangestellt wurde. In der spanischen Verfassung wird sie nicht explizit genannt, die Menschenwürde taucht nicht auf, und in Art. 15 steht das, was im GG in Art. 2(2) steht: Todos tienen derecho a la vida y a la integridad física y moral, sin que, en ningún caso, puedan ser sometidos a tortura ni a penas o tratos inhumanos o degradantes (Alle haben das Recht auf Leben und physische und moralische Unversehrtheit und können unter keinen Umständen der Folter oder unmenschlichen und erniedrigenden Strafen unterworfen werden). Wie ich in meinem Buch beschrieben habe, wurde gegen diesen Artikel tausendfach seit der Verkündung der Verfassung 1978 verstoβen, und zwar nicht nur im „faschistischen“ Spanien, sondern auch im ach so demokratischen Katalonien. Was sich in den Knästen in Katalonien abspielt, will die Bevölkerung nicht wissen, auch nicht, dass dort die Gesetze der katalanischen Regierung, die die Kompetenzen im Bereich der Justiz besitzt, mit Füβen getreten werden. Es gibt Gefangene, die nicht nur tagelang, sondern wochen- und monatelang in Isolationshaft gehalten werden, obgleich laut kat. Strafvollzugsgesetz 15 Tage nicht überschritten werden dürfen. Die katalanische Regierung hat folglich nicht nur gegen die Verfassung und die allgemein gültigen Gesetze des spanischen Staates verstoβen, sondern auch gegen die eigenen. Wenn also die Unabhängigkeitsparteien insistieren, dass mit der katalanischen Republik ein demokratischer Rechtsstaat errichtet wird, ist die Frage berechtigt, wie glaubwürdig solche Postulierungen und dieser zukünftige Staat überhaupt sind.

Die nichterklärte Unabhängigkeitserklärung

In der Parlamentssitzung am 10. Oktober verkündete Puigdemont, Volkes Willen und dem Referendumsgesetz zu entsprechen, weshalb er die Unabhängigkeit Kataloniens

ausrief, um dies im gleichen Atemzug wieder zurückzunehmen, indem er die Suspendierung der Erklärung für eine gewisse Zeit ankündigte (was wohl den Anrufen von Donald Tusk und anderen unmittelbar vor dieser Sitzung geschuldet ist). Eine Stunde nach dieser denkwürdigen Sitzung versammelten sich die Abgeordneten der Unabhängigkeitsparteien in einem Raum des Parlaments, wo sie „feierlich“ eine Unabhängigkeitserklärung unterzeichneten (vor laufender Kamera). Daraus einige Auszüge (in der geschwollenen Sprache, in der der Text formuliert wurde):

 

ERKLÄRUNG DER REPRÄSENTANTEN KATALONIENS

»An das Volk Kataloniens und an alle Völker der Welt.

Basis für die Bildung der katalanischen Republik sind Gerechtigkeit und die wesentlichen individuellen und kollektiven Menschenrechte, die der historischen Legitimität und der juristischen und institutionellen Tradition Kataloniens als unverzichtbare Grundlagen einen Sinn verleihen.

Die katalanische Nation, ihre Sprache und ihre Kultur haben eine tausendjährige Geschichte. Jahrhundertelang verfügte Katalonien über eigene Institutionen, die über die Generalitat als dem höchsten Ausdruck der historischen Rechte Kataloniens die Selbstverwaltung zur Zufriedenheit ausübten. Während der Epochen der Freiheit war der Parlamentarismus die Säule, auf die sich diese Institutionen stützten, er wurde über das katalanische Parlament (Cortes Catalanas) kanalisiert und hat sich in den Verfassungen Kataloniens herauskristallisiert.

Katalonien restauriert heute seine verloren gegangene und lange Zeit ersehnte Souveränität in vollem Umfang, nachdem es Jahrzehnte aufrichtig und loyal versuchte, institutionell mit den Völkern der iberischen Halbinsel zusammenzuleben.

Seit 1978, als der spanischen Verfassung zugestimmt wurde, hat die katalanische Politik eine entscheidende Rolle gegenüber Spanien gespielt, mit einer vorbildlichen, loyalen und demokratischen Haltung und einem tiefen Staatsgefühl. (…)

Das Parlament, die Regierung und die Zivilgesellschaft kamen dem Ersuchen einer groβen Mehrheit der Bürger nach und baten wiederholt, der Durchführung eines Referendums zur Selbstbestimmung zuzustimmen.

Angesichts der Tatsache, dass der spanische Staat alle Verhandlungen abgelehnt, die Prinzipien von Demokratie und Autonomie verletzt und die in der Verfassung vorgesehenen Rechtsmechanismen ignoriert hat, hat die Generalitat ein Referendum für die Ausübung des nach dem Völkerrecht anerkannten Rechts auf Selbstbestimmung einberufen.

Die Organisation und Durchführung des Referendums hat zur Aufhebung der Autonomie und de facto zur Erklärung des Ausnahmezustands geführt. (…)

Gegen tausende von Personen, darunter hunderte aus Wahlen hervorgegangene Funktionsträger und Beamte von Institutionen sowie Beschäftigte aus den Bereichen Kommunikation, Verwaltung und Zivilgesellschaft wurden Untersuchungen eingeleitet,  sie wurden verhaftet, angeklagt, verhört und mit hohen Gefängnisstrafen bedroht. (…)

Trotz Gewalt und Unterdrückung zur Verhinderung eines demokratischen und friedlichen Prozesses stimmten die Bürger Kataloniens mehrheitlich für die Gründung der katalanischen Republik. (…)

Das Volk Kataloniens liebt das Recht, und die Achtung des Gesetzes ist einer der Eckpfeiler der Republik und wird es immer sein. Der katalanische Staat wird allen Bestimmungen dieser Erklärung mittels Gesetzen nachkommen und garantiert, dass Rechtssicherheit und die Einhaltung unterzeichneter Abkommen Teil des Geistes der Gründung der Katalanischen Republik sein werden.

Mit der Gründung der Republik wird die Hand zum Dialog gereicht. Um der katalanischen Tradition des Paktes die Ehre zu erweisen, ist ein Abkommen als Mittel zur Lösung politischer Konflikte für uns Verpflichtung. Ebenso bekräftigen wir noch einmal unsere Brüderlichkeit und Solidarität mit den übrigen Völkern der Welt und insbesondere mit jenen, mit denen wir Sprache und Kultur sowie den europäischen Mittelmeerraum zur Verteidigung der individuellen und kollektiven Freiheiten teilen.

Die katalanische Republik bietet uns die Gelegenheit, die derzeitigen demokratischen und sozialen Defizite zu korrigieren und eine wohlhabendere, gerechtere, sicherere, nachhaltigere und solidarischere Gesellschaft zu gestalten. ( …)

In Übereinstimmung mit den obigen Ausführungen GRÜNDEN WIR, die demokratischen Vertreter des katalanischen Volkes, in freier Ausübung des Rechts auf Selbstbestimmung und in Übereinstimmung mit dem von den Bürgern Kataloniens erteilten Mandat, die Katalanische Republik als unabhängigen und souveränen demokratischen und sozialen Rechtsstaat. (…)

WIR BEKRÄFTIGEN die Bereitschaft, Verhandlungen ohne Vorbedingungen mit dem spanischen Staat aufzunehmen, um ein System der Zusammenarbeit zum beiderseitigen Nutzen einzurichten. Die Verhandlungen müssen notwendigerweise gleichberechtigt sein.

WIR SETZEN die internationale Gemeinschaft und die Institutionen der Europäischen Union über die Gründung der Katalanischen Republik und den Vorschlag zu Verhandlungen mit dem spanischen Staat IN KENNTNIS.

WIR FORDERN die internationale Gemeinschaft und die Institutionen der Europäischen Union AUF, einzugreifen, um der anhaltenden Verletzung der bürgerlichen und politischen Rechte Einhalt zu gebieten und den Verhandlungsprozess mit dem spanischen Staat zu begleiten und dessen Zeugen zu sein. (…)

WIR BESTÄTIGEN, dass Katalonien den unmissverständlichen Willen hat, sich so schnell wie möglich in die internationale Gemeinschaft zu integrieren. Der neue Staat verpflichtet sich, die internationalen Verpflichtungen zu respektieren, die derzeit auf seinem Hoheitsgebiet gelten, und weiterhin Partner der internationalen Verträge zu sein, die das Königreich Spanien eingegangen ist.

WIR RUFEN die Staaten und internationalen Organisationen AUF, die Katalanische Republik als unabhängigen und souveränen Staat anzuerkennen.

WIR FORDERN die Regierung der Generalitat AUF, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um die volle Wirksamkeit dieser Unabhängigkeitserklärung und der Bestimmungen des Übergangsgesetzes zur Gründung der Republik zu ermöglichen.

WIR RUFEN jeden einzelnen Bürger der Katalanischen Republik AUF, uns der Freiheit würdig zu erweisen, die wir uns selbst gegeben haben, und einen Staat zu errichten, der die kollektiven Bestrebungen in Taten und Handlungsweisen umsetzt.

Die legitimen Vertreter des katalanischen Volkes: (Unterschrift von 72 Abgeordneten)

 Barcelona, 10. Oktober 2017

Hehre Worte, aber auch in Katalonien ist Papier geduldig, und welcher „Geist“ dieser ganzen Bewegung tatsächlich innewohnt, lässt sich einem Text entnehmen, der 1990 veröffentlicht wurde und das Gedankengut der Jordi-Pujol-Partei CiU (inzwischen umbenannt in PDeCat) und der kat. Nationalisten widerspiegelt:

„Unserem Volk muss die Notwendigkeit bewusst gemacht werden, dass wir mehr Kinder brauchen, um so unsere kollektive Persönlichkeit zu garantieren. … Grundlage der Organisation der Sensibilisierungskampagnen muss die Förderung der Volksfeste, Traditionen, Bräuche und der nationalen Mythologie sein.

Wir wollen Männer und Frauen mit starken Überzeugungen, die darauf vorbereitet wurden, sich in dem Bewusstsein der Zugehörigkeit und als Schöpfer von materiellem und geistigem Reichtum für ein mächtiges Katalonien entschlossen einzusetzen. (…) Das katalanische Nationalgefühl bei Studenten und Lehrern fördern. Ausarbeitung eines Plans der permanenten Weiterbildung und der Umschulung der Lehrerschaft unter Berücksichtigung der nationalen Interessen. Reorganisierung der Inspektoren zur korrekten Erfüllung der Bestimmungen der Katalanisierung des Unterrichts. (…) Zu erreichen ist, dass die von der Generalitat abhängigen Kommunikationsmedien weiterhin effiziente Übermittler des katalanischen Nationalmodells sind. Auf die Grundausbildung und Weiterbildung der Journalisten und Techniker im Kommunikationsbereich so einwirken, dass eine Ausbildung zu katalanischem Nationalbewusstsein garantiert wird. (…) Schaffung einer katalanischen Nachrichtenagentur, mit nationalistischem Geist und hoher Glaubwürdigkeit. Begünstigung bei der Zuteilung von Hilfen für Sender mit katalanischem Programm. Katalanisierung von Aktivitäten im Bereich des Sports und der Freizeit. (…) Die Existenz Kataloniens und der Katalanischen Länder in der ganzen Welt und insbesondere in Südeuropa bekanntmachen.«

Die „Katalanisierung“ der Schulen, wo nicht zum mündigen Bürger, sondern zum guten Patrioten erzogen wird, und der Medien wird selbstverständlich heftig bestritten, an der Uni war ich aber Zeugin, wie dies schleichend vor sich ging. U.a. wurden Doktorarbeiten auf Katalanisch mit einem Plus versehen, auch wenn sie in diese Sprache übersetzt worden waren, also ein Teil der Arbeit, die Formulierung, nicht mehr als eigenständig anzusehen ist. Bestimmte, subventionierte Medien sind Sprachrohr der Regierung und der sie unterstützenden Parteien, und dass es in Katalonien eine freie Presse gäbe, ist ein Märchen wie einiges andere. Wenn jetzt immer häufiger über die Indoktrination an den Schulen gesprochen wird, so deshalb, weil manche Leute die Angst verlieren, über die Realität zu sprechen.

Jakob Augstein schreibt im „Spiegel“: „In Barcelona wird ein fröhlicher, moderner, pluralistischer Patriotismus gefeiert.“ Er ist tausend Kilometer vom Geschehen entfernt, und seine Meinung beruht auf Bildern, die um die Welt gehen, nicht auf der Realität. Die unfröhlichen Bilder werden ausgeblendet. Die Nationalisten verfolgen besessen und verbissen ihr Ziel, pluralistisch ist da nichts, denn 40% schlieβen 60% aus ihrem Projekt aus, womit auch das, was er selbst schreibt, stimmt: „Selbstbestimmung lädt zur Diktatur ein.“ Und vermutlich hat er mit seinem Schlusssatz Recht: „Wir verlieren die Demokratie – oder unseren Wohlstand – oder am Ende beides. Das ist ein realistisches Szenario. Aber wollen wir das?“ Die Indepes setzen alles aufs Spiel, und die Frage ist erlaubt, darf ich andere mit ins Unglück reiβen, um mein Projekt zu realisieren. Inzwischen kursieren Gerüchte, dass die Verteidigungskomitees und die Zivilgesellschaft sich als Schutzschilde vor den Regierungspalast und das Parlament stellen werden (wie am 20. September 20.000 vor das Wirtschaftsministerium), um die Regierung und die Abgeordneten gegen den Eingriff durch die Madrider Regierung zu schützen. Was das bedeutet, kann sich jeder ausrechnen, aber offensichtlich werden aus der ewigen Opferrolle heraus Märtyrer in Kauf genommen. Dieses Szenario rückt immer näher, denn Puigdemont hat nun auch die letzte Brücke abgebrochen, er wird sich nicht vor dem Senat in Madrid erklären. Vermutlich heiβt das, dass morgen (Donnerstag) die Separatisten im kat. Parlament die Unabhängigkeit ausrufen – dann gute Nacht!

Immer mehr Menschen hier sind der Nachrichten und Gerüchte überdrüssig, wollen sich endlich wieder mit anderen Dingen beschäftigen, nicht jedes Mal, wenn sie online gehen, eine weitere Schreckensnachricht erfahren, wollen über die wichtigen Dinge des Lebens nachdenken und sprechen, über das, was in der Welt vor sich geht und viel schlimmer als dieser nationalistische Konflikt ist. Viele fragen sich auch, wie der Riss in der Gesellschaft, die Spaltung wieder überwunden werden kann. Wo noch tiefere Wunden geschlagen wurden, das sind Beziehungen, Familien, Freundschaften, der Umgang im Kollegium, wie soll das wieder gekittet werden? Wenn Partner sich über das leidige Thema in die Haare kriegen, wenn ein Lehrer geschnitten wird, weil er nicht am von der kat. Regierung verordneten „Generalstreik“ teilgenommen hat, wenn in den Dörfern genau darauf geachtet wird, wer mit welcher Fahne herumläuft und ob er/sie bei den Massendemonstrationen in Barcelona dabei war; wie gehe ich mit einer Freundin (?) um, die sich jahrelang kaum um das politische Geschehen kümmerte, fast nur um den Pegelstand ihres Brunnens und das Gedeihen ihrer Oliven, mir, nachdem ich halb im Scherz ein Angebot für ein eventuelles Exil erwähnt habe, lakonisch antwortet: „Dann gang halt.“ Nie waren Freundschaften, die echten, so wichtig wie zurzeit, Freunde, auf die man sich wirklich verlassen kann, die die Ansichten zu diesem unwürdigen Spektakel teilen und einen gegebenenfalls auffangen, wenn man am Verzweifeln ist.

Eins ist aber auch ganz klar: Ich werde mich nicht unterkriegen lassen und meine Einstellung und meine Ideen weiter verteidigen.

Doris Ensinger, Barcelona, 24.10.2017

Vortrag Doris 27. April 2016

Neuerscheinung 6. Mai 2015

Wider die Katalanische Unabhängigkeit!

During times of universal deceit, telling the truth becomes a revolutionary act.
(George Orwell)

Wie ich zu der Regierung Rajoys stehe, wie ich die hier verlebten vergangenen vierzig Jahre politisch einschätze, ist hinlänglich bekannt und in meinem Buch nachzulesen. Nach dem Tod Francos wurde hier keine Demokratie geschaffen, sondern nur pseudodemokratische Institutionen, in denen bis auf einige Ausnahmen kein Demokrat zu finden ist und kein demokratischer Geist herrscht. Hier hat sich nie eine demokratische Kultur herausgebildet, den politischen Gegner beschimpft man auf die übelste Weise, nicht nur im Parlament in Madrid, sondern in allen Parlamenten Spaniens.

Warum bin ich nicht euphorisch über die letzten Ereignisse in Barcelona / Katalonien?
Warum bin ich skeptisch, sogar ablehnend?

Es stimmt, dass dieser Landesteil unter Franco mehr zu leiden hatte als andere, das Baskenland ausgenommen, da war die Repression noch schlimmer. Aber seit ca. 1977-78 gibt es weder ein Verbot der katalanischen Kultur und Sprache, noch wird irgendjemand aufgrund der Verwendung seiner Muttersprache verfolgt. Eines der vielen Argumente, warum das Land endlich unabhängig werden soll, ist aber gerade dieses, nämlich endlich die eigene Sprache sprechen zu können. Praktisch alle Befragten sagen das gleiche: endlich – nach dreihundert Jahren bourbonischem Joch – die Würde des Landes wieder zu erlangen, nicht mehr unterdrückt zu werden, nicht mehr von Madrid ausgeplündert zu werden. Es spielt keine Rolle, dass viele Wirtschaftswissenschaftler vorgerechnet haben, dass Katalonien nicht so viel im Finanzausgleich abgibt, wie hier von katalanischer Regierungsseite behauptet wird. Und allgegenwärtige Korruption gibt es nicht nur in Spanien, sondern genauso in Katalonien, wo Jordi Pujol und seine Mafia-Familie (gegen seine Frau und 6 der 7 Kinder wird ebenfalls ermittelt) 23 Jahre lang jedes Korruptionsdelikt einsetzte, das im Strafgesetzbuch aufgeführt ist: Geldwäsche, illegale Parteienfinanzierung, Dokumentenfälschung usf. In Katalonien sitzen eben die guten Korrupten. Das Referendum und die Unabhängigkeitserklärung (morgen, Montag?) ist zum Credo, zur Religion geworden, und da kann man nicht mehr mit rationalen Argumenten kommen.

Wir haben es mit einer Eskalationsspirale zu tun, an der seit 2012 geschraubt wird, seit Artur Mas Regierungspräsident wurde und seit die beiden nationalistischen Organisationen ANC und Omnium Cultural die Idee eines Referendums und der Unabhängigkeit in der Bevölkerung vorantrieben, bei den Massendemonstrationen am Nationalfeiertag 11. September und über jedwede Propaganda, Betrug, Lügen, Manipulation und dreiste Rattenfängerei. Das „Probereferendum“ vom November 2014 wurde schon für ungültig erklärt, A. Mas und drei weitere Politiker/-innen kamen wegen Ungehorsam und Missbrauch öffentlicher Gelder vor Gericht, Mas wurde inzwischen u.a. zu einer Geldstrafe von über 5 Mill. € verurteilt. Deswegen bettelt er jetzt die Bevölkerung an, weil er das Geld nicht hat, angeblich. Wie erbärmlich, wenn jemand nicht zu seinen Taten steht und Verantwortung übernimmt. Im September 2015 wurden „plebiszitäre“ Parlamentswahlen einberufen, danach verstärkte den Unabhängigkeitszirkus ein neuer Akteur, die CUP (eine Gurkentruppe aus „antisistema, anticapitalistas und Exkommunisten sowie radikalen Unabhängigkeitsbefürwortern), die mit 10 Abgeordneten ins Parlament zog und der Regierungspartei die notwendige parlamentarische Mehrheit verschafft. Viele vergessen, dass sich bei dieser Wahl 52 % für andere Parteien aussprachen. Alle Politik drehte sich fortan nur noch um das Referendum, Delegationen = Gesandtschaften im Ausland wurden errichtet; um die sonstigen Angelegenheiten des Landes kümmerte sich die Regierungspartei nicht mehr, und da gäbe es viel zu regeln und zu verbessern (Gesundheitswesen, Erziehungswesen, die ganzen Nöte der Menschen in Bezug auf Wohnungsmangel, überhöhte Mieten, Arbeitslosigkeit, Jugendarbeitslosigkeit, Tourismus …).

Obwohl das geplante Referendum von Anfang an für verfassungswidrig erklärt wurde, hielten die Regierungspartei (eine Verbindung aus sogenannten Linken und den Nationalkonservativen) und der sie unterstützenden CUP an dem einmal gesteckten Ziel fest, und so kam ein provokativer Beschluss nach dem anderen, ohne dass Rajoy irgendetwas unternommen hätte; er schaute dem ganzen Tun passiv zu und seine Regierung sprach immer nur Ermahnungen aus, wies auf die Illegalität der Maβnahmen hin, ohne jemals einen konstruktiven Vorschlag zu machen oder zu einem Dialog zu kommen, was zugegebenermaβen ja praktisch unmöglich war, weil auf der Gegenseite unbeirrt und stur am Ziel festgehalten wurde.

Legal, illegal, scheiβegal

Wenn Linke und Anarchisten sich nicht um Gesetze kümmern, ist das eine Sache. Dass sich eine Landesregierung diesen Satz zu eigen macht, etwas ganz anderes. Ich überlege, ob jemals eine Landesregierung zum Generalstreik aufgerufen hat, zudem zur „permanenten Mobilisierung der Bevölkerung“. Die Strecke bis zum 1. Oktober ist mit Rechtsbrüchen und Regelverletzungen aller Art gepflastert. Die Vorbereitung des illegalen Referendums wurde aus Steuermitteln finanziert, das war der Grund für die Durchsuchung des Wirtschaftsministeriums und die Festnahme von 14 hohen Beamten am 20. September, was zu den ersten Ausschreitungen führte. Tausende belagerten das Ministerium; die Beamten der Guardia Civil, die übrigens von der Staatsanwaltschaft Barcelona geschickt worden waren, wurden bis morgens um drei in dem Gebäude festgehalten und konnten erst mit Hilfe der Mossos d’Escuadra, der katalanischen Polizei, wieder das Gebäude verlassen. Nach deutschem Recht nennt man das Nötigung und Freiheitsberaubung. Danach wurde schon von einer CUP-Frau erklärt, dass Madrid den Ausnahmezustand verhängt habe, dass das Recht auf freie Meinungsäuβerung, Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit und auf politische Beteiligung aufgehoben worden sei. Im Hintergrund sah man tausende Demonstranten, die spontan zusammengekommen waren. Ein Ausnahmezustand sieht anders aus, und viele Spanier und Katalanen haben das wohl noch in Erinnerung aus der Franco-Zeit.

Die Wählerlisten wurden illegal in Madrid beschafft, Katalonien besitzt keine, hat es nicht einmal geschafft, in vierzig Jahren ein ordentliches demokratisches Wahlrecht auszuarbeiten. Die meisten Wahlzettel wurden bei Durchsuchungen beschlagnahmt, so dass jeder potentielle Wähler seinen eigenen Wahlzettel zuhause im Computer ausdrucken konnte/musste. Der Wahlleiter und seine Vertreter wurden abgesetzt, damit sie nicht wegen dieses illegalen Referendums zu hohen Geldstrafen verurteilt werden können. Den Bürgermeistern und Rektoren der Schulen wurde von Madrid aufgetragen, keine Wahllokale zur Verfügung zu stellen, so dass in Kirchen, in Ambulatorien und sonst wo der Wahlzettel abgegeben werden konnte. Es musste auch nicht das für den Wähler bestimmte Wahllokal sein, man konnte wo auch immer wählen. So gab es nachweislich Doppelwähler am Sonntag. Wer die Auszählung vornimmt, überprüft und für korrekt erklärt, weiβ niemand, auch nicht warum es nun so lange dauert.

Das gravierendste sind aber die beiden Gesetze zum Referendum und für die Übergangszeit bis zur Gründung der katalanischen Republik. Sie wurden in zwei Tagen durch das Parlament gepeitscht, ohne Aussprache, praktisch unter Ausschluss der Opposition, entgegen dem Parlamentsreglement, auf das die Justitiare die Präsidentin ausdrücklich hinwiesen. Entgegen internationalem Standard ist in dem Gesetz kein Quorum enthalten, aufgrund der Mehrheit der Ja-Stimmen gilt das Referendum als angenommen. Da das katalanische Autonomiestatut immer noch in Kraft ist, hätten 90 Abgeordnete (Zweidrittelmehrheit) für das Gesetz zur Abspaltung stimmen müssen. Die Regierungsparteien verfügen über 72, und das genügte ihrer Meinung nach, die Opposition war sowieso schon ausgeschlossen. Das Übergangsgesetz legt fest, dass der Staatschef auch der Regierungschef ist, er auβerdem die Richter des Obersten Gerichtshofs ernennen wird. Die Türkei und Polen lassen grüβen. Die vier Richtervereinigungen verkündeten postwendend, dass niemand dieses Gesetz zu befolgen hätte, sie auf jeden Fall fühlten sich nicht daran gebunden.

Während all der Wochen und Monate, in dem sich das und vieles mehr abspielte, war Rajoy wie gesagt unfähig, auf die Situation einzugehen. In dieser Farce gibt es aber zwei Sturköpfe, zwei Kampfhähne, zwei Schuldige, und für die Ausschreitungen am 1. Oktober, über die in aller Welt berichtet wurde, sind beide Seiten verantwortlich. Angeblich wollten ja friedliche Bürger ihr demokratisches Grundrecht auf Wahlbeteiligung ausüben. Fünf Tage vorher wurde mir aber schon berichtet, wie man die Wahllokale absichern würde, und so wurden ab dem Freitagnachmittag die Wahllokale besetzt, um zu verhindern, dass die Polizei eindringen und die Leute am Wählen hindern könne. Offensichtlich waren auch viele der jungen Männer, die man auf diesen Bildern sieht, aus dem übrigen Spanien und sogar dem Ausland angereist, denn wenn die Revolution vor der Tür steht, muss man dabei sein. Laut Presseinformationen griff die spanische Polizei ein, nachdem die katalanische sich stundenlang völlig passiv verhalten hatte und ein weiteres illegales Vorgehen nicht unterband. Die Polizei ging unverhältnismäβig, völlig kontraproduktiv vor, denn aufgrund der Bilder, die sofort über die Medien verbreitet wurden, stimmten angeblich viele mit Ja, die eigentlich anders hatten abstimmen wollen, und so war dies nun keine Abstimmung über die Abspaltung, sondern gegen die Polizeigewalt. In den vierzig Jahren, die ich hier bin, habe ich viele Demos miterlebt und Bilder vieler anderer von brutalen Polizeieinsätzen gesehen, und ich frage mich, warum der Aufschrei dieses Mal so groβ war und nicht immer schon, wenn die Polizei mit aller Härte gegen Demonstranten vorgeht. Morgen, am 5. Oktober, jährt sich zum vierten Mal der Tag, an dem ein Mann nach einem nichtigen Streit mit einem Nachbarn von den Mossos, den ach so freundlichen, friedfertigen katalanischen Polizisten, zu Tode geprügelt wurde, auf der Straβe, nachdem der Streit schon beigelegt war, und vor laufenden Handykameras. Und es gibt so viele andere Fälle, bei denen die gleichen Bilder entstanden sind, gerade hier in Barcelona, und der Aufschrei war immer bescheiden. Da ging es halt um Studenten, um Hausbesetzer und Autonome und Anarchisten, deren Menschenwürde und physische Integrität man sehr wohl verletzen kann, scheint es.

Warum kann ich mich also nicht freuen, wo doch angeblich die Revolution ausgebrochen ist? Oder zumindest eine Rebellion gegen das verhasste faschistische Regime in Madrid. Bei dem Projekt geht es nicht um die Abschaffung des Staates, sondern um die Neugründung eines kapitalistischen, neoliberalen Nationalstaats, der in der EU (money, money) und der NATO aufgenommen werden will, also auch eine Armee aufstellen möchte. Es gibt aber Menschen, die etwas ganz anderes wollen, nämlich keine hierarchischen Strukturen von oben nach unten, sondern genau umgekehrt.

Mehr als die Hälfte der Bevölkerung Kataloniens war und ist gegen die Abspaltung von Madrid, aus den verschiedensten Gründen. Zum Beispiel weil sie sich beiden Teilen zugehörig fühlen, in beiden Teilen Familie haben, weil sie von der Abspaltung keine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen erwarten, sondern umgekehrt negative, was von vielen vorausgesagt wird. Das erste groβe Unternehmen hat schon die Verlegung nach Madrid angekündigt, weitere werden folgen. Die beiden groβen katalanischen Banken werden ihren Sitz verlegen, was wohl keinen Einfluss für den normalen Bankkunden, wohl aber für den Staatssäckel der Katalanen hat. Und heute Absturz der Börse, Vorzeichen des wirtschaftlichen Chaos?

Andere wiederum bezeichnen das gesamte Vorgehen als Staatsstreich, denken, vor allem nach der Rede des Königs gestern Abend, an einen möglichen Ausnahmezustand. Es heiβt, das Militär hätte diese Rede diktiert. Wir haben schon genügend Polizei auf den Straβen, seit dem 11. September höre ich jeden Tag das Geknatter eines Hubschraubers über’m Haus und auch permanent die Sirenen der Polizei. Die Unabhängigkeitsbetreiber haben nichts konkretisiert, alles wird sich schon ergeben, zuerst wird nun die EU vermitteln, und aufgrund seiner Bauernschläue wird Puigdemont es schon schaffen, „in der EU zu bleiben, wo Katalonien doch schon drin ist“, denkt er. Unabsehbare Folgen werden sich aus diesem Wahnsinn ergeben, für die nicht diejenigen die Verantwortung übernehmen werden, die den Scherbenhaufen angerichtet haben, sondern wie immer der normale Bürger, wobei 60% überhaupt nichts mit einer Abspaltung am Hut haben, aber diese werden mit in den Abgrund gerissen.

Vorauszusehen ist eine weitere Spaltung der katalanischen Bevölkerung, immer mehr Freundschaften und Beziehungen werden auseinanderbrechen, weil man sich nicht mehr verständigen kann, was bereits passiert. Es wird nur noch die guten Katalanen und die bösen Madrid-Anhänger = Faschisten geben. Die Filmemacherin Isabel Coixet wurde auf der Straβe bereits angepöbelt und als Faschistin beschimpft, der Sänger Juan Manuel Serrat, bis vor kurzem ein katalanisches Kulturgut, wurde ebenfalls als Faschist bezeichnet, weil er sich gegen das „irreguläre, nicht transparente Referendum“ ausgesprochen hatte. Anderen Kulturschaffenden geht es genauso. Ich wurde aufgrund dessen, dass ich Stefan Zweig mit seinem Satz über den Nationalismus zitierte, den er als die gröβte Pest bezeichnete, die die europäische Kultur vergiftet, für einige zur „katalanischen Nationalistenhasserin“, da ich auch noch hinzusetzte, dass dieser Satz auch heute noch gültig ist. Schwarze Listen werden schon vorbereitet, einem Freund wurde von ehemaligen Kampfgenossen angedroht, er sei der erste, der erschossen würde. Die Kinder der Zivilgardisten werden in der Schule gemobbt aufgrund dessen, „was ihre Väter getan haben“. Viele denken inzwischen darüber nach, was man überhaupt noch sagen kann. Diesem Landesteil und vermutlich ganz Spanien stehen turbulente, vielleicht sogar gewalttätige Zeiten bevor. Und ich finde es zum Kotzen, dass im europäischen Parlament von den Grünen und auch der Linken einseitig für Katalonien Stellung ergriffen wird. Noch einmal: mehr als die Hälfte der Katalanen hat sich bisher gegen die Abspaltung von Madrid ausgesprochen, was nicht heiβt, dass sie deshalb für Rajoy und seine Politik wären. Puigdemont und die übrigen Ganoven bereiten jedoch unbeirrt die Unabhängigkeitserklärung und –feier vor, wenn vermutlich anlässlich der Machtergreifung ein Fackelzug stattfinden wird. Heil, Catalunya!

Noch eine Anekdote zum Nationalismus und den Franco-Legenden: vor drei Jahren wurde ich zu einer Zusammenkunft mit dem Berichterstatter der UNO über die nicht aufgearbeiteten Verbrechen im Bürgerkrieg eingeladen. Es ging um die Verschwundenen (Luis Andrés‘ Vater gehört dazu), Ermordeten, die noch immer in Massengräbern liegen, um eklatante Fehlurteile mit Todesstrafe, die Misshandlungen und Folter der Gefangenen. Zum Schluss sprach eine Frau über die „Verbrechen“ Francos gegenüber der katalanischen Kultur. Da ging es nicht nur um das Verbot der Sprache, sondern dass „Franco in den fünfziger Jahren die Landbevölkerung aus Murcia, Andalusien und anderen Teilen Spaniens nach Katalonien umsiedelte, um dieses zu kolonisieren und die Bevölkerung zu durchmischen“. Ja, liebe Leute, das ist die katalanische Herrenrasse. Alle, die jenseits des Ebros leben, kommen an diese effizienten, hochgewachsenen, intelligenten Menschen nicht heran. Dass sich in Katalonien wie in fast jedem anderen europäischen Land seit Jahrzehnten oder sogar Jahrhunderten Menschen aus anderen Ländern niedergelassen und zum Reichtum dieses Landes beigetragen haben, geht nicht in die nationalistischen Köpfe.

Kurz ist der Wahnsinn, lang ist die Reue.

Doris Ensinger (im Widerstand),
4. Oktober 2017

Anmerkung des Verlages:

Die Fahne, die heute die meisten Unabhängigkeits-Demonstrationen umweht (siehe oben), ist das Banner der faschistischen katalanischen Partei Estat Català, die bereits zu Zeiten vor und während der Spanischen Revolution in Katalonien separatistisch aktiv war. Sie bekämpfte mit einer paramilitärischen Bande (orientiert an den deutschen Freikorps oder auch der SA) vor allen Dingen die CNT und FAI.

Neu: Proletarisches Mainz – Rudolf Rocker-Stadtführer

Neuerscheinung 18. September 2017

Proletarisches Main

Emmelie Öden

Rudolf Rocker, der bedeutende Theoretiker und unermüdliche Praktiker des internationalen Anarcho-Syndikalismus, ist ein Sohn der Stadt Mainz. Aufgewachsen in einer Handwerkerfamilie wandte er sich früh der Sozialdemokratie zu. Durch die Bewegung der Unabhängigen gelangte er bald an anarchistische Ideen und gehört damit wohl zu den ersten Anarchisten in Mainz. Dieser Stadtführer zeigt in zehn Stationen Orte, die ihn beeinflussten und Wirkungsstätten seiner frühen Agitationsarbeit.

32 Seiten A 5 – farbig mit 15 Abbildungen

ISBN: 978-3-921 404-08-9

Preis: 3,– EURO inkl. Porto bei Vorauskasse.

Köbis und Reichpietsch – Ehre Eurem Andenken: † 5. September 1917 hingerichtet

Albin Köbis (* 18. Dezember 1892 in Berlin; † 5. September 1917 bei Wahn am Rhein) war ein deutscher Soldat der Kaiserlichen Marine, der wegen Beteiligung an einer Meuterei während des Ersten Weltkriegs hingerichtet wurde.

Max Reichpietsch (* 24. Oktober 1894 in Charlottenburg; † 5. September 1917 bei Wahn) war 1917 einer der Organisatoren der Antikriegsbewegung in der Kaiserlichen Marine.

Ehre Eurem Andenken.

Als Matrose war Max Reichpietsch auf dem Großlinienschiff SMS Friedrich der Große war er zusammen mit dem Oberheizer Willy Sachse und dem Matrosen Wilhelm Weber sowie den auf dem Großlinienschiff SMS Prinzregent Luitpold stationierten Heizern Albin Köbis und Hans Beckers der Organisator der Antikriegsbewegung unter den Matrosen der Hochseeflotte im Sommer 1917.

Er wurde verhaftet und am 26. August 1917 als „Haupträdelsführer“ wegen „vollendeten Aufstandes“ zusammen mit Köbis, Sachse, Weber und Beckers in einem Kriegsgerichtsverfahren zum Tode verurteilt. Reichpietsch hatte bereits zuvor insgesamt vierzehn Disziplinar- und Feldkriegsgerichtsstrafen wegen verschiedener Delikte, darunter Unpünktlichkeit, Fernbleiben vom Dienst, Ungehorsam und Diebstahl, erhalten. Das gegen ihn verhängte Todesurteil war eines von 150 während des gesamten Krieges, von denen 48 vollstreckt wurden.

Die gegen Sachse, Weber und Beckers verhängten Todesurteile wurden in Zuchthausstrafen von je 15 Jahren umgewandelt. Am 5. September 1917 wurden die Todesurteile gegen Max Reichpietsch und Albin Köbis auf dem Schießplatz Wahn bei Köln vollstreckt. Heute befindet sich dort die Luftwaffenkaserne Wahn.

Albin Köbis wuchs zwischen den Fabriken des Berliner „Feuerlands“ in der Chausseestraße 16 auf. 1912 trat er freiwillig in die Kaiserliche Marine ein. Politisch stand er dann dem linken SPD-Flügel und später der USPD nahe. Während des Ersten Weltkriegs nahm er Kontakt zu Besatzungsmitgliedern anderer deutscher Kriegsschiffe auf, um eine Bewegung zum baldigen Ende des Krieges zu initiieren. 1917 war er Heizer auf dem Linienschiff SMS Prinzregent Luitpold. Die ständige Kürzung der Rationen führte zu Fällen von Befehlsverweigerung, auf der Fahrt von Kiel nach Wilhelmshaven am 19. Juli 1917 mitten im Kaiser-Wilhelm-Kanal, der dadurch blockiert wurde. Am 24. Juli trafen sich Vertreter der Besatzungen zu einer Beratung, auf der die Durchführung einer Friedensdemonstration zusammen mit Werftarbeitern als Ziel gesetzt wurde. Auf einer Vertrauensleuteversammlung am 27. Juli wurde das Aktionsprogramm konkretisiert und eine Koordinierungsgruppe aus Albin Köbis, Max Reichpietsch, Hans Beckers, Willy Sachse und Wilhelm Weber gebildet.

Köbis wurde bei der Niederschlagung der Rebellion 1917 verhaftet und am 25. August von einem Kriegsgericht zusammen mit vier anderen zum Tode verurteilt. Drei der zum Tode Verurteilten wurden vom Oberbefehlshaber der Flotte begnadigt, Köbis und Reichpietsch wurden jedoch als Rädelsführer am 5. September auf dem Gelände des Fußartillerie-Schießplatzes Wahn am Rhein erschossen. Ihr Grab und ein gemeinsamer Gedenkstein befinden sich auf einem öffentlichen Friedhof (Militärfriedhof) der Stadt Köln innerhalb des militärischen Sicherheitsbereichs der heutigen Luftwaffenkaserne Wahn.

Im weiteren Sinne kann man ihn als Vorkämpfer der Novemberrevolution sehen, die zum Sturz der Monarchie am Ende des Ersten Weltkrieges führte.

Es naht der 1. Mai …

Zum Jahreswechsel

Moin 2017,

schreiberling-2es ist leider weiterhin so, dass das meistverkaufte Buch unseres Verlages das lokale Altonaer Fußballbuch über Adolf Jäger ist. Das ist ebenso erfreulich wie ärgerlich, sind wir doch ein explizit anarchistischer Verlag. Aber wir wollen nicht klagen, denn die Bücher von Doris Ensinger und Tim Wätzold werden über die Zeit auch ihre Käufer finden.

Die angekündigte Erstveröffentlichung von deutschen Texten von Emma Goldmann kostet Zeit und viel Energie, da wir doch einiges an weiterem Material aus der damaligen Yellow-Press (Boulevard-Zeitung seiner Tage, u.a. der New York World von Joseph Pulitzer, einem Konkurrenten des Hearst-Konzern) aus dem Jahre 1893 hinzufügen wollen … es folgt aber in einigen Tagen eine Erstveröffentlichung über Die ‚deutsche‚ Emma Goldmann. Hier dann auch die Neuerung, dass längere Texte auch gleich als pdf-Datei zur Verfügung stehen werden.

Der Reprint des Büchleins von Albert Weidner – Aus den Tiefen der Berliner Arbeiterbewegung – ist nun doch noch erfolgt. Er ist seit Anfang März 2017 für EUR 10,– bei 186 Seiten Umfang käuflich zu erwerben.

Wir drucken hier aber trotzdem zur Erbauung und Erinnerung das Kapital Die Arbeitslosenversammlung ab. Der springende Punkt ist allerdings die doch ziemlich ehrabschneidende Darstellung Albert Weidners, denn er geht auf die Folgen des Skandals nicht weiter ein. Es folgen nämlich umfangreiche Gerichtsverfahren, die als Gummischlauch-Prozesse oder auch als Massenpresse-Prozeß nicht nur in die Annalen der Berliner Arbeiterbewegung und reichsdeutsche Geschichte 1894 eingehen.

Ergänzt wird das Ganze durch einen juristischen Artikel aus der Zeit: Anarchistenprozesse. Hier die pdf-Datei zum schnellen download: bieber_anarchisten-prozesse_1897

Damit machte sich Weidner m.E. nicht nur für seine Ex-Genossen zum Verräter. Dennoch folgt hier eine würdigende Erinnerung an den anarchistischen Genossen und Verleger  Albert Weidner.

Wer selber weiter forschen möchte, hat hier eine Auswahl Zeitungen, in denen nach Vorliebe gut recherchiert werden kann: http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/list/

In diesem Sinne, möge der Glockenschlag der Geschichte mal wirklich zu unseren Gunsten erklingen – noch wartet der „Schläger“ ja mit seinem toque revolucionario … leider seit viel zu vielen Jahren und Jahrzehnten sehnsüchtig.

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verlag | barrikade
25. Dezember 2016

banderarojinegra[27.12.2016]

Die ‚deutsche‘ Emma Goldmann

Die ‚deutsche’ Emma Goldmann

emma_goldmanEmman Goldmann (1869-1940) hier um 1892

Die angekündigte Erstveröffentlichung von deutschen Texten von Emma Goldmann kostet Zeit und viel Energie, da wir doch einiges an weiterem Material aus der damaligen Yellow-Press (den ersten Boulevard-Zeitungen wie der u.a. der New York World von Joseph Pulitzer) übersetzen und ergänzen wollen. Der Text hier als pdf-Datei eg_barrikade-2017

* * *

Emma Goldmann erster Text in einer deutschen Zeitung:
Der Anarchist 1880 - St. Louis

Eingesandt.

Lange Jahre hat es ein Mann fertig gebracht, sich als Held und Märtyrer hinzustellen, die größten Schurkereien zu verüben und zu verlaumden und so die besten Kräfte zu untergraben.
Und dies allen unter dem Deckmantel des Anarchismus, ohne daß auch nur eine Hand sich erhoben hatte, die Maske von dem Gesicht dieses Mannes herab zu reißen.
Der Mann von dem ich hier spreche ist John Most der „Anarchistenführer“, der Mann, der es wagt, sich an die Seite eines Krapotkin. einer Perowskaya und anderer Helden unterer Bewegung zu stellen.
Genossen und Freunde, wenn ich jetzt die Feder ergreife, um Euch diesen Most in das richtige Licht zu stellen, so ist es wahrlich  nicht persönlicher Haß, (ich bin gerade im Interesse der Bewegung noch nicht gegen Most aufgetreten), sondern die Empörung über die Haltung dieses Schuften, unserem Genossen Berkmqann gegenüber. Ja, die Empörung die einen jeden ehrlichen Arbeiter ergreifen muß. über dieses verläumderische Treiben, über dieses Denunziantenthum dieser Demagogen.
Die Genossen werden das Interview, das M. mit einem Reporter hatte, an anderer Stelle übersetzt finden.
Was, frage ich, kann einen Menschen veranlassen, so gemein, so niederträchtig zu handeln?
Einfach der schmutzige persönliche Haß, der Neid und die Furcht ist es, was diesen Menschen treibt so zu sprechen. Most ist feig, feig bis zum Äußersten, daß ist jeden bekannt, der ihn nur ein bischen genau kennt.
Ich, die ich ihn leider gut kennen gelernt habe, die jeden Charakterzug zur Genüge studirte, ich behaupte, daß Most ein ganz erbärmlicher Feigling, ein Lügner, Schauspieler und zugleich ein Waschlappen ist.
Alle seine sogenannten heroistischen Thaten sind nicht der Liebe zur Sache, der Ergebenheit zum Prinzip entsprungen. Oh nein! Es war Berechnung, es war ganz schmutziger Ehrgeiz, der ihn zwang „sein“ Prinzip (?) zu vertreten. Was hat denn Most bisher Großen geleistet? Ein paar Jahre hat er im Gefängniß, wo es ihm nebenbei bemerkt, sehr gut erging, zugebracht, das ist alles. Die Arbeiter haben ihren letzen Cent hingegeben, um es diesen Parasiten an nichts fehlen zu lassen.
Wo es aber galt, irgend eine That zu vollbringen oder andere zu unterstützen, da hat er sich stets feige und erbärmheh gezeigt.
Ich führe nur aus letzter Zeit einige Beispiele an, die Versammlung auf Union Square am 1.. Mai, wo er aus Furcht nicht hinkam, troztdem er Wochen zuvor aufforderte die Genossen möchten sich an der Maidemonstration betheiligen. — Weiter die Versammlung in Philadelphia, die er deshalb sich nicht zu adressiren getraute, weil kurz zuvor Genosse Hoffmann verhaftet wurde.
Und die größte und gemeinste Feigheit die jetzigen Handlung Most‘s. Aus Angst und persönlichem Haß erzählt er allerlei Lügen über Genossen Berkmann. Anstatt diese That propagandisch auszunützen, versucht er sie in den Koth hinab zu ziehen. Nichts ist ihm zu schlecht, um es gegen B. anzuwenden. Er erzählte unter anderem dem Reporter, daß B. ein sehr ungeschickter Arbeiter sei, troztdem er mir und anderen gegenüber hundertemal betheuerte, daß B. ein sehr geschickter und fleißiger Arbeiter sei.
Aber weil B. frei und offen M. die Meinung in‘s Gesicht sagte, weil er gesagt hat, daß er alles andere eher sei, als ein Anarchist, weil B. die Corruption und den Schmutz in der „Freiheit“ aufgedeckt, wurde er Mitte Juli entlassen, mit dem Versprechen bald wieder eingestellt zu werden.
Genossen! wenn in Euch noch ein Funken Selbstachtung vorhanden ist, wenn Ihr nicht theilnehmen wollt an den Schurkereien dieses Charlatan, dann bedenkt diese Worte.
Ihr seid es, die ihn ernähret, die ihn Mittel schafft, um ein feines Leben zu fuhren. Durch Euren Schweiß und Euer Blut, hat er sich einen Namen erworben. Hat er doch so oft gesagt, er sei lieber Carl Schurz als John Most.
Genug der Worte, denn man müßte ein Buch schreiben, um all die elenden Handlungen zu behandeln.
„Die Polizei will ihn verhaften.“ Eine größere Dummheit, eine größere Schande könnte der That B.‘s nicht gemacht werden. B. würde Most niemals etwas anvertrauen, einfach weil er diesen Schwätzer kennt Most hat schon manche That eines Genossen hintertrieben, so manche Tapfern abgehalten etwas zu thun. Das fanatische russische Volk hat die Niedertracht eines Alexander III. erkannt, hoffentlich werden auch die aufgeklärten deutschen Genossen endlich die elenden Handlungen eines Most erkennen.
Denn solange wir solche Demagogen groß ziehen, welche durch uns und unsere Groschen „Größen“ werden, wird die Bewegung gehemmt sein und die herrschende Klasse triumphieren.
Worte helfen bei solchen Menschen nichts; eine Tracht Hiebe würde diesen Menschen wohl nicht ändern, aber ihm das Maul stopfen.

Emma Goldmann.

• Der Anarchist, 30. Juli 1892

* * *

Schlecht beraten.

In’s Fahrwasser des Anarchismus gerathen die Arbeitslosen.

Die gestrige Demonstration auf Union Square — In Brandreden wird radikaler Unsinn verzapft und denen, die nach Brod schreien, wird ein Stein gegeben.

Professionelle Hetzer, Volksverführer, Utopisten und Demagogen machen sich die mißliche Lage, in welche infolge der allgemeinen Geschäfts-Depression ein großer Theil der Arbeiter gerathen ist. weidlich zu Nutze und tragen durch die maßlose Aufreizung der niederen Klassen das ihrige dazu bei, daß die Situation sich, wenn dies möglich ist, noch verschlechtert. Beweis hierfür ist die Demonstration, welche gestern Abend stattfand.

Mit einer zweiten großen Massenversammlung auf dem Union Square, noch größer als die am Samstag stattgehabte, schloß der gestrige Tag für die Arbeitslosen.

Etwa fünftausend Menschen hatten sich auf dem großen Platze, der so manche Volks-Demonstration gesehen, eingefunden und besonders unter ihnen auffallend war die Zahl der jungen Leute unter 25 Jahren. Der Demonstration auf dem Square ging ein Umzug der Arbeitslosen heran, welcher um 7 Uhr Covenant Hall, No. 56 Orchard Str., verließ und etwa 2500 Mann stark die Orchard Str. hinauf ging, die Houston Str., Ave. A, 2. Str., 2. Ave., 13. Str. passirte und um 7 ½ Uhr auf dem Square eintraf.

Der Umzug war ein sehr ruhiger und der einzige zu erwähnende Vorfall war, daß Kapitän Devery in der Orchard Str., zwischen der Rivington und Delancey Str., einem der Männer eine schwarze Flagge wegnahm und sie konfiscirte.

Auf der Terrace vor der Cottage am Square präsidirte David Levy. während zwei Lastwagen zu beiden Seiten der Cottage als Rednertribünen verhielten. Dr. Theodore Kinzel, der erste Redner, erklärte, daß er ein Anarchist sei, worauf er die bestehende Gesellschaftsordnung kritisirte, die „sociale Revolution“ ankündigte und den Anwesenden rieth, sich für dieselbe vorzubereiten.

Unter den anderen Rednern war es besonders der Schneider John Timmermann [1], welcher durch seine aufreizende maßlose Redeweise die Anwesenden packte. „Wir müssen Brod haben“, rief er; „wenn die Kapitalisten Euch ohne Brod lassen, so sind sie Mörder und wenn sie uns kein Brod geben, so müssen wir es nehmen. Wir sind keine Politiker und haben nichts mit der Politik zu thun.“ Nachdem er von der französischen Revolution gesprochen, erklärte er, daß auch hier Straßenkämpfe stattfinden würden.

Bereitet Euch auf die sociale Revolution vor. Gewalt gegen Gewalt! Ich sage Euch, die Zeiten werden noch schlechter werden, wie sie jetzt bereits sind, und man wird uns auf den Straßen tödten. Ihr habt die Paläste gebaut, Ihr habt alles geschaffen, aber Ihr selbst habt nichts. Fordert Brod! Es ist Euer Recht, dasselbe zu verlangen, und könnt Ihr es nicht bekommen, so könnt Ihr es ja nehmen“ Er schloß mit den Worten: „Hoch lebe die Anarchie!

Nach ihm sprachen Arthur Morton, F. Herschdorfer und Bamet Brave. Letzterer erklärte, daß man sie Anarchisten nenne, weil sie Brod verlangten, und man rufe dann die Polizei herbei, sie zu verhaften. „Wenn sie einen verhaften, sollen sie alle mitnehmen, alle unsere Familien. Man hat mir mitgetheilt, daß ich verhaftet werden soll. Sie sollen es nur thun. Ich kann im Gefängnis nicht schlimmer daran sein, als ich es jetzt bin. denn morgen soll ich ermittirt werden. Giebt man uns kein Brod, so werden wir es nehmen.

Emma Goldmann sprach dann zu der Menschenmenge, welche begierig den Wortschwall der Petroleuse verschlang und denselben stürmisch applaudirte.

Das ist das Land eines Thos. Jefferson, eines John Brown, eines Abe Lincoln.“ geiserte die Maulheldin in schlechtem Englisch, „und in ihm schreien Hundertausende nach Brod. Könnten jene dieser Versammlung beiwohnen, so wurden sie vor Scham erröthen. Die Reichen wohnen herrlich und in Freuden und ihre Frauen haben alles, was das Herz begehrt, aber die Lohnsklaven sind schlimmer daran, wie die Farbigen in der Sklavenzeit. Die schlechte Zeit kommt nicht von der Silberkrise her. sie hat andere Ursachen. Ihr verlangt Brod und wenn Ihr es nicht auf friedlichem Wege bekommen könnt, so werdet Ihr es Euch mit Gewalt holen. Vereinigt Euch und nehmt es mit Gewalt, wenn Ihr es nicht friedlich bekommen könnt. Man hat in den Zeitungen berichtet, daß Arbeiter nach Albany gehen wollen, um dort Forderungen zu stellen; was werden sie erhalten? Nichts. An solche Geschichten glaube ich nicht mehr. Verlaßt Euch auf Eure eigene Kraft, da die Kapitalistenklasse die Polizei bewaffnet hat. Nochmals, könnt Ihr kein Brot bekommen, so nehmt es mit Gewalt. Geht hinaus in die sociale Revolution!

Der Wortlaut der Brandrede ist nur deshalb bemerkenswerth, weil sich voraussichtlich die Polizei mit der Urheberin derselben befassen wird.

Nur wenige Redner sprachen nach Emma Goldmann. Es hatte sich inzwischen das Gerücht verbreitet, daß die Polizei beschlossen habe. Timmermann und Emma Goldmann wegen ihrer Reden zu verhaften und dies sah um so wahrscheinlicher aus, als sich wohl ein Dutzend Detektives auf der Platform befand.

Plötzlich verschwand Timmermann, und man konnte nicht in Erfahrung bringen, ob er verhaftet worden sei oder ob ihn seine Freunde fortgcschmuggclt hänen. Nachdem Emma Goldmann geendet, entfernte sie sich langsam in Begleitung einiger Freunde.

Mehrere Reporter folgten, sowie ein kleiner Menschenhaufen. Durch den Park ziehend, schwoll der Zug im Nu um Hunderte an und als er um die Cottage gehend die Ecke der 17. Str. und 4. Ave. erreicht hatte, befanden sich nahezu tausend Leute in Emma’s Gefolgschaft.

Immer größer wurde das Gedränge. Es ging die 4. Ave. hinunter bis zur 14. Str. und als man dieselbe erreichte, waren wenigstens 2000 Personen in dem Zuge. Plötzlich kam der Haufen zum Stillstehen. Emma hatte eine in westlicher Richtung fahrende Car bestiegen und mehrere Leute waren nach ihr hinaufgesprungen. Die Car entfernte sich und langsam ging die Menge auseinander. Es hieß, daß sie noch später  verhaftet werden würde.

Im Laufe des Tages fanden zwei sehr ruhige Massenversammlungen der Arbeitslosen statt, eine in Covenant Hall, No. 56 Orchard Str.. und die andere in Pythagoras Hall in der Canal Str. nahe der Bowery. In letzter sprachen A. Jablinowski, Jos. Lederer, M. Hillkowitz und Jac. Milch, welche die Anwesenden ermahnten, keine Ruhestörungen zu begehen. In der ersteren sprach Emma Goldmann, welche die entgegengesetzte Maßnahme empfahl. (…)

  • New Yorker Staats-Zeitung, New York, 22. August 1893  [zitiert nach: EG Band 1, S. 142-144]

* * *

Interview in der New York World, 28. Juli 1892 [1]

Die Höhle der Anarchie.

———

Emma Goldman, ihre Königin, regiert mit einem Nicken die wilden Roten.

———

PEUKERT, der schweigsame Autonomist, die Macht hinter ihr.

———

BERKMAN, der Attentäter, das Werkzeug dieser Führer.

———

Ihr Hauptquartier in einer billigen Wohnung in der Fünften Straße.

———

[…] Und hier war Emma Goldman.[2]

In der äußersten Ecken, nahe einem staubigen, mit Spinnweben verhangenen Fenster, saß eine Frau. Allein in dieser Versammlung hartgesichtiger, halbbekleideter Männer, eingehüllt in einer dichten Wolke erstickenden Rauchs, lehnte sie sich gelassen in einem Kneipenstuhl zurück und las. Sie schien ziemlich hübsch zu sein. Die Lehne ihres Stuhls lehnte gegen die hintere Mauer, und ihr linker Fuß ruhte auf der Sprosse eines Stuhles, der vor ihr stand. Ein weißer Strohhut mit einem blauen, weiß gepunkteten Band lag auf dem Tisch neben ihrem Ellenbogen.

Haselnußbraunes Haar, das seitlich gescheitelt worden war, war über ihrer Stirn aufgeplustert und ließ nur eine Spur dieses Teils sichtbar werden. An der Rückseite war das kurze Haar nachlässig arrangiert. Sie hatte einen wohlgeformten Kopf; eine lange, niedrige weiße Stirn; helle blaugraue Augen, bewehrt mit einer Brille; eine kleine, fein gemeißelte Nase, an den Nasenlöchern eher zu weit, um symmetrisch zu sein; die Haut farblos; Wangen, die einst voll gewesen waren, aber nun leicht eingesunken sind, geben einem Gesicht, das seine Formschönheit im rapiden Abfall zum Kinn verliert, eine etwas zusammengedrückte Erscheinung. Der Mund in Ruhestellung ist hart und sinnlich, die Lippen voll und blutlos.

Ein Nacken, der einst gerundet war, war immer noch wohlgeformt, aber als sie ihren Kopf drehte, wölbten sich die Sehnen aus der Magerkeit heraus, und Flecken hier und dort verstärkten die heftige Enttäuschung, die einen überkommt, nachdem man den oberen Teil des Gesichtes verlassen hat. Eine schlanke Figur, fünf Fuß vier oder fünf Inches [1,65 – 1,68 m] groß, gut geformt mit festem Fleisch, gekleidet in eine weiße Bluse, einen ockerfarbenen Gürtel und einen Rock aus blauem Satin mit weißen Streifen und ockerfarbenen Schuhen.

Das war Emma Goldman, während sie in der anarchistischen Trinkhöhle [3] saß, gestern Nachmittag, um 5 Uhr.

„Sie sind Fräulein Emma Goldman?”

„Das bin ich.”

Der Reporter machte ein paar Scherze, und sie lächelte. Ihre Lippen verzogen sich zu Falten, die ihr Gesicht häßlicher machten, als es in Ruhestellung war [4]. Die beiden Vorderzähne standen weit auseinander, und an beiden Seiten waren Zahnlücken, die das Innere des Mundes schwarz aussehen ließen, oder eher wie jener stumpfe undurchsichtige Farbton, der für die Mäuler einiger Schlangen charakteristisch ist. Ihr Englisch war gut, mit sicherer Betonung, aber es gab einen bemerkbaren Akzent.

Stolz ein Anarchist zu sein.

„Ja, ich kenne Berkman. Er ist ein großartiger Mann – ein Mann voller Intelligenz und Mut. Ob ich ein Anarchist bin? Ich bin es, und ich bin stolz darauf. Sie haben Mollock verhaftet, wie ich sehe. Nun, ich bin sicher, daß Mollock nichts mit der kleinen Affäre in Pittsburgh zu tun hatte.” [5]

„Aber Mollock und Berkman waren Freunde?”

„Oh ja, sie waren Freunde, und ich nehme an, Mollock schuldete Berkman etwas Geld. Tatsächlich weiß ich, daß er das tat,und darum schickte er es ihm.”

„Wann haben Sie Berkman zuletzt gesehen?”

„Oh, vor einiger Zeit; vielleicht vor einer Woche oder vor zehn Tagen. Ich kann mich nicht genau erinnern.”

„Hat er Ihnen gesagt, wohin er gehen wollte und was vorhatte?”

„Nein, er zieht Leute in solchen Dingen nicht ins Vertrauen.”

„Aber Sie sind seine Frau?”

„Ha! ha! ja, ich bin seine Frau, aber auf anarchistische Art, Sie wissen nicht, was das bedeutet! Die Anarchisten glauben nicht an Eheschlüsse nach dem Gesetz. Wir wollen kein Gesetz, und wenn wir vereinbaren zu heiraten, nun, ha! ha! das ist es.”

„Die anarchistische Ehefrau erwartet nicht das Vertrauen ihres Gatten?”

„Warum sollten wir? Aber das ist eine Sache, die ich nicht zu diskutieren beabsichtige.”

„Sie haben mit Frau Mollock zusammengelebt?” [6]

„Ja.”

„Der Name unter der Klingel ist Pollak, ist das ihr richtiger Name?”

„Ich nehme es an. Sie ist Mollocks Frau, so wie ich Berkmans bin. Sie konnte nicht mit ihrem ersten Ehemann leben und ging mit Mollock.”

„Aber Mollock unterzeichnet seine Briefe an sie mit dem Namen Pollak?”

„Stimmt das?”

Fräulein Goldman versuchte spaßig zu sein. Es war ein schrecklicher Fehlschlag, den sie nicht wiederholte.

Die Polizei ermüdet mich.”

„ Mollock lernte seine Frau in Buffalo kennen, und als sie hierher kamen, half Berkman ihnen, und wir lebten alle in der Chrystie Street zusammen. Nein, ich weiß nicht, wo seine Frau jetzt ist, aber ich glaube, sie ist nach Long Branch gegangen, um ihren Gatten zu sehen. Die Zeitungen haben um mich einen großen Aufstand gemacht, aber ich habe mich nicht versteckt. Ich bin die ganze Zeit in der Stadt gewesen.”

„Sind Sie gestern Abend von Chief O’Mara [7] von der Pittsburgher Polizei besucht worden?”

„Nein, wurde ich nicht. Die Polizei ermüdet mich. Die meisten sind Trottel. Sie wandern geheimnistuerisch herum und machen nichts. Alles was sie taten war, den alten Narren Most [8] ins Gefängnis zu stecken.”

„Sie sind ein Freund von Most?”

„Ein Freund! Der alte Betrüger! Ich wünschte mir nur, daß ich, als ich die Möglichkeit dazu hatte, ihn dazu gebracht hätte, mir etwas von seinem Geld zu geben. Er ist ein Feigling und ein Anarchist nur gegen Bezahlung.”

„Waren Sie nicht seine anarchistische Gattin, bevor er sich mit Lena Fischer [9] zusammentat und Sie Berkman trafen?”

„Ha, ha, ha!”

Wieder dieses harte, unmusikalische Lachen. Diese Mal hatte es einen Beiklang von Unehrlichkeit an sich, der ihre Worte Lügen strafte. „War ich nicht”, sagte sie entschieden [10].

„Wann hatten Sie die Möglichkeit, ihn dazu zu veranlassen, daß er ihnen Geld gibt?”

„Ihr Reporter seid zu impertinent. Ich hasse Reporter.”

„Warum?”

„Weil ich alle Inquisitoren hasse. Ich habe dieses ganze Land bereist, Vorträge vor den Gruppen gehalten, und ich habe hier gesprochen, als diese Memme Most Angst vor der Polizei hatte. Ja, ich bin eine Russin, aber ich habe nicht die Absicht zu sagen, aus welchem Teil Rußlands. Aber vor allem bin ich Anarchist.”

„Sind Sie denn stolz auf das, was Ihr Geliebter erreicht hat?”

„Das bin ich tatsächlich; das sind wir alle.”

„Sie haben letzten Sonnabend verschiedene Telegramme erhalten; waren sie von Berkman?”

„Ich habe jetzt nicht mehr die Absicht, mehr zu sagen. Ich habe Ihnen genug erzählt, und ich schätze, Sie werden einen Haufen Lügen schreiben. Das macht ihr alle, denn eure Leute müssen sich an die Kapitalisten verkaufen, die euch das Brot geben, und die Kapitalisten mögen es, die Lügen über uns Anarchisten lesen.”

„Wollen Sie mir nicht erzählen, wann Sie zuletzt von Berkman gehört haben?”

„Das geht die Öffentlickeit nichts an. Jetzt, mein Herr, werde ich nichts mehr sagen. Und wenn Sie mir die ganze Nacht Fragen stellen würden, ich würde nicht antworten.”

Die anderen Anarchisten erhoben sich.

Einer nach den anderen hatten sich die dunkelhäutigen, halbbekleideten und schmutzigen Anarchisten aus dem Vorderraum dem Platz genähert, wo ihre Königin saß. Einer von ihnen hatte ihr möglicherweise ein Zeichen gegeben, nichts mehr zu sagen. Ein Dutzend handfester schwarz- und rotbärtiger Anarchisten standen ein paar Schritte hinter den Rücken des Reporters. Ein anderer Reporter näherte sich und stellte Emma Goldman eine Frage. Während ihre Augen der Gruppe ihrer Freunde einen bedeutsamen Blick zuwarfen, sagte sie mit einer Stimme, die weitaus lauter als notwendig war, so laut, daß sie sogar im Vorderraum gehört werden konnte:

„Ich habe nichts zu sagen. Wollen Sie mich nicht allein lassen?”

Als ob ihre Worte ein Signal gewesen wären, umzingelte ein halbes Dutzend Anarchisten den Reporter, fuchtelten mit ihren Fäusten in der Luft herum und schleuderten Flüche und Beschimpfungen auf Deutsch und Russisch gegen die Reporter. Ein Mann stand nahe bei einem Tisch, mit einem Eispickel in seiner Hand.

Alle Reporter sollten umgebracht werden.”

Die Gruppe wurde größer. Emma Goldman stand auf. Ein stämmiger Anarchist, breiter gebaut als Sullivan [11], ballte seine Fäuste und rief – sein Gesicht gerötet von Bier, Hitze und Zorn – auf Deutsch, daß alle Reporter umgebracht werden sollten.

„Ja, er kann Deutsch verstehen!” heulte er. „Du – –!”

„Nein”, antwortete die Frau auf Deutsch, „er ist ein Amerikaner.” Sie lächelte dieses hohlwangige Lächeln, während ihre Augen hinter ihren Brillengläsern leuchteten. Ein glücklicher und stolzer Ausdruck war auf ihrem Gesicht, und während sie einen schwachen Versuch machte, ihre Sklaven zu beruhigen, bekam ihr fahles Gesicht einige Farbe, und sie stand da, von Lächeln umkränzt, inmitten von Rauch und Bierdünsten. […]

interview-womans-anarchy-1892Anmerkungen

[1] New York World, 28. Juli 1892, S. 2. Anmerkungen des Übersetzers sind mit (AdÜ) gekennzeichnet, alle anderen sind aus der Vorlage übernommen. Emma Goldman wird mit EG, Alexander Berkman mit AB abgekürzt. (AdÜ)

[2] Der Artikel enthält eine Zeichnung von EG. Er fährt fort mit kurzen Interviews mit Claus Timmermann und Josef Oerter, die sich beide vor polizeilichen Ermittlungen durch vage und ausweichende Antworten auf die Fragen des Reporters schützten. Die Überschrift bezieht sich auf Joseph Peukert, anarchistischer Kommunist und ein Führer der Gruppe Autonomie.

[3] Zum Großen Michel, der Saloon in 209 Fifth Street, dem regelmäßigen Treffpunkt der Gruppe Autonomie wie auch die Adresse der Brandfackel und von Claus Niedermann, der die Brandfackel herausbrachte, während ihr Gründer und Herausgeber Claus Timmermann 1893 auf Blackwell’s Island inhaftiert war. Der Reporter bemerkte später, daß „an den Wänden Werbung für anarchistische Zeitungen hing und sich in einem Regal gebundene Ausgaben von La R[é]volt[é], [Die] Autonomie und andere Zeitschriften mit offensichtlich anarchistischer Ausrichtung befanden”.

[4] Der Satz lautet in der Vorlage: „Her lips wreathed into lines that were uglier than when her face was in repose.” (AdÜ)

[5] Die Polizei in Long Branch, New Jersey verhaftete auf Anforderung der Polizei von Pittsburgh Frank Mollock um den 23. Juli, weil er an AB in Pittsburgh sechs Dollar geschickt hatte. Mollock gab zu, das Geld geschickt zu haben, leugnete aber jegliche Beteiligung an ABs Versuch, Henry C. Frick umzubringen – die „kleine Affäre”, auf die sich EG in dem Interview bezieht. AB erzählte im Gefängnis, wie er direkt nach seiner Ankunft in New York am 10. Juli versucht hatte, Geld einzusammeln, das ihm verschiedene Genossen schuldeten.

[6] Josephine Mollock, bei der EG und AB gewohnt hatten, hatte anscheinend auf Druck des Vermieters EG nach ABs Attentat aus der Wohnung ausgesperrt.

[7] O’Mara, der Chef der Polizei von Pittsburgh, hatte kurz zuvor behauptet, daß ABs Anschlag auf das Leben von Henry C. Frick Teil einer anarchistischen Verschwörung sei, siebzig Millionäre zu ermorden, deren Namen auf einer Liste erschienen, die in der Schreibtischschublade des Pittsburgher Anarchisten Henry Bauer gefunden worden sei, der als Komplize verdächtigt wurde.

[8] Johann Most war kurz zuvor aus dem Gefängnis entlassen worden, wo er eine Haftstrafe abgesessen hatte (Juni 1891 bis April 1892), die er für seine Brandrede vom 12. November 1887, dem Tag nach der Exekution der Haymarket Märtyrer, erhalten hatte.

[9] Lena Fischer war die Schwester des Haymarket-Anarchisten Adolph Fischer, obwohl der Reporter sie mit Helene Minkin verwechselt haben mag, einer jungen Anarchistin, die mit EG und AB zusammengewohnt hatte und später Johann Most heiratete.

[10] Tatsächlich fühlte sich EG zu Most sowohl als Liebhaber wie als Mentor hingezogen, kurz nachdem sie das erste Mal nach New York gezogen war. Er ermutigte sie, half bei der Organisierung ihrer ersten Vorträge und unterstützte so den Anfang ihrer Karriere als öffentliche Rednerin.

[11] Hinweis auf den Schwergewicht-Weltmeister im Bare-knuckle-Boxen (Boxen ohne Handschuhe) John L. Sullivan, der den Titel von 1885 bis 1892 hielt.

• Quelle: The Emma Goldman Papers, Berkeley Library, University of California
http://www.lib.berkeley.edu/goldman/pdfs/Anarchy%27sDen_GoldmanSuspectedintheFrickAssassinationAttempt.pdf

[ Übersetzung und bearbeitet von  Jonnie Schlichting | barrikade ]
eg-1901-polizeifotoPolizeifoto nach ihrer Festnahme nach Arbeitslosen-Rede am Union Square 1893

 Einer ihrer ersten Artikel in einer anarchistischen Zeitschrift:

Das Recht der freien Rede in Amerika.

Es ist schon lange nichts Neues mehr, daß die herrschende Klasse Amerikas unter dem Deckmantel der sog. Freiheitlichen Institutionen einer Republik, die größten Niederträchtigkeiten und schamlosesten Vergewaltigungen dem arbeitenden Volke gegenüber begangen hat.  Die Gefängnisse Amerikas bergen eine große Zahl von Menschen,  die es gewagt hatten für ihre unveräußerlichen Rechte einzutreten; gar nicht jener Zahlreichen zu gedenken, die von Seiten des herrschenden Raubgesindels auf feige und niederträchtige Art hingemeordet wurden. Das Recht der freien Rede wurde zwar schon längst mit Füßen getreten, die herrschende Klasse konnte aber bisher die Ausrede gebaruchen, daß bei dieser oder jener Gelegenheit ihre Schergen von den Arbeitern attaquirt wurden, oder daß das Eigenthum irgend eines Blutsaugers gefährdet schien und sie daher das Recht hätte, dieselben zu zu bestrafen und Reden zu unterdrücken, die zu derartigen Handlungen aufreizen.

Das Elend der Arbeiterschaft Amerikans wächst von Jahr zu Jahr und niemals haben es noch die Hungernden gewagt, ihre Stimme laut werden zu lassen. In diesem Jahre aber wurde die Noth zu groß, der Hunger gräßlich und die Arbeiter wollen ihr Joch  nicht länger mehr ertragen. Der Schrei der Unterdrückten und Hungernden ertönt aus allen Ecken und Enden Amerikas, und die Entrechteten versammelten sich zu Tausenden, um den Ausführungen der Redner mit Spannung und Aufmerksamkeit zuzuhören. Solches liegt gar nicht im Interesse der herrschenden Blutsaugerbande — das wäre ja das Recht der freien Rede auf eine ganz sonderbare Art interpretirt. Wir, die Arbeiter, diese unsere Sklaven, unsere Ausbeutungs-Objekte, ihnen soll dieses Recht auch zugestanden werden? Nie und nimmermehr! In dem Momente wo die Arbeiter sich ihrer wahren Lage bewußt werden, derselben Ausdruck zu geben suchen und so an unseren Vorrechten rütteln, in diesem Momente ist unsere Existenz auf das Ernstlichste bedroht.

So und ähnlicher Art hat die capitalistische Bande in den letzten Tagen gedacht und gesprochen und in ihrer Angst und Bestürzung ihre Heer von Schergen auf diejenigen gehetzt, die es unternommen, die hungernden Arbeitslosen aufzuklären und denselben Mittel und Wege anzugeben — sich Brod zu verschaffen.

Nach Ansicht der herrschenden Capitalistenbande, haben also die Arbeiter, diese modernen Slaven des neunzehnten Jahrhunderts, hierzulande nicht den geringsten Anspruch auf das Recht der freien Rede; sie haben kein Recht, ihre Forderungen um Brot geltend zu machen; sie haben kein Recht, über ihre Noth und ihr Elend und über die Mittel zur Beseitigung derselben zu sprechen: sie haben kein Recht, von der reichgedeckten Tafel des Lebens etwas für sich in Anspruch zu nehmen — sie haben nur ein Recht: das Recht, geduldig zu verhungern.

Von diesem Geiste beseelt, hetzten also die aus ihrer Ruhe und Behaglichkeit gescheuchten Volksbedrücker ihre Bluthunde auf einige der Redner, die in den Arbeiterslosen-Versammlungen der letzten Zeit es versuchten, das gedrückte, entrechtete und ausgesogene Volk auf die richtige Bahn zu leiten und demselben zu zeigen, wie es sich von einem schmählichen Sklavenjoche befreien könne. Der ganze Büttel-Apparat von New York und Philadelphia wurde beispielsweise in Bewegung gesetzt und eine ganze Scharr von Spionen war in Thätigkeit um meiner Person habhaft zu werden, trotzdem ich nicht das Geringste unternahm mich vor den Häschern zu verbergen, vielmehr überall offen und frei meine Tätigkeit weiter entfaltete. Ich will mich über die mir seitens der Polizeibrut zu Theil gewordenen brutalen Behandlung und über die ganz niederträchtige Vergewaltigung, die mir von den Philadelphier Behörden wiederfuhr, hier nicht weiter ergehen — das eine nur will sagen, daß in meinen Augen der Leichenschänder des Schlachtfeldes ein ehtenwerter Mann ist im Vergleich zum Polizisten im Allgemeinen, und zum amerikanischen Polizisten im Besonderen. — Ich hatte es in ganz kurzer Zeit während rneiner Haft in Philadelphia herausgefunden, daß man mich mit den angewandten raffinirten Torturen und niedrigen Anträgen zu demoralisiren suchte.

Bekanntlich soll das Weib hierzulande mehr Rechte haben. Ja, aber nicht das Proletarierweib, nicht eine Anarchistin. Mit Verachtung sieht der Amerikaner auf die Despotie RußIands hin und doch werden hier unter dem Deckmantel der Freiheit dieselben Greuelthaten am Volke begangen. Nun wohl, wenn ich nicht frei meine Meinung sagen kann, so werde ich noch andere Mittel und Wege finden um dem Volke die Augen zu öffnen., zu ihm zu sprechen, daß den capitalistischen Cäsaren Amerikas das Herz im Leibe beben wird; ich werde der feigen Bande die Maske der Lüge noch vom Gesichte reißen. Die Idee der wahren Freiheit wird fortleben bis zum Tage der großen Abrechnung; an diesem Tage wird das jahrtausende lang getretene und gedrückte Volk zu neuem Leben erwachen — zum wahrhaftig freien Leben in der Anarchie.

Emma Goldmann.
Tombs Prison, New York

  • Die Brandfackel, 1. Jg., Nr. 2 – 13. September 1893 (S. 3-5)

Brandfackel-Logo

[1] Claus Timmermann, emigrierte um 1883 in die USA und wirkte ab 1889 in St. Louis als Anarchist, gab hier u.a. die Zeitschrift Die Parole (1884-1891) mit herausaus und von 1889-1891 Der Anarchist. Dann in New York war er Herausgeber der Brandfackel (1893-1894), des Sturmvogels (1897-1899). Er arbeitete u.a. als Tischler (baute Setzkästen), als Tellerwäscher und als Handwerker. Er starb im Camp Greylock im Jahr 1941.

„Ein glühender deutscher Anarchist … Er hatte erhebliches poetisches Talent und schrieb kraftvolle Propaganda … Er war ein sympathischer Kerl und ganz vertrauenswürdig, obwohl ein erheblicher Trinker“.
Mein Leben. Emma Goldman über Claus Timmermann

eg-anzeige-bf-1893

anarchists-in-action-1894[27.12.2016]

Anarchistenprozesse.

Hier noch ein kleiner juristischer Nachschlag zu Albert Weidners Aus den Tiefen der Berliner Arbeiterbewegung und den Prozessen um die Arbeitslosendemonstration 1894 in Berlin.
Als pdf bieber_anarchisten-prozesse_1897

Adler_Deutsches-Reich

Dr. jur. Richard Bieber (Berlin)

Anarchisten-Prozesse. [*]

Es dürfte allgemein bekannt sein, dass in unserer Gerichtspraxis die einzelnen Sachen in der Weise bezeichnet werden, dass man den Namen des Angeklagten nennt und die Strafthat hinzufügt, wegen der die Anklage erhoben wurde. So wurde der letzte Aufsehen erregende Prozess vor dem hiesigen Schwurgericht richtig in den Zeitungen bezeichnet: „wider Koschemann und Genossen wegen versuchten Mordes“. Von dieser wohl für ganz Deutschland gängigen Praxis wird aber in der amtlichen Aktenbezeichnung eine Ausnahme gemacht, welche nicht bekannt sein dürfte. Seit mehreren Jahren bezeichnet man bei dem Landgericht I zu Berlin eine Reihe von Strafthaten nicht bloss wie oben angegeben, sondern es steht auch noch auf dem Aktendeckel von vornherein roth unterstrichen der Name [1] „Anarchistensache“, und zwar wird dieser Name nur aus dem Grunde daraufgesetzt, weil die politische Polizei den Angeklagten als Anhänger der politischen Lehren des Anarchismus bezeichnet. So unscheinbar an sich diese Aeusserlichkeit einem dem Gerichtsleben Fernstehenden vorkommen mag, so schwerwiegend ist sie in Wirklichkeit. Gerade bei unserem Strafverfahren und der dasselbe beherrschenden freien Beweiswürdigung darf man psychologische Eindrücke in keiner Weise unterschätzen. Man muss sich klar machen, wie selbst in unseren Richterkreisen, und natürlich noch mehr in den weiten Kreisen der Bevölkerung überhaupt, eine fast absolute Unwissenheit herrscht über das, was die Anarchisten-Lehre predigt und bezweckt, um übersehen zu können, welches Vorurtheil von vornherein wachgerufen wird, wenn auf der Anklagebank eine Person vorgeführt wird, die durch die Bezeichnung Anarchist in den Augen der Richter jeder That fähig erscheint, welche gegen Gesetz und Gesellschaftsordnung verstösst. Sind doch nach Meinung unendlich Vieler die Anarchisten Leute, die mit Bomben in der Tasche umherlaufen, um bei erster bester Gelegenheit eine Schreckensthat zu begehen. Bezeichnet nun gar der Vertreter der politischen Polizei auf Grund seiner, von unbekannten und ungenannten Hintermännern ihm gewordenen Information den Angeklagten als Anhänger der Propaganda der That, so überlauft sämmtliche Betheiligte ein Gruseln, das wahrlich nicht dazu beitragt, eine objektive Urtheilsfindung zu erleichtern.

Vor Allem muss darum auch immer und immer wieder darauf hingewiesen werden, dass die Lehren des Anarchismus an sich absolut nichts mit den Schreckensthaten, welche von einzelnen Anhängern dieser Lehren zweifellos verübt worden sind, zu thun haben. Bezeichnet doch Elisée Reclus, der berühmte Geograph und Anarchist, als Propaganda der That: die vorbildliche Lebensführung, welche beweise, dass jeder Herrschaftszwang entbehrlich sei, und verlangt, dass die Anarchisten durch eine solche Propaganda der That für ihre Ideallehre eintraten. Die grosse Zahl der sogen. Anarchisten, welche unter dieser Bezeichnung die Anklagebank betreten und meistens als Verurtheilte verlassen haben, bestritten auf das Entschiedenste, und in durchaus glaubwürdiger Weise, Anhänger der Propaganda der Thal im Sinne der Anklagebehörde zu sein. In der langen Reihe von Anarchisten-Prozessen, die sich in Berlin seit dem Jahre 1892 vor dem Prozess Koschemann abgespielt hatten, ist niemals ein Delikt auch nur nur Sprache gekommen, das als ein spezifisch anarchistisches, d. h. als gewalttätiges wahlloses Zerstören von Eigenthum und Leben gerichtetes, bezeichnet werden kann. Es handelt sich fast immer um Pressvergehen oder um aufreizende Reden.

Die Art und Beurtheilung dieser Delikte zeigen am deutlichsten einige Beispiele. Im September 1893 befanden sich auf der Anklagebank 3 Männer, beschuldigt der Geheimbündelei. Monatelang waren zwei derselben aua den Grunde in Untersuchungshaft, weil sie den dritten gekannt, anarchistische Schriften besessen, und der eine überdies 2 Adressen bei sich geführt hatte, über welche er glaubhafte Auskunft nicht hatte geben wollen, während der andere in einem Brief an den Hauptangeklagten erwähnt worden war und im Besitz eines Briefes sich befunden hatte, in dem zwei Mal die Abkürzung K. A. vorkam und ausserdem die Worte „Ich verbitte mir solche Injurien, wie Kutschergruppe, so wat jiebts hier nicht zu lecken”. Die Anklage folgerte hieraus, dass der Angeklagte mit dem Klub Autonomie in London zu thun, und „dass er zur Bildung einer anarchistischen Kutschergruppe aufgefordert habe”. In Wirklichkeit war mit K. A. „Kommunistische Anarchisten“ gemeint, der Adressat war gar kein Kutscher, sondern Mechaniker, und mit Kutscher war eine bekannte Mischung von Kümmel mit Rum gemeint. Allerdings wurden diese Angeklagten, aber doch erst nach langer Untersuchungshaft, freigesprochen. — Ein anderer, besonderes Aufsehen erregender Fall waren die Anklagen gegen den jungen praktischen Arzt Dr. G. [2] aus Oesterreich im Februar und Mai 1894. Derselbe wurde in einer Volksversammlung verhaftet, weil er in seiner Rede die geschmacklose Aeusserung gemacht hatte, „der Staat sei eine organisierte Räuberbande”. In diesen Worten wurde eine Verächtlichmachung von Staatseinrichtungen gefunden, und eine Strafe von 9 Monaten Gefängnis ausgesprochen. Charakteristisch scheint mir aber besonders, dass derselbe Mann dann noch wegen Aeusscrungen, die er in einer früheren Rede gethan hatte, unter Anklage gestellt wurde, und auch hierfür weitere 9 Monate Gefängnis erhielt. Unsere Polizei macht doch im Allgemeinen mit unliebsamen Ausländern nicht viel Umstände. Es ist mir unerfindlich, warum man den Dr. G. nicht sofort nach seiner ersten Rede verhaftete oder auswies und so am weiteren Delikten im Lande verhinderte, anstatt ihn erst, ohne ihm auch nur Mittheilung zu machen, dass man an einer ersten Rede Anstoss genommen habe, längere Zeit sich hier noch aufhalten zu lassen, bis er wiederum mit dem Gesetz in Konflikt gekommen war. Bei der Verbindung gegen Dr. G. ereignete sich auch jenes denkwürdige Ereignis, dass der jetzige Erste Staatsanwalt Dr. Benedix, welcher zunächst etwa 2 Jahre Gefängnis beantragt hatte, auf die Vertheidigungsrede des Dr. G. hin, welcher ausführte, dass eine längere Gefängnissstrafe gegen ihn gar keinen Sinn habe, da die Gefängnissbeamten ungebildet und nicht in der Lage seien, ihn zu bessern, aufsprang, und nunmehr wegen dieser Rede eine Gefängnissstrafe von 8 Jahren verlangen zu müssen sich verpflichtet hielt. — In Kottbus hatte man im Juli 1895 3 Leute wegen Geheimbündelei angeklagt. Nach viermonatlicher Untersuchungshaft stellte sich als einziges Ergebniss der als Geheimbündelei bezeichneten intimen Beziehung heraus, daß die Drei befreundet waren, und in ihren Familien miteinander verkehrt hatten. Nur der Eine von ihnen gab zu, Anarchist zu sein, und es wurde in dieser Beziehung weiter nichts erwiesen, als dass er ein Heft der anarchistischen Bibliothek, welches hier in Berlin anstandslos und mit Wissen der Polizei vertrieben worden war, an einen Logisgenossen verkauft halte mit den Worten: „Das sei etwas zum Lesen”. Hieraus folgerte das Gericht „die Absicht, dass nicht nur der Käufer, sondern auch Andere die Schrift lesen sollten”. Das Gericht fand nun in der Brochüre an einigen Stellen Aufforderungen zum Ungehorsam gegen die Gesetze. Die beiden anderen Angeklagten wurden freigesprochen, der anarchistische Verkäufer erhielt wegen Verbreitung einer derartigen Schrift 9 Monate Gefängnis. — Gegen einen ferneren Angeklagten. welcher unter seinen Genossen den Spitznamen „der gesetzliche Anarchist” erhalten hatte, weil er stets die Ansicht vertrat, er wolle beweisen, dass man Anarchist sein könne, ohne mit den Gesetzen in Konflikt zu kommen, führte der Staatsanwalt bei einer Anklage wegen Betheiligung an einem Pressvergehen als strafschärfend aus: der Angeklagte sei besonders gefährlich, weil er es bisher verstanden habe, sich so zu halten, dass er noch nie mit den Gesetzen in Konflikt gekommen. Den Drucker der anarchistischen Zeitung „Der Sozialist” klagte man wiederholt mit an, weil in der Zeitung ein Artikel strafbaren Inhalts erschienen war. Er wurde zunächst stets freigesprochen, schließlich aber doch auf Grund des gleichen Thatbestandes unter der Feststellung, dass er sich um die Redaktion und Expedition der fraglichen Nummer nicht gekümmert habe, zu 6 Monaten Gefängnis verurtheilt, natürlich mit Hülfe des bekannten Dolus eventualis [3]. Ein andermal erhielt der Redakteur des Sozialist für einen ohne jeden Zusatz erfolgten Abdruck des bekannten Gedichts von Heine „König Langohr” [4] wegen Majestätsbeleidigung 4 Monate Gefängnis. Alle diese Verurtheilungen und Beurtheilungen sogenannter anarchistischer Strafthaten sind nur wenig in die Oeffentlichkeit gedrungen. Sie könnten noch um eine erhebliche Anzahl Beispiele bereichert werden.

Die allgemeine Aufmerksamkeit auf die Rechtsprechung Anarchisten gegenüber hat erst der Prozess wider Koschemann und Genossen, welche der Absendung einer Sprengkiste an den Polizeiobersten Krause beschuldigt wurden, erregt, welcher vom 6.—15. April d. J. vor dem Schwurgericht am Landgericht I Berlin verhandelt wurde.

In der Nacht vom 29. zum 30 Juni 1895 kam in Berlin aus Fürstenwalde eine an den Obersten Krause, Alexanderplatz 2, adressirte Kiste an. Dieselbe wurde infolge heraustropfender Flüssigkeit verdächtig, und als sie unter Anwendung von Vorsichtsmaassregeln auf der Post geöffnet wurde, ergab sich als Inhalt des Packets eine sogenannte Höllenmaschine: ein Pulverbehälter mit Zündschnur, die mit einer Weckeruhr derart verbunden war, dass nach Ablauf einer bestimmten Zeit die Explosion erfolgen musste. Die Anklage beschuldigte die beiden Hauptangeklagten Koschemann und Westphal der gemeinsamen Thäterschaft. Sie sollten beide in der Wohnung Westphals die Kiste hergestellt und Koschemann sie dann selbst in Fürstenwalde zur Post gegeben haben. Für die erstere Behauptung wurde gar kein Beweis angegeben. Für die erstere Behauptung wurde gar kein Beweis angetreten, für die Thäterschaft wurde in der Hauptsache angeführt: Koschemann sei identisch mit der Person, die das Packet in Fürstenwalde aufgegeben hat. Es wurden ca. 20 Zeugen vernommen, welche die in Frage kommende Person am 29 Juni 1895 gesehen hatten. Auf fast sämtliche Zeugen hatte die Person den Eindruck einer verkleideten Frau gemacht. Von Koschemann, einem durchaus männlich gebauten, jungen Menschen von 23 Jahren mit bartlosem, vielleicht etwas mädchenhaftem Kopf, sagten nun einige Zeugen, er könne mit jener Person identisch sein, andere verneinten es mit Bestimmtheit. Ferner bekundete der Bibliotheksdiener Brede, gegen dessen objektive Glaubwürdigkeit erhebliche Bedenken geltend gemacht wurden: Koschemann habe ihm gegenüber viel Redensarten über den Obersten Krause gemacht, er habe ihm am zweiten Pfingsttag (3. Juni) 1895 gesagt, dass er sich in Wusterhausen eine Weckuhr gekauft habe. In der Kiste befand sich nun eine sogenannte Junghans-Weckuhr. Ein Uhrmacher in Wusterhausen hatte am zweiten oder dritten Pfingstfeiertag (nach der Eintragung in den Büchern aber wahrscheinlich am dritten) eine solche Weckuhr an einen ihm unbekannten Käufer, der den Namen Kurte angab, also einen Namen, der mit demselben Buchstaben anfange, wie Koschemann, verkauft. In Bezug auf die erste und wichtigste Frage, die Identität mit der in Fürstenwalde gesehenen Person trat Koschemann einen Alibi-Beweis an, dessen Beweiskraft aber von der Anklagebehörde bestritten wurde. Diese blieb auf Grund der mündlichen Verhandlung bei der Ansicht, dass Koschemann die Kiste zur Post gegeben habe, verlangte dagegen Verurtheilung des Westphal nur wegen Begünstigung, welche darin gefunden werden sollte, dass Westphal versucht habe, dem Koschemann den Alibi-Beweis zu sichern, in der Absicht, ihn der Bestrafung zu entziehen.

Die Geschworenen haben die Frage, ob Koschemann der Thäter ist, verneint. Sie haben also Koschemann nicht für die Person gehalten, welche die Kiste in Fürstenwalde zur Post gegeben hat. Die Geschworenen haben aber die Frage, ob er zur That Beihülfe geleistet habe, bejaht und haben ferner Westphal der Begünstigung schuldig erklärt. Jener wurde zu 10 Jahren und 1 Monat Zuchthaus, dieser zu 1 Jahr Gefängnis verurtheilt.

In welchen Thatumständen die Geschworenen eine Beihülfe gefunden haben, die Koschemann unbekannten Thätern geleistet haben soll, entzieht sich der öffentlichen Kenntniss. Wie nun aber die Geschworenen weiter dazu gekommen sind, trotz der Verneinung der Thäterschaft Koschemanns die Frage gegen Westphal auf Begünstigung zu beziehen, ist unerfindlich. Es sei denn, man nehme an, dass die Geschworenen der Ansicht waren: die Angeklagten sind Anarchisten, man kann sich von ihnen der That versehen, und darum werden sie verurtheilt.

Die Möglichkeit, dass die Geschworenen zu einem solchen Urtheil kommen konnten, muss man zugestehen, wenn man der ganzen langen Verhandlung mit Aufmerksamkeit gefolgt ist. Da durfte zunächst der Kriminalkommissar Bösel eine lange Geschichte über das angebliche Treiben der hiesigen Anarchisten in einem Lokal in der Petersburgerstrasse (wo die Angeklagten aber, wie Bösel selbst zugiebt, nie verkehrt haben) und in einem Lokal bei Späth, wo ein Diskutirklub nach polizeilicher Anmeldung seine Sitzungen abhielt und wo allerdings die Angeklagten auch ab und zu hingegangen sind, erzählen. Gerade an diesen Orten sollten nach Angaben des Herrn Bösel eifrige Anhänger der Propaganda der That verkehren, wie ihm seine — ungenannten — Gewährsmänner versichert haben. Es ist aber nun doch mehr als auffällig, dass noch nicht ein Mal gegen irgend einen Besucher dieser Diskutir-Versammlungen eine Anklage wegen strafbarer Aeusserungen erhoben worden ist. Entweder sind die Angaben der Gewährsmänner des Herrn Bösel falsch, oder man lasst dort bei Späth ruhig Strafthaten begehen, die anderswo, wie wir an oben aufgeführten Beispielen ersehen haben, mit schweren Strafen belegt worden sind. Aus diesem Gedankengang heraus wird es dann verständlich, wenn ein anderer im Prozess vernommener Zeuge die Diskutir-Versammlungen bei Späth als „Spitzelfalle” bezeichnete. — Ein anderes Mal bekundete der Zeuge Bösel in längerer Auseinandersetzung, wie die Polizei dazu gekommen sei, nach Jahr und Tag doch wieder den schon einmal fallen gelassenen Verdacht gegen die Angeklagten aufzunehmen [5], warum er sie für schuldig halte, und dass das Beweismaterial erdrückend sei. Hat man denn schon jemals früher in einem Prozess einen Polizeibeamten, welcher die Vorermittelungen angestellt hatte, als Gutachter auftreten lassen? Ein Zeuge ist zum Bekunden von Thatsachen da; eine gutachtliche Meinungsäusserung über die Frage, ob das Beweismaterial erdrückend ist, oder nicht, hat ein Gericht noch niemals extrahirt, weil dies die Frage ist, die von den Urtheilenden selbst zu beantworten ist. — Ein anderer Kriminalbeamter hielt den Geschworenen einen ausführlichen Vortrag über die Herkunft des in der Sprengkiste befindlichen Revolvers, um damit zu schliessen, dass es nicht gelungen sei, irgend einem der Angeschuldigten zu beweisen, dass sie überhaupt einen Revolver, am wenigsten den hier in der Kiste befindlich gewesenen jemals besessen haben. Bei einem der freigesprochenen Angeklagten hatte man die Abschrift eines Sprengstoff-Rezeptes gefunden. Flugs hält der sachverständige Chemiker den Geschworenen einen Vortrag über die Gefährlichkeit des Stoffes, welcher nach diesem Rezept angefertigt werden könne. Zum Schluss aber die (in diesem Prozess fast übliche) Bezeugung, dass das Rezept mit der an den Obersten Krause adressirten Sprengkiste und deren Inhalt nicht das Geringste zu thun habe. Dutzende von Zeugen werden vernommen, nur um darzuthun, dass irgend welche anderen Leute, die nicht auf der Anklagebank sitzen, auf die man aber vielleicht hatte Verdacht werfen können, nicht die zur Anklage gestellte That begangen haben. Ja, muss denn nicht schliesslich in den Geschworenen die Ansicht sich festsetzen: wenn alle Anderen es nicht gewesen sind, dann bleiben ja nur die Angeklagten übrig. Bisher war im Gerichtsaal Sitte, dass man nicht aufwies, wer es nicht gewesen sei, sondern nur sich für verpflichtet erachtete, zu erweisen, dass der Angeklagte die That begangen. Wehe den Angeklagten, wenn die Rechtsprechung diesen einzig zulässigen Weg verlässt.

Dass alle diese Umstände zusammen geeignet sind, auf Geschworene dahin zu wirken, dass sie die Angeklagten mit anderen Augen ansehen, als sie es Angeklagten gegenüber gethan haben worden, deren politische Ansicht ausser Betracht geblieben wäre, bedarf keines besonderen Beweises.

Der Unterzeichnete hörte einmal aus berufenem Munde in einer Anarchistensache den Ausspruch: „Was, solche Leute berufen sich auf das Gesetz!” Mit diesem Ausspruch ist die Stimmung bezeichnet, in welcher allein es möglich ist, von Anarchistensachen als von einer besonderen Kategorie von Strafprozessen zu sprechen. Erste Grundlage des Rechtsstaats sollte es doch wohl sein, dass alle Menschen, mögen sie selbst die Gesetze für noch so schlecht halten, mögen sie politische oder religiöse Ansichten haben, welche sie wollen, von ihren Richtern nur nach dem Gesetz beurtheilt werden. Er ist deshalb unzulässig, einen Angeklagten allein darum, weil er sich Anarchist nennt, für schuldig zu erachten.

Die zahlreichen Anarchisten-Prozesse, welche in den letzten 5 Jahren, und namentlich seit dem Scheitern der Umsturzvorlage [6], angestrengt wurden, haben das eine gemeinsame Ergebniss zutage befördert, dass es eine anarchistische Bewegung, welche den gewaltsamen Umsturz anstrebt, in Deutschland nicht giebt. Damit soll nicht gesagt sein, dass die Gefahr einer solchen Bewegung gänzlich ausgeschlossen sei. Diejenigen, welche den Wunsch hegen, es möge in Deutschland wirklich zur feststehenden Methode werden, anarchistischen Angeklagten gegenüber ein anderes Beweisverfahren und eine andere Rechtsprechung zu üben, als gegenüber Angeklagten anderer politischer Richtungen, mögen sich klar machen, dass dann allerdings einmal ein also Verurtheilter aufstehen und sagen könnte: Ihr habt mir gegenüber das Gesetz ausser Kraft gesetzt, ich halte mich infolgedessen auch meinerseits nicht mehr an ein solches gebunden.

Mit Ungerechtigkeit wird man Ungerechte nicht zu Gerechten machen.

Richard Bieber

Anmerkungen
*      Soziale Praxis. Centralblatt für Sozialpolitik (Berlin – Frankfurt/M). Jg. VI, No. 31, 29. April 1897, Spalte 745-751. – Unveränderter Nachdruck der Erstausgabe. Sperrungen im Original werden kursiv wiedergegeben, Anmerkungen der Herausgeber sind mit [JS] gekennzeichnet.

Richard Bieber (1858 – 1936), Dr. jur.; Schriftsteller, Rechtsanwalt und Notar. Verheiratet mit der Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Hanna Bieber-Böhm (1851 – 1910). Beide gehörten 1892 zu den Begründern der in Berlin ansässigen Deutschen Gesellschaft für ethische Kultur und ihrer Zeitschrift Ethische Kultur, die bis 1936 bestanden. Bieber war lange Zeit in der Leitung der Gesellschaft und Herausgeber der Zeitschrift. In der Gesellschaft waren bekannte Linksliberale und Sozialisten wie Ferdinand Tönnies, Dora Lux (geb. Bieber), Heinrich Lux, Lily Braun und Friedrich Wilhelm Foerster aktiv. [JS]

[1]      Durch Zufall wurde dem Unterzeichneten gegen Ende des Jahres 1892 das erste Mal eine Vertheidigung in einer sogenannten Anarchistensache übertragen, und er hat seit dieser Zeit in der weitaus grössten Mehrzahl derartiger zur Verhandlung gekommener Sachen mitgewirkt. Es ist dies im Ganzen in 27 Anklagen der Fall gewesen. Für die herrschenden Vorurtheile muss als charakteristisch erwähnt werden, dass in der beim Landgericht Kottbus verhandelten Sache (s. u.) die Angeklagten sich an den Unterzeichneten wandten, weil es ihnen nicht möglich war, in Kottbus selbst einen Vertheidiger zu finden; dass der Unterzeichnete ferner sehr häufig gefragt wird, ob er etwa selbst Anarchist sei, offenbar weil in den Augen der Frager ein Anarchist ein Individuum ist, das an sich auf Gerechtigkeit keinen Anspruch hat, und das man gegen ungerechte Anklagen nur zu vertheidigen wagt, wenn man selbst dessen politische Anschauungen theilt.

[2]      Władysław (Ladislaus) Gumplowicz (1869 – 1942); Wirtschaftswissenschaftler, Geograph, Politiker; nach der Verhaftung Gustav Landauers 1893 kurzfristig Herausgeber des „Sozialist”; Übersetzer von Peter Kropotkin, Die historische Rolle des Staates, Berlin 1898; Verfasser von Nationalismus und Internationalismus im 19. Jahrhundert (Am Anfang des Jahrhunderts, 7. Heft), Berlin 1902; Kwestya polska a socyalizm, Warszawa 1908. [JS]

[3]      Dolus eventualis, Eventualvorsatz, Eventualdolus oder bedingter Vorsatz: wenn der Täter den Taterfolg als Folge seines Handelns ernsthaft für möglich hält und ihn zugleich billigend (im Rechtssinne) in Kauf nimmt und sich damit abfindet (wikipedia). [JS]

[4]      Heinrich Heine, König Langohr I. (http://www.heinrich-heine.net/langohr.htm) [JS]

[5]      Sofort am 30. Juni 1895 hat die politische Polizei gegen Koschemann und Westphal ein Ermittelungsverfahren begonnen. Die damaligen Ermittelungen hatten damit geendet, dass die Polizei das Alibi als bewiesen annahm. Nach etwa einem Jahr nahm man das Verfahren wieder auf. Da die Polizei es gleich nach der That nicht für nötig gehalten hatte, die Entlastungsbeweise in ausführlichen Protokollen festzulegen, verwickelten sich die Beschuldigten nunmehr nach Jahr und Tag in einzelnen Punkten in Widersprüche (und wer würde sich nicht in Widersprüche verwickeln, wenn er gezwungen würde, sich heute darüber auszusprechen, wo er am 29. Juni 1895, sowie an den Tagen vorher und nachher sich aufgehalten habe), welche danach das Hauptbelastungsmaterial der Anklage bildeten.

[6]      Gesetz, betreffend Änderungen und Ergänzungen des Strafgesetzbuchs, des Militärgesetzbuchs und des Gesetzes über die Presse – ein am 6. Dezember 1894 von der Regierung Hohenlohe dem deutschen Reichstag vorgelegter Gesetzentwurf, der sich in erster Linie gegen die Sozialdemokratie und deren (angeblich) gesellschaftsumstürzende Absichten richtete und einer verschärften Neuauflage des Sozialistengesetzes gleichkam, in seinen verwaschenen Formulierungen allerdings auch tiefgreifende Eingriffe in die Pressefreiheit und selbst in die Freiheit der Forschung und Lehre möglich gemacht hätte. Der Gesetzentwurf führt zu einer breiten Protestbewegung, an der sich neben der Arbeiterbewegung auch die liberalen Parteien, Stadtverwaltungen, Bauernverbände sowie bekannte Intellektuelle aus Kunst und Wissenschaft beteiligen. Die Umsturzvorlage scheiterte am 11. Mai 1895 in zweiter Lesung im Reichstag mit den Stimmen der Sozialdemokratie und den liberalen bürgerlichen Parteien. [JS]

[JS – bearbeitet von Jonnie Schlichting | barrikade]

kaiserzeit02_gross[26.12.2016]

Die Arbeitslosenversammlung – 18. Januar 1894

Vor 123 Jahren passierte in Berlin folgendes …

poor-houseWarten auf den Einlaß in eine Wärmehalle – das Bild stammt aus England -, ähnlich dürfte es am Alexanderplatz in Berlin ausgesehen haben (Poor house – Armenhaus)

Die Arbeitslosenversammlung

 Anfangs der neunziger Jahre legte sich eine schwere Depression über das wirtschaftliche Leben Deutschlands. Besonders die arbeitenden Schichten des Volkes litten darunter außerordentlich, und die Zahl der Arbeitslosen wuchs zusehends, um schließlich andauernd in einer Höhe zu bleiben, wie kaum je zuvor.

Die Sozialdemokratie ergriff die Gelegenheit zur Einberufung von Arbeitslosenversammlungen, die sich eines zahlreichen Besuchs erfreuten und in denen Männer wie Liebknecht die sozialdemokratischen Ziele als einzige Erlösung von dem Drucke und von der ewigen Existenzgefahr darlegten, unter denen das moderne Proletariat leide. Daneben wurde gewöhnlich in Resolutionen an Staat und Kommune die Forderung geeigneter Maßnahmen zur augenblicklichen Steuerung und Verminderung des großstädtischen Arbeitslosenelends gestellt.

Schon war es im Anschluß an derartige Arbeitslosenversammlungen zu aufsehenerregenden Demonstrationen auf offener Straße gekommen. Die Arbeitslosen hatten sich, wie es der Zufall gab, zu geschlossenen Zügen formiert. Aus den Vorstädten, wo diese Versammlungen gewöhnlich stattfanden, bewegten sie sich nach dem Stadtinnern, dem Rathaus und dem königlichen Schloß zu, mit jenem Instinkt, der jede revolutionäre Volksmenge zu dem Sitz der obersten Gewalten hinstreben heißt.

Da erwachte im Januar 1894 bei einer Anzahl Berliner Anarchisten die Idee einer großen Arbeitslosenversammlung, von einer Art, wie sie Berlin noch nicht gesehen.

Das Publikum der gewöhnlichen, sozialdemokratischen Arbeitslosenversammlungen bestand durchgehend aus jener verhältnismäßig gut situierten Schicht der industriellen Arbeiterschaft, die sich in den Gewerkschaften organisiert findet, augenblicklich Arbeitslose, die immerhin insofern noch Boden unter den Füßen haben, als ihnen die, wenn auch mitunter nicht allzunahe Hoffnung auf Arbeitsvermittlung durch den gewerkschaftlichen Arbeitsnachweis winkt.

Die erwähnte Anzahl Anarchisten jedoch, selbst Arbeitslose, faßten die Idee, einmal jene breite, stumme Masse aufzurütteln, die den sozialen Bodensatz der Großstand bildet. Gelegentlich der – schon erwähnten – Februarkrawalle von 1891 hatte das sozialdemokratische Zentralorgan, der „Vorwärts“, dieser untersten Schicht des Volkes, dem Lumpenproletariat gegenüber die arbeitslose Arbeiterschaft streng abgetrennt.

Nun sollte einmal der Versuch gemacht werden, dieses Lumpenproletariat zu versammeln, dem jeder Zusammenhalt fehlt und das so tief gesunken ist, daß ihm von irgend einer Interessengemeinschaft nichts bewußt ist.

„Unsere Anklage“ – so kündigte der Einberufer an – „wollen wir der heutigen Gesellschaft entgegenschleudern, bis unter der Wucht dieser Anklagen und der von allen Seiten auf sie eindringenden Not- und Verzweiflungsschreie diese morsche Gebäude der Unvernunft und der Willkür zusammenbricht.“

Zum 18. Januar wurde die Versammlung anberaumt, und zwar in einem der größten Berliner Versammlungssäle, dem der Brauerei Friedrichshain im Nordosten der Stadt; Inserate in der Arbeiterpresse wie Plakate an den Anschlagsäulen waren wie gewöhnlich auch hier Publikationsmittel.

Mehrere Tage vorher machten indessen bereits außergewöhnliche Anzeichen auf diese Versammlung aufmerksam. Da die Veranstalter derselben sich sagen müßten, daß jene Parias der Großstadt, die sie aufzurütteln gedachten, die Inserate der Arbeiterblätter so wenig lesen als die öffentlichen Plakate beachten würden, bedienten sie sich alsbald noch anderer Mittel und Wege, sie auf diese Versammlung hinzuweisen. So wurde das Lumpenproletariat direkt an jenen Orten aufgesucht, wo sein bedauernswertes Los es zusammendrängt. In den Volksküchen und Volkskaffeehäusern, in den Wärmehallen und in den Asylen tauchte die Versammlungsankündigung in Gestalt von Zetteln auf, die unbekannte Hände verteilten und die von Hand zu Hand weitergingen.

* * *

Unweit des Bahnhofs Alexanderplatz befindet sich, in einigen Stadtbahnbogen etabliert, die städtische Wärmehalle. Während der Wintermonate ist sie der einzige Zufluchtsort jener Tausende bejammernswürdiger Existenzen, die durch Arbeitslosigkeit zur Obdachlosigkeit gesunken sind. Nur ein Teil findet in den weiten Hallen Raum. Auf rohen Holzbänken dicht zusammengefercht, lassen sie die gastfrei gespendete Wärme den gebrechlichen, wenn nicht schon gebrochenen Körper durchströmen. Schweigsam oder leise flüsternd hocken sie beisammen, eine Anzahl „Booste“ oder „Kalfaktore“ beobachtet sie ständig und sorgt dafür, daß sie nach einer bestimmten Zeit die Plätze wieder verlassen. Denn auch hier sind sie nicht zu unbegrenzter Ruhe geduldet; neue Scharen warten schon des Einlasses.

Dicht zusammengedrängt harren diese draußen auf der Straße, von einem starken Polizeiaufgebot zu Reihen formiert und streng bewacht. Eng an den Straßenbahnviadukt ist die Menge gepreßt. Ein Zug donnert über ihre Köpfe hin – und plötzlich rauscht es und flattert herab: hunderte kleine Zettelchen, aus dem Coupéfenster geschleudert, breiten sich über den Menschenschwarm aus. Hunderte Hände recken sich empor, alles greift danach. Und ehe noch die resolut eindringende Schutzmannschaft die Versammlungsankündigung den Widerstandslosen aus den verklammten Händen gerissen, läuft die Sensation durch die Menge; eine Versammlung für uns! Und bei Nacht, im Asyl wie in jenen Schlupfwinkeln, wo berechnendes Geschäftigkeit selbst von den Pfennigen dieser Heruntergekommenen noch Profite zu machen weiß, überall raunt die Kunde von der Versammlung, wo über „Das Elend der Arbeitslosigkeit und seine Bekämpfung“ gesprochen werden soll.

* * *

Doch auch an anderer Stelle hat das bevorstehende Ereignis die Gemüter erregt.

Gegenüber der Wärmehalle ragt jener gewaltige Gebäudekomplex empor, in dem die Großstadtpolizei ihre Zentrale hat. Dort erscheint unter dem Eindruck dieser anarchistischen Propganda das Gespenst der Rebellion und befängt die Gemüter.

So ballt sich ein Gewitter zusammen.

In einem vornehmen Restaurant des Westens sitzen drei Männer an einem Tisch, deren halblaut geführte Unterhaltung sich um die bevorstehende Demonstration dreht.

Der Polizeikommissar Röwer in Begleitung des seinem Ressort angehörenden Kriminalschutzmannes Lachmund haben in Eile den Schlosser Brandt zu einem Rendevouz geladen. Er ist ein intimer Freund des Einberufers der in drohende Nähe gerückten Arbeitslosenversammlung. Wenige Wochen zuvor hat Lachmund gelegentlich einer gegen Brandt eingeleiteten Untersuchung versucht, diesen in Polizeidienst zu locken. Er hat dem Arbeitslosen, der mit Weib und Kindern bitter Not leidet, ein Goldstück über den Tisch hin zugeschoben. Im Verlauf des Verhörs hat der so Attackierte es wiederholt zurückgeschoben; schließlich siegt die Begier; er steckt es ein. Und er empfängt seine Weisungen. Nur beobachten und berichten darf er, nicht selbst handeln, provozieren. Letzteres sei früher wohl mal geübt worden, aber mit diesem System sei gebrochen.

Im Norden, „im 6. Wahlkreise“, vermutet die Polizei „Männer der Tat“. Ihre Namen werden genannt. An sie soll Brandt sich heranmachen. Gegen 50-70 M. Monatseinkommen. Gelingt es ihm, rechtzeitig zu ermitteln, daß ein Attentat geplant sei, oder vermag er irgendwo das Vorhandensein von Dynamit zu entdecken, so soll er spornstreichs per Droschke zur Behörde eilen: 1000 M. seien ihm sicher.

Der Vigilant aber hat seinen Freunden, eben diesen verdächtigen „Männern der Tat“, vor dem Handel Mitteilung gemacht. Er berichtet das, was er mit diesen vorher verabredet. So auch die geplante Arbeitslosendemonstration. Und er verschweigt nicht, daß er zu dem Druck der mysteriösen Handzettel, die an den Stätten des Elends massenhaft kursieren, einige Mark beigesteuert.

Angesichts dieser Tatsache ist bei dem Polizeikommissar, der die Affäre Brandt leitet, der Verdacht rege geworden, daß der Vigilant ein doppeltes Spiel treibe.

Nun tritt der Kommissar bei diesem Rendevouz dem zweifelhaften Vigilanten persönlich gegenüber.

„Sie treiben ein falsches Spiel mit uns! Sie geben von Ihrem Gelde, das sie von uns erhielten, zur Veranstaltung dieser Demonstration, damit es nachher heißt: sie sei mit Polizeigeld gemacht, eine Provokation!“

So fährt der aufgeregte Beamte den Anarchisten an.

Dieser verteidigt sich.

Die paar Mark seien Geld, das er von früher her im Besitz habe.

„Wie dürfen Sie sich überhaupt in solche Geschichten einlassen!“ herrscht ihn der Kommissar an. „Das ist direkt gegen unsere Anordnungen! Wollen Sie die Verantwortung übernehmen für das, was geschieht? Glauben Sie man nicht, daß die Sache so milde abgehen word, wie bei den Krawallen von 1892.“

Alle Möglichkeiten werden in der weiteren Unterredung erwogen. Ja, daß es gelegentlich der Versammlung Blutvergießen und Leichen geben könne. Schließlich droht der Kommissar dem Anarchisten, von dessen doppelter Rolle er sich allmählich überzeugt hat, mit sofortiger Verhaftung für den Fall, daß derselbe in der Versammlung das Wort zu nehmen wage.

* * *

Die Dinge nehmen ihren Lauf.

Am Morgen des 18. Januar zeigt der Friedrichshain am Königstor ein ungewöhnliches Aussehen. Ueberall blitzt und leuchtet es von Helmspitzen. Der Weg vom Tor zum Versammlungslokal, links von den Vorgärten der Häuser, rechts vom Hain begrenzt, gleicht einer Spießrutengasse. Schutzleute zu Fuß und zu Pferde bilden eng Spalier.

Um 11 Uhr ist die Versammlung anberaumt. Doch schon vom frühen Morgen an kommen die Besucher in schwarzen Scharen herangezogen. Zwei Stunden vor Beginn ist der riesige Raum gedrängt voll.

Ein Polizeiaufgebot schließt den Saal und bewacht seine Ausgänge.

Tausend müssen vor der verschlossenen Türe umkehren. Schwarz und dicht steht die Menge am Königstor. Von wo aus die Polizei schließlich die ganze Straße zum Saal absperrt.

Inzwischen harren die Versammelten des Beginnes.

An dreitausend sitzen still und starr beieinander. Vor ihnen auf der Estrade, an einem kleinen Seitentisch der überwachende Polizeileutnant und sein Begleiter. Auch ihn mag der Anblick peinigen, denn das ist keine Versammlung wie so viele andere. An langen Tischen, auf denen die üblichen Biergläser völlig fehlen, hockt da, tausenfältig vervielfacht, jenes scheue Individiuum, das man sonst nur vereinzelt zu sehen gewohnt ist, bleich, von Hunger und Kälte zermergelt, in verschlossenem, zerlumptem Gewand. Von den Veranstaltern hat keiner in den Saal zu dringen vermocht. Er war überfüllt und gesperrt, ehe sie ihn erreicht. Ein halbes Dutzend ihrer Genossen stehen schweigsam am Eingang des Saales beisammen, befangen gegenüber dieser Menge, von der aus es wie ein einziger Schrei nach Brot und Sonne emporsteigt.

Mitten in der Menge sitzt ein Mann in guter, bürgerlicher Kleidung, den Zylinder auf dem Kopf. Aus dem ernsten Antlitz mit der hohen, gewölbten Stirn und dem festen, energischen Kinn leuchten ein Paar mildblaue Augen über die Menge hin: es ist Moritz von Egidy, der einstige Oberstleutnant. Von den dogmatischen Satzungen der Kirche innerlich befreit, hat er auch äußerlich den Bruch vollzogen. Und hat weiter seine militärische Stellung aufgegeben, an der er mit Liebe hing, wie selten einer; nicht um der Luft an Herrschaft und Blutvergießen willen, aber um der Freude willen, die dieser klaren kernigen Mannesnatur der Dienst mit seinen Anforderungen, Strapazen und seiner Entwicklung schlagfertiger Energie bedeutete.

So sitzt die Versammlung wohl zwei Stunden beisammen. Ruhig und peinlich schweigsam. Bis endlich einer der Anarchisten [35] die Estrade ersteigt, um nach kurzer Auseinandersetzung mit dem überwachenden Polizisten der Menge in wenigen Worten mitzuteilen, daß der Einberufer verhaftet ist und daß die Versammlung deshalb nicht tagen dürfe. Dann tritt er zurück. Und ohne einen Laut des Mißfallens, niedergeschlagen, wortlos erheben sich die Tausende, und langsam, Schritt für Schritt, ohne Drängen, verlassen sie den Saal über die breite Treppe, die zur Straße führt.

Dichter noch steht hier das Polizeispalier. Lautlos schiebt sich die Menge hindurch. So wogt es zum Känigstor. Eine geschlossene Kette von Polizisten ist hier aufgestellt. Sie hat wohl die Instruktion, die Menge zu verteilen. Diese aber weiß nichts davon, begreift es nicht. Die Vordersten werden aufgehalten, in eine bestimmte Richtung gewiesen. Allein wer vermöchte in dem Drängen der von hinten heranrückenden Masse der Weisung zu folgen. So schiebt es sich schwer über den Platz.

Plötzlich ist das Bild verändert.

Kommandorufe erschallen. In die Polizei kommt Bewegung. Mit ihren Pferden bricht sie in die Menge. Blanke Säbel blitzen in der Luft, Zivilbeamte mit Gummischläuchen werden bemerkbar, und im Nu bedeckt ein wildes Getümmel den Platz. Schläge und Geschrei. Die Menge, hilflos, ratlos, drängt sich nach allen Seiten, verfolgt und mit Waffengewalt zerstreut. Einige Minuten später spielen sich in den angrenzenden Straßen die letzten Szenen des Schauspiels ab. Vereinzelte, die sich vor dem Getümmel in die Häuser felüchtet, werden herausgeholt und von berittenen Schutzleuten verjagt.

* * *

Die Anarchisten aber, denen die Polizei die Inszenierung einer Revolte zugetraut, von deren Bewaffnung gemunkelt wurde, waren nicht in die Versammlung gelangt und saßen, in Erwartung der Dinge, die da kommen sollten, in einem Lokal dicht am Schauplatz des Getümmels, von dem in jeder geschilderten Unterredung des Scheinvigilanten mit dem Polizeikommissar gedroht worden war, daß es mit Blut und Leichen enden werde.

War nun auch dieses letztere nicht eingetroffen, so veranlaßten die geschilderten Vorgänge doch sowohl die sozialdemokratische wie auch die freisinnige Presse zu einer scharfen Kritik des polizeilichen Vorgehens. Die Folge davon war ein umfangreicher Prozeß, der unter der Leitung des später im Irrenhause verstorbenen Landgerichtsdirektors Brausewetter tagte und in dem der Staatsanwalt Bendix die Bestrafung der Preßsünder durchsetzte, obgleich die Zeugenaussagen, vor allen die klaren, konkreten Aussagen M. von Egidys, die Ereignisse, wie sie sich ohne Verschulden der Einberufer wie der Arbeitsloen abgespielt, anschaulich darlegten.

Der Einberufer der Versammlung wurde gleichfalls unter Anklage gestellt. Ihm wurde vorgeworfen, mit seinem Aufruf zum Besuch der Versammlung gegen den § 130 (Aufreizung zu Gewalttätigkeiten) verstoßen zu haben. –

Berlin hat eine ähnliche Versammlung nie wieder gesehen. Ein von einigen Anarchisten wenige Tage später unternommener Versuch, eine Arbeitslosenversammlung zum 27. Januar (dem Geburtstag des deutschen Kaisers) im Saale des Feenpalast, eine Minute vom Königl. Schloß entfernt, abzuhalten, scheiterte an dem Bedenken des Saalbesitzers, der seinen schon zugesagten Saal noch vor Ankündigung der Versammlung verweigerte.

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2-G50-A6-1892 -------------------- D: -------------------- Polizeieinsatz gegen Arbeiter, 1892 Geschichte: Arbeiterbewegung. - Polizeieinsatz gegen demonstrierende arbeitslose Bauhandwerker auf der Strasse Unter den Linden in Berlin (Naehe Denk- mal Friedrichs II.) am 25.2.1892. - Zeitgen. Holzstich.

Polizeieinsatz gegen demonstrierende arbeitslose Bauhandwerker auf der Strasse Unter den Linden in Berlin in der Nähe des Denkmals für Friedrichs II. am 25.2.1892. (Zeitgenössischer Holzstich)

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In der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung vom 18. Januar 1894 – Abendausgabe lesen wir unter „Aus Berlin.“:

„lb. Eine für heute Vormittag auf 10 ½ Uhr durch den unabhängigen Sozialisten Metallarbeiter Rodrian nach der Brauerei Friedrichshain einberufenen Versammlung von Arbeitslosen konnte nicht stattfinden, weil, wie Metallarbeiter Litsin den Versammelten mittheilte, der Einberufer verhaftet und die polizeiliche Genehmigung deshalb nicht zur Stelle war. Der Andrang zu der Versammlung war sehr bedeutend. Schon um 10 Uhr wurde das etwa 2000 Personen fassende Lokal als gefüllt polizeilich geschlossen. Die zahlreich aufgebotene Schutzmannschaft – die 500 an diesem Tage dienstfreien Schutzleute waren einberufen – verhinderte schon an den Zugangsstraßen zum Friedrichshain, am Königsthor u.s.w. jede Ansammlung.“ (Seite 2 unten)

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Und die anarchistische Wochenzeitung Der Sozialist – Organ aller Revolutionäre. (Redakteure/Herausgaber u.a. Gustav Landauer und Albert Weidner) schreibt am Sonnabend, den 27. Januar 1894, Nr. 4 / 4. Jahrgang (verantwortlicher Redakteur: Oskar Adam, Berlin) u.a. folgendes:

„Schon zu früher Stunde sah man Schutzleute zu Fuß und zu Pferde truppweise nach einer dem Königsschlosse entgegengesetzten Richtung die Straße ziehen. Weiter dem Osten zu waren dem Auge kleine Gruppen von Arbeitern bemerkbar, die schweigend ihres Weges gingen, ebenfalls der Richtung nach dem Königsthor zu.

Das Verhalten der Polizei in der Morgenstunde von 9 bis 10 Uhr, also als die Gefahr einer Demonstration noch nicht vorlag, ist ganz und gar nicht zu erklären. Schon um diese Zeit wurde am Königsthor und in der Greifswalderstraße blank gezogen und Passanten belästigt. – Vor den Rinnsteinen der Straße standen Mann an Mann geheime Polizisten und Schufte von Achtgroschen-Jungen, die für diesen Tag ein Extraschnapsgeld bezogen haben mochten, Spalier. Unter die Arbeiter mischten sich verrätherische Schufte, agents provocateurs in künstlich zerlumpten Kleidern, und suchten bereits am frühen Morgen die Arbeitslosen zu provozieren und traktirten auf ein gegebenes Zeichen, oder auch selbständig, ohne mit ihren Provokationen Erfolg gehabt zu haben, die Arbeitslosen und andere unbetheiligte Passanten mit ihren Knüppeln, Gummischläuchen und Ochsenziemern. Ich sah, wie eine alte Frau, die über den Fahrdamm ging, von hinten mit einen Säbel angegriffen wurde und wie dann eine Bestie mit ihrer Waffe der Frau den Topf mit Milch aus der Hand schlug, daß Milch und Scherben auseinanderstoben und die Frau von der Wucht der Schläge hinstürzte. Einem Barbier, der ahnungslos in seiner Ladenthür stand, schlug ein Polizeiagent mit seinem Ochsenziemer mitten in’s Gesicht. Doch das Alles war Kinderspiel gegen die Metzeleien und rohen Gewaltthaten der darauf folgenden Stunden.

In der Versammlung, in der Dr. Gumplowicz über „das Elend der Arbeitslosigkeit und seine Bekämpfung“ referiren sollte, bestieg gegen 11 ¼ Uhr Genosse Litsin die Rednertribüne und theilte der Versammlung mit, daß der Einberufer, Metallarbeiter Rodrian, in dessen Besitz sich die polizeiliche Genehmigung der Versammlung befinde, plötzlich verhaftet worden sei und die Versammlung, da eine polizeiliche Anmeldung derselben einen anderen Genossen nicht zugegangen sei, daher nicht stattfinden könne, (in Wirklichkeit war der mit der Anmeldung erschienene Freund Rodrian’s nicht zur Versammlung zugelassen worden). Litsin mahnte zur Ruhe und warnte davor, sich von Unbekannten zu unbesonnenen Handlungen hinreißen zu lassen. Der Umstand, daß man Rodrian in frechster Weise belästigte, war allein schon provozirend, aber jedenfalls mußte es provozirend wirken, daß man angesichts der versammelten Menge, die gekommen war, sich über ihr Elend auszusprechen, den durch den Besitz der Versammlungsgenehmigung als Einberufer qualifizirten Arbeitslosen den Einlaß verweigerte. Nichtsdestoweniger war die versammelte Menge friedlich gestimmt, wie es den Deutschen mit ihrer Eselsgeduld geziemt.“ Danach zitiert das Blatt den Bericht des Vorwärts.

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Dem Gummischlauchprozeß am 5. Mai folgte am 8. Mai 1894 – der Massenpresseprozeß unter dem Rubrum «Adam und Genossen»

Im sogenannten Massen-Preßprozeß werden gegen neun Zeitungsredakteure mehrmonatige Gefängnisstrafen ausgesprochen. Die Angeklagten hatten behauptet, Krimalbeamte und Politische Polizei in Zivil hätten im Januar nach der Arbeitslosen-Kundgebung am 18. Januar 1894 Demonstranten mit Gummischläuchen geschlagen.

Den Vorsitz der zweiten Strafkammer des Landgerichts I hatte Landgerichtsdirektor Brausewetter, die Anklagebehörde vertritt Staatsanwalt Dr. Benedix. Es sind ca. 40 Zeugen geladen, darunter Polizeihauptmann Feist, vier Polizeilieutenants, mehrere Schutzleute und Kriminalbeamte, Oberstlieutenant v. Egidy, mehrere Zeitungsberichterstatter u.s.w. [Norddeutsche Allgemeine Zeitung vom 8. Mai 1894 – Nr. 211, Abendausgabe (S. 2)]

Vorab einige Bonmots aus dem Prozeß, entnommen ddem Prozeßbericht der Volks-Zeitung vom 9. April 1894 (Abendausgabe):

  • „Der Verteidiger will sich ferner vergewissern, daß es gerichtsnotorisch sei, daß über die Existenz von Polizeispitzeln eine Legendenbildung im Volke bestehe, die von den Sozialdemokraten weidlich ausgebeutet wird. – Präs.: Das kann ich sofort beantworten: Ich gehöre auch zum Volke und weiß von Lockspitzeln nichts. – Rechtsanwalt Mosse beantragt dann die Verlesung der Akten in dem Prozesse Christensen in Bern. Ein Berliner Gericht hat damals festgestellt, daß ein Polizeibeamter Ihring-Mahlow[1] als agent provocateur zu Dynamitverbrechen etc. aufgefordert habe. Das Posener Gericht ist in gleicher Angelegenheit anderer meinung gewesen. Daraus schon wird sich ergeben, daß eine Legendenbildung in Sachen Lockspitzeltums besteht. – Der Vorsitzende will von einem solchen Antrage nichts wissen. Der Staatsanwalt bittet, den Antrag abzulehnen. Hier handle es sich einfach um die Frage, ob das Polizeipräsidium den Beamten den Befehl erteilt hat, unter fingirtem Vorwande auf die Menge loszuschlagen, d.h. durch agents provocateurs Unruhen zu provoziren. Er habe durch den Kommissarius Boesel und den Hauptmann Feist das gegenteil strikte erwiesen. – Die beiden Letztgenannten bestätigen dies, namentlich erklärt Hauptmann Feist, daß er nur den Auftrag erhalten habe, unter allen Umständen für Aufrechterhaltung der Ordnung zu sorgen. Er habe sich lange Zeit sehr ruhig verhalten und den Beamten der Befehl erteilt, sehr ruhig und zurückhaltend vorzugehen. Er sei aber dann doch gezwungen gewesen, energische Maßregeln zu ergreifen. Dadurch sei es möglich gewesen, in ganz kurzer Zeit den Platz wieder so herzurichten, wie er vorher war. – Rechtsanwalt Mosse: Der Angeklagte Grüttsien hat direkrt die Frage aufgeworfen, ob die Ihring-Mahlow’s noch existiren und das Polizeipräsidium hätte doch eine Aufklärung geben sollen. – Präs.: Wem denn? – Rechtsanwalt Mosse: Der Öffentlichkeit. – Präs.: Ach was, die Öffentlichkeit existirt nicht! – Rechtsanwalt Mosse: Gott sei Dank, daß sie doch existirt! – Präs.: Solche Dinge wie Lockspitzel, agents provocateurs etc. existiren doch nur in der Einbildung sehr konfuser Köpfe. – R.-A. Mosse: Dann müssten also die betr. Berliner Richter sehr unvernünftige Menschen gewesen sein. – Präs.: Wir sind hier auch ein Berliner Gericht! Wenn wir anderer Meinung sind, dann existirt jener Gerichtsspruch für uns nicht. Es ist doch ein reiner Unsinn, von Lockspitzeln und dergl. zu reden. Die Polizei braucht Leute, die ihr Nachrichten zubringen, zur Sicherheit des Publikums und zur Information! – Der Antrag des Verteidigers wird hierauf abgelehnt.“ Hintergrund ist, dass der Rechtsanwalt Mosse behauptet und beweisen will, „daß Lorenz den Brandt im Auftrage des Röber als Polizeispitzel für anarchistische Dinge angestellt hat, daß Brandt dafür 95 Mark erhalten und das Geld zum Druck der Einladungen zu jeneer Versammlung verwendet hat. Es ergebe sich daraus, daß die Kriminalpolizei durch Beschäftigung solcher unzuverlässiger Leute wider ihrem Willen anarchistischen Bestrebungen Verschub leiste.“ Der Staatsanwalt Dr. Bendix stellt darauf ebenfalls Beweisantrag, um das „direkte Gegenteil zu erweisen und diese Unterstellung als unrichtig hinzustellen.“
  • „Der Berichterstatter der ‚Deutschen Warte’, Journalist Joël, hat an Ort und Stelle gesehen, daß plötzlich aus den Häusern Männer herausschwirrten und mit Gummischläuchen auf die Menge losschlugen.“
  • „Auf Antrag des Staatsanwalts Dr. Benedix werden sodann Artikel des ‚Vorwärts’ und des ‚Sozialist’ vom Jahre 1892 über das Thema der damaligen Februar-Excesse verlesen. Der ‚Vorwärts’ hatte die Excedenten als Vertreter der ‚Ballonmützen’[2] und Wachtparade-Radaubrüder bezeichnet, und der ‚Sozialist’ hatte ihn darob arg abgekanzelt.“
  • „Bei der Frage der Erledigung des Antrages des Rechtsanwalts Mosse fällt von diesem wieder das Wort „Lockspitzel“, gegen welches sich der Vorsitzende wieder wendet. Er meint, das Wort „Lockspitzel“ sei in der besseren Gesellschaft den meisten unbekannt. Das sei nur gebräuchlich in der anarchistischen und sozialistischen Presse. – Rechtsanwalt Mosse überreicht ein Zeitungsblatt, in welchem das ganz gebräuchliche Wort auch vorkomme. – Präs.: Das ist wohl auch ein anarchistisches Blatt. – Rechtsanwalt Mosse: O nein, es ist die ‚Norddeutsche Allegemeine Zeitung’![3] (Heiterkeit) – Der Präsident rügt es weiter, daß es jetzt Mode werde, immer 24 Stunden vor Beginn einer Verhandlung mit ellenlangen Beweisanträgen zu kommen. – R.-A. Mosse verweist darauf, daß es ihm trotz vieler Mühen nicht geglückt sei, Einsicht in die Akten zu erhalten und daß hier die Anklage gegen so viele Personen auf einmal erhoben wird, gegen die auch getrennt hätte verhandelt werden können. – Staatsanwalt Dr. Bendix: Das geht den Verteidiger garnichts an, wie die Anklage erhoben wird.“

Das Urteil vom 9. Mai 1894 (auszugsweise aus der Berliner Volks-Zeitung vom 10. April 1894, Morgenblatt):

„Die Versammlung war von einem als Anarchisten bekannter Mann einberufen und zwar auf Grund einer sehr aufreizenden gedruckten Einladung. Zum Schutze des Publikums und zur Aufrechterhaltung der Ordnung und der Ruhe war ein kleines Aufgebot von Polizeioffizieren und Schutzleuten angerückt. Die Polizeibeamten haben zuerst von den Waffen nicht Gebrauch gemacht, unter der Menschenmenge, die mit der Polizei in Konflikt kam, befanden sich viele jugendliche Leute, die in Berlin hauptsächlich die Radaubrüder bilden. Diese vielen Personen im Zaume zu halten, war, wenn man sich der Februarereignisse des Jahres 1892 erinnert, ein wichtiges und schweiriges Werk, dessen Misslingen äußerst gefährlich werden konnte. Die Polizeibeamten haben nach Ansicht des Gerichts ihre volle Pflicht und Schuldigkeit getan, wenn sie die Bildung von Ansammlungen zu verhindern suchten und event. Die Menschenmassen zwangen, auseinanderzugehen. Demgemäß hat die Polizei operirt. Der Polizei-Hauptmann Feist hat unter seinem Eide bekundet, daß er wohl hundert Mal zum Auseinandergehen aufgefordert hat und daß erst, als der Polizei aktiver und passiver Widerstand geleistet wurde, zu energischen Maßregeln gegriffen werden musste. Der Polizeisergeant Arndt hat eidlich bekundet, daß seinen Mannschaften ein ganzer Haufe entgegengekommen war und er deshalb blank ziehen musste. Der Polizeihauptmann Feist hat auch ausdrücklich bekundet, daß die Mannschaften zur größten Zurückhaltung instruirt waren. Erst dann, als die Aufforderungen vergeblich waren, wurde das Kommando zum Blankziehen gegeben. Der Widerstand der Bevölkerung musste gebrochen werden. Unter diesen Umständen lag für die Presse kein Anlass vor zu gehässigen Angriffen gegen die Polizei. Was hätte wohl daraus werden sollen, wenn die Auftritte vom Jahre 1892 sich wiederholt hätten? Auch der Vorwurf, daß einzelne Personen, die sich in die Häuser geflüchtet hatten, von den Beamten wieder herausgeholt wurden, ist nicht berechtigt. Die Polizei musste diese Leute holen, damit dieselben nicht hinter dem Rücken der Polizei sich wieder zusammentaten und Trupps bildeten. Der Gerichtshof erachtet auch für erwiesen, daß einige Personen, welche zufällig in die Menge geraten waren, unter den polizeilichen Maßnahmen haben leiden müssen und daß sogar Frauen in arger Weise in Bedrängnis gerieten. Aber dergleichen kommt bei dergleichen Tumulten immer vor und kann der Polizei nicht zum Vorwurf gemacht werden. Die Hauptschuldigen und Anstifter wissen sich immer zu decken, die Verführten und zufällig hinein Geratenen müssen leiden. Jeder hat das Recht, darüber zu berichten und kann auch in Erwägung ziehen, ob es praktisch ist, Beamte in Zivil mit Gummischläuchen auszustatten, aber dies muss in einer Form geschehen, die in den zulässigen Grenzen bleibt und nicht beleidigt.“ [Originalschreibweise nicht verändert]

Zu den Verurteilten gehört auch Dr. Gustav Keßler (Volkszeitung), später Mitbegründer der Freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften: „Auch aus den Artikel des Angeklagten Keßler springt die Absicht der Beleidigung in die Augen. Er hätte sich bei der Übernahme dieses Artikels aus dem ‚Vorwärts’ sagen müssen, daß derselbe auf Wahrheit nicht beruhen kann. Mit Rücksicht auf seine Vorstrafen ist der Angeklagte zu drei Monaten Gefängnis verurteilt worden.“. Der anarchistische Genosse Oskar Adam (Sozialist) ist flüchtig. Schmidt hat 5 Monate Gefängnis bekommen (‚Vorwärts’), „wegen dreier beleidigender Artikel“.

Die Angeklagten Redakteure waren: 1. Oscar Adam (‚Sozialist’), 2. Max Zachau (‚Vorwärts’), 3. Gustav Keßler (‚Volksblatt’), 4. Franz Wißberger (‚Berliner Zeitung’), 5. Siegmund Perl und 6. Ernst Grüttesien (beide ‚Berliner Tagebblatt’), 7. Friedrich Harnisch (‚Die Lichtstrahlen’), 8. Wilhelm Schütte (‚Allg. Fahrzeitung’), 9. Schmidt (‚Vorwärts’).
[Quelle: Norddeutsche Allgemeine Zeitung vom 8. Mai 1894 – Nr. 211, Abendausgabe (S. 2)]

Wann und ob der Genosse Oskar Adam gefasst oder nach Deutschland zurückgekehrt ist und ob er abgeurteilt wurde, haben wir bisher nicht ausfindig machen können.

(Abtipperei: FM)

Fußnoten:

[1]  Ihring-Mahlow, agent provocateur der Berliner Politischen Polizei, der sich als Schutzmann Ihring als „Techniker Mahlow“ in die Berliner Sozialdemokratie eingeschlichen hatte. Er schwelgte in Majestätsbeleidigungen, vertrieb anarchistische Schriften und wirkte für die „Propaganda der Tat“.

[2]  Ballonmütze, auch Schiebermütze, abfällig für Arbeitermütze und die von Berliner Kleinganoven

[3]  ‚Norddeutsche Allgemeine Zeitung’, das Sprachrohr und Magenblatt des Eisernen Kanzlers, Otto Fürst von Bismarck, Reichskanzler …

Kleiner Nachtrag:
• Kurze Zeit später verfiel der Gerichtspräsident Brausewetter dem Wahnsinn unheilbar anheim; ebenso endete der Staatsanwalt Benedix in einer Irrenanstalt in Breslau.

...Karikatur eines „Anarchisten“ in der schweizer Satire-Zeitschrift Nebelspalter 1895
– Zeichnung von Fritz Broscovitz (mit freundlicher Genehmigung des ‚Nebelspalter‘)

Netter Nachtrag:

„In Zukunft werden wir den Arbeitern raten müssen,
sich mit Revolvern zu bewaffnen, sie haben doch nicht nötig,
sich von der Polizei überfallen zu lassen.“

Berliner Volks-Zeitung, 24. Januar 1894 – Beiblatt –
Notstandsdebatte – Hier Disput zwischen Karl Heinrich von Boetticher
(Stellvertreter des Reichskanzlers) und dem rechten SPD-Abgeordneten Paul Singer

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Zur Infiltration der anarchistischen und sozialdemokratischen Bewegungen siehe die beiden Beiträge von Albert Weidner in Aus den TiefenDie unsichtbaren Fäden der Polizei und Eine mißglückte Spitzelwerbung (hier wird der Polizeikommissar Boesel enttarnt, siehe Foto).

spohr-landauer-weidner-1898Drei Männer mit Bärten bei der Aufdeckung der Spitzelaffäre Machner um den Polizeikommissar Boesel in Berlin:
Landauer übersandte Boesel das Foto mit der handschriftlichen Widmung: „Herrn Kriminalkommissarius Boesel zur freundlichen Erinnerung an den schönen Abend in der Gewerbe-Ausstellung, 1. Oktober 1896, Gustav Landauer, Wilhelm Spohr, Albert Weidner“ (von links).

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A l b e r t   W e i d n e r

alfred-weidneralbert-weidner-unterschriftAlbert Wilhelm Weidner (24.2.1871-1.2.1946), in Berlin geboren, wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf. Der Vater fiel im Deutsch-Französischen Krieg 1871. Er erlernte den Beruf eines Schriftsetzers, arbeitete aber auch als Buchdrucker.

Politisch bekannte sich Albert Weidner seit ca. 1891 zu den Unabhängigen Sozialisten. Er strebte aber bald zum Anarchismus und geriet seit 1895/96 deshalb unter strenge Polizeikontrolle. Er wurde Vorsitzender der Freien anarchistisch-sozialistischen Vereinigung und übernahm um 1896 die Redaktion der Zeitung der Unabhängigen, Der Sozialist. Aus dieser Zeitung wurde dann das ‚Organ für Anarchisrnus und Sozialismus‘, das er zusammen mit Gustav Landauer und Wilhelm Spohr leitete. Ab 1896 war er gleichzeitig verantwortlich für das anarchistische Agitations- und Arbeiterblatt Der arme Konrad.

1899 erschien die letzte Ausgabe des Sozialist; Weidner musste die Herausgabe einstellen – 2.000 Mark Schulden beim Drucker und nur noch 4-500 Abonnenten waren der Grund.

Als Mitglieder des Friedrichshagener Dichterkreis (dies war eine lose Vereinigung von Schriftstellern, die seit 1888/89 zunächst in den Häusern von Wilhelm Bölsche und Bruno Wille in Friedrichshagen am Müggelsee – heute im Berliner Bezirk Treptow-Köpenick – zusammenkamen) sind als bekannte Anarchisten John Henry Mackay und Gustav Landauer, Wilhelm Spohr, Max Baginski, Hermann Teistler sowie Bernhard und Paul Kampffmeyer, der sozialistische Politiker Georg Ledebour, eben auch Albert Weidner zu nennen. Angesichts dieser Breite unterschiedlicher Milieus und ihrer politischen und literarischen Wortführer der gesellschaftlichen Opposition, charakterisierte Bruno Wille, sie als „literarisches Zigeunertum und sozialistische wie anarchistische Ideen, keckes Streben nach vorurteilsloser eigenfreier Lebensweise, Kameradschaft zwischen Kopfarbeitern und begabten Handarbeitern, aber auch geistvollen Vertretern des Reichtums“. (1)

Weidner schreibt nebenher im Jahre 1898 auch in der rechten SPD-Theorie-Zeitschrift Sozialistische Montshefte Artikel über den Anarchismus, so wie Spohr und Landauer und andere linksradikale intellektuelle Genossen ebenfalls.

Seit dem 4. Mai 1902 gab Weidner die Zeitung Der arme Teufel heraus. Für ein Jahr arbeitete auch Erich Mühsam als Redakteur für das Blatt. Den Satz machte Weidner in seiner Wohnung selbst. Um den Drucker vor Polizeimaßnahmen zu schützen meldete er eine Druckerei an. Aufgrund finanzieller Schwierigkeiten erschien der Arme Teufel unregelmäßig und wurde 1905 eingestellt.

Erich Mühsam erinnert sich an die Zeit: „Ich kam nach Friedrichshagen als Mitbegründer, Mitarbeiter und verantwortlicher Redakteur der Wochenschrift Der arme Teufel, als dessen Herausgeber Albert Weidner zeichnete. Weidner war von Hause aus Setzer, die Zeitschrift wurde dadurch materialisiert daß er sich auf Abzahlung den erforderlichen Schriftsatz kaufte; seine Artikel flössen stets ohne Manuskript aus dem Kopf in den Setzkasten, währenddem ich dabeisaß und mir bei einer Tasse Kaffee und einer Zigarre das aktuell-satirische Gedicht abquälte, das unter dem Pseudonym »Nolo« jede Nummer beleben mußte, oder technische Redaktionsarbeiten erledigte.“ (2)

Aus den Tiefen der Berliner Arbeiterbewegung erscheint dann 1905 in den Berliner Großstadt-Dokumenten. Zu dieser Zeit ist er – seit 1904 – auch Redakteur des Organs Der freie Arbeiter in Berlin. Diese Wochenzeitung der Föderation kommunistischer Anarchisten (FKAD) ist die Fortsetzung der Konkurrenzgründung Neues Leben, deretwegen seinerzeit angeblich der landauersche Sozialist einging (es waren finanzielle Gründe!). Mit Weidners Übernahme der Redaktion – er hat sich die Namensänderung wohl als Forderung ausbedungen gehabt – erscheinen auch vermehrt literarische Artikel und Übersetzungen in der Wochenzeitung. Er bleibt trotz heftiger Querelen wegen seines Stiles, der den radikaleren Elemente als zu gemäßigt daherkam, und die im Jahre 1904 bereits sein Ausscheiden erwarteten, und dieser Mißachtung und schlechten Behandlung durch einen Teil der Genossen bis zur Mainummer 1906 als verantwortlicher Redakteur im Amt. Allein zwischen der Nr. 1 (1904) und der Nr. 31 (1914) wurden 86 Verbote gegen das Blatt erlassen. Ab der Nr. 31 (1. August 1914) wurde die Zeitschrift polizeilich verboten sowie Geldzuweisungen und Briefe von der Post gesperrt.

Bisher ist nichts mehr auffindbar zu dem Hinweis bei Volker Linse, dass Albert Weidner im Jahre 1907 eine neue eigene Zeitung namens Die Unabhängigen editiert haben soll.

*

Weidner ging auf Reisen nach Süddeutschland und Holland, wo er für den Anarchismus agitierte. In den folgenden Jahren wandte er sich immer mehr vom Anarchismus ab. Er legte seine Tätigkeit als Redakteur nieder und wurde sogar 1913 aus der „Anarchistenliste“ der Berliner Polizei gestrichen. Nebenbei hatte Weidner bereits bei der vom liberalen Hellmuth von Gerlach herausgegebenen Wochenzeitung Welt am Montag : Unabhängige Zeitung für Politik und Kultur mitgearbeitet, an der auch Erich Mühsam regelmässiger Mitarbeiter war. Beide wurden dafür in der anarchistischen Bewegung kritisiert, weil sie dort für Geld arbeiteten.

Ob Albert Weidner als Soldat in den 1. Weltkrieg eingezogen wurde, konnten wir leider nicht in Erfahrung bringen. Sein Engagement bei der WaM umschrieb er 1920 so: „Vielmehr wollte sie eine Lücke im Berliner Zeitungswesen ausfüllen: es fehlte an einem Blatte, das über Partei- und sonstige Gruppeninteressen stand, das infolgedessen, vorurteilslos und rücksichtslos der Wahrheit dienend, Schäden und Schädlinge geißeln konnte, wo immer sie sich zeigten.“ (3)

1930 schreibt er noch in Ossietzkys Weltbühne einen Nachruf auf Gustav Landauer.

Die Familie Weidner, die aus zehn Personen bestand, war auf Grund ihrer elenden finanziellen Verhältnisse gezwungen bis zum Jahr 1913 zehnmal umzuziehen.

Anfang Februar 1932 beantwortete er noch Fragen von Max Nettlau zur Geschichte des Sozialist. Darin schreibt er u.a.: Nachdem Landauer und Spohr im August 1895 aus dem Gefängnis entlassen waren, betrieb „Landauer jetzt besonders die Propaganda der Arbeiter-Konsum-Genossenschaft als Waffe proletarischer Selbsthilfe. (…) Im Sozialist begann nun eine gründliche Debatte über die sozialistischen Theorien. Sie dehnte sich im Raum des Blattes schließlich so stark aus, dass im Kreise der Genossen sich Widerstand dagegen regte, das das Blatt durch Überlastung mit theoretischen Abhandlungen dem Propagandazwecke zu stark zu entziehen. Die Verärgerung bei einer Anzahl Gruppen wurde zu einem noch schlimmeren inneren Kampf. Schließlich konnten die drei Herausgeber des Sozialist sich nicht der Einsicht verschliessen, dass jene Kritik nicht ganz unzutreffend war. Deshalb entschlossen sie sich, neben dem Sozialist noch ein kleineres, ganz populäres, mehr aktuelles Wochenblatt zu schaffen, so erschien im August 1896 neben dem Sozialist neu Der arme Konrad, herausgegeb, redigiert und zum Teil gesetzt von Weidner.“ (4)

Als fest angestellter Redakteur arbeitete Weidner bis zum 6. März 1933 bei der Welt am Montag, mit dieser 10. Ausgabe des 39. Jahrgangs wurde das Erscheinen durch die Nationalsozialisten verboten. Es ist der Tag nach dem überwältigenden Wahlsieg der NSDAP bei den „letzten freien Reichstagswahlen vom 5. März 1933“ …

Aber, – „Albert Weidner blieb seiner Gesinnung treu, für die ‚Hakenkreuzblätter‘ schrieb er keine Zeile mehr. Von 1935 bis 1945 lebte er zurückgezogen von der Tätigkeit als Lektor des Ullstein-Verlages, später Deutschen Verlages, für Unterhaltungsromane.“ (5)

Hierbei wird leider nicht erwähnt, dass nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten 1933 das Familieunternehmen Ullstein 1934 „arisiert“ wurde. Der Verlag wurde 1937 in Deutscher Verlag umbenannt und dem Zentralverlag der NSDAP (Franz Eher Nachfolger GmbH) angegliedert. Die politisch-inhaltliche Ausrichtung – auch der Unterhaltungsromane, die Weidner lektorierte! – wurde durch die Übernahme im Sinne des NS-Regimes verändert. Wie Weidner das ertragen oder mitmachen konnte, ist zumindest fragwürdig.

Nach dem Tod seiner ersten Frau heiratete Weidner 1925 ein zweites mal und siedelte nach Charlottenburg über. Hier wurde er 1943 ausgebombt und kehrte nach Friedrichshagen zurück.

Nach Kriegsende erhielt er 1945 vom Friedrichshagener Kultur- und Volksbildungsamt den Auftrag, die Volksbücherei ‚vom Nazigift zu reinigen‘. Im September trat er der SPD bei, veröffentlichte Artikel in dem Parteiorgan Das Volk und hielt Vorträge in der Volkshochschule Friedrichshagen.“ (6)

Von Mai 1945 bis November 1946 wohnte er bei Verwandten in der Bruno-Wille-Str. 75, wo er auch im 75. Lebensjahr am 1. Februar 1946 an einem Hungerödem verstarb. (7)

Albert Weidner lebte also in östlichen Ostberlin in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ). Die Gründung der DDR 1949 erlebte er nicht mehr, ebenso erspart geblieben ist ihm die Vereinigung von SPD und KPD am 21./22. April 1946 zur SED und damit zur Staatspartei des „ersten Arbeiter- und Bauernstaates“ auf deutschem Boden.

Albert Weidner ist eine zu Unrecht in Vergessenheit geratene Figur im kaiserlich-wilhelminischen Anarchismus Berlins. Seine vielfältigen Fähigkeiten als Setzer, Redakteur und Autor spiegeln seine pazifistisch-liberales verständnis eines friedfertigen Anarchismus wider, den es in Literaten- und Bohéme-Kreisen seiner Zeit mannigfaltig gab, diese intellektuell-idealistische Sichtweise – geprägt durch Landauers geradezu gottesfürchtigem Sozialismus-Anarchismus-Begriff – führte zu den Konflikten in und mit der mehrheitlich klassenkämpferisch eingestellten anarchistischen Arbeiterbewegung Berlins.

Weidners Beschreibungen der Verhältnisse zur Zeit der Jahrhundertwende um 1900 sind so tiefschürfend interessant und amüsant zugleich, dass wir uns entschlossen haben, sein ‚Hauptwerk‘ nachzudrucken. Es ist schon deshalb erhellend, weil er versucht, einem mehrheitlich bildungsbürgerlichen Publikum – die Großstadt-Dokumente erreichten recht hohe Auflagen – eine Sicht auf den Anarchismus zu verschaffen, der selbst heute noch bürgerlichen Journalisten die Schamesröte ins Gesicht treiben müsste, ob ihrer verdrehten Gewaltphantasien.

Folkert Mohrhof

 

(1) Bruno Wille – Aus Traum und Kampf. Mein 60jähriges Leben. (Berlin 1920, S. 507)
(2) Erich Mühsam – Namen und Menschen. Unpolitische Erinnerungen, Leipzig 1949 (erschienen zuerst 1927-1929 in der Vossischen Zeitung)
(3) Albert Weidner: „25 Jahre Welt am Montag“, in: Welt am Montag, 26. Jg., 13.12.1920
4) Brief von Albert Weidner an Max Nettlau vom 2. Februar 1932 (Quelle: IISG)
5) Nachwort von Albert Burkhardt (S. 64) des Friedrichshagener Hefte Nr. 17 – Fidus. Von Friedrichshagen nach Woltersdorf. Briefe an Albert Weidner 1903-1939 (Berlin 1998)
6) Nachwort von Albert Burkhardt (S. 64) des Friedrichshagener Hefte Nr. 17 – Fidus. (1998)
7) Albert Weidner ist in Berlin auf dem Friedhof Christophorus-Friedhof, Feld B beerdigt und hat dort einen Ehrenplatz auf der Gedächtnisstätte gefunden. (http://www.berlin.friedparks.de/such/gedenkstaette.php?gdst_id=1201)

Nazi-Politik in Spanien 1936-39

Die Faschisten marschieren auf Madrid 20.7.1936Der Kampf beginnt … die spanischen Faschisten starten ihren Militärputsch … Norddeutsche Nachrichten, Ausgabe Altonaer Nachrichten vom 20. Juli 1936 … Gleichzeitig startet das „Olympische Feuer“ in Griechenland zu den Olympischen Spielen in Berlin im August 1936 …

barricadas-sucesos-mayo.png              Barrikaden in Barcelona im Mai 1937 …
… und die Abrechnung der Ausgaben für die Legion Condor 1936-1938

Ausgaben Drittes Reich Spanien 1936-38 Seite 765.jpg

Vortrag Doris 27. April 2016

Hiermit veröffentlichen wir den überarbeiteten Vortrag zur Buchvorstellung von Doris Ensinger, den sie am 27. April 2015 in der AGiJ gehalten hat.

WER TYRANNEI SÄT, WIRD GEWALT ERNTEN

Die Vorstellung meines Buches „Quer denken – gerade leben. Erinnerungen an mein Leben und an Luis Andrés Edo“ findet im Rahmen der Veranstaltungsreihe 80 Jahre Soziale Revolution in Spanien statt. Im ersten Teil meines Beitrags – den ich mit WER TYRANNEI SÄT, WIRD GEWALT ERNTEN betitele – möchte ich über die 80 Jahre sprechen, die dem Spanischen Bürgerkrieg und der sozialen Revolution vorausgegangen sind. Zum einen spielen sie in einem Kapitel des Buches eine kleine Rolle, worauf ich am Ende eingehen werde, zum anderen müssen die Geschehnisse in den vorangegangenen Jahrzehnten berücksichtigt werden, um verstehen zu können, warum sich die Anarchisten, die ihrem Selbstverständnis nach Antimilitaristen und Antibellizisten sind, mit Gewalt gegen die Faschisten wehrten.

Doris Ensinger VORTRAG (download)

Vortrag Doris 27. April 2016

Doris Ensinger im ‚Schattenblick‘

Spanien36-Flyer-klein_Seite_1Vorder- und Rückseite des 6er-Faltblattes der ASG Hamburg-Altona
und des verlag | barrikadeSpanien36-Flyer-klein_Seite_2Download Spanien36-Flyer-klein
DSC_2459Foto von unserer Veranstaltung am 27. April 2016 mit Doris Ensinger
in Rahmen unserer Veranstaltungen zum
80. Jahrestag der Spanischen Revolution
abr16-ed160430-pag060pdf-1461961840586Am 30. April erschien dann ein kleines Interview in der Tageszeitung El Periodico in Barcelona: «No soy una mujer heroica, pero defiendo mis ideas»
http://www.elperiodico.com/es/noticias/sociedad/doris-ensinger-soy-una-mujer-heroica-pero-defiendo-mis-ideas-5098002
dsc05996Doris Ensinger bei ihrer Buchvorstellung am 1.11.2015
in Nürnberg auf der 20. Linken Buchmesse

Interview vom 1. November 2015 – veröffentlicht am 9.1.2016 im ‚Schattenblick‚:
http://www.schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbri0040.html

Revolutionsromantik

SPD-1«Die Autonomie», London, Nr. 164 – 12. Dezember 1891 – VI. Jahrgang, S. 4

 

Revolutionsromantik

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Wer sich daran erinnert, daß sozialdemokratische Wortführer im Anfang der neunziger Jahre mehrfach die soziale Revolution, d.h. das, was man gemeinhin als den „großen Kladderadatsch“ bezeichnet, für das Jahr 1898 ankündigten, wird es begreiflich finden, daß zu jener Zeit in den Tiefen der großstädtischen Arbeiterbewegung die Zuversicht der bevorstehenden Umwälzung eine allgemeine war. Eine Reihe an Umfang und Wirkung zunehmender wirtschaftlicher Krisen hatten das wirtschaftliche Leben in Deutschland stark erschüttert, und es schien, als solle die marxistische Krisentheorie durch die Tatsachen der wirtschaftlichen Entwicklung ihre baldige Bestätigung erleben und die Realisierung der sozialistischen Ideale damit in nächster Nähe gerückt sein.

In der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung wurde um diese Zeit mit aller Kraft die politische Organisation des Proletariats zu vervollkommnen gesucht, damit im entscheidenden Moment, wenn die Gewalt einer wirtschaftlichen Krise das bisherige soziale System umstürze, die politische Macht der Arbeiterklasse einer reaktionären Konterrevolution siegreich standzuhalten vermöge.

In den anarchistischen Arbeiterkreisen machte sich ein mehr praktisch-revolutionärer Zug geltend. Derselbe äußerte sich aber keineswegs in Taten, sondern blieb – entsprechend dem zu pedantischer Tüftelei neigenden Charakter der deutschen Arbeiter – auf die theoretische Diskussion revolutionärer Möglichkeiten beschränkt. Wie weit das ging, mag die Erwähnung einer Auseinandersetzung beweisen, der ich einmal beiwohnte und in der um das Schicksal der öffentlichen Kunstschätze und Bibliotheken für den Fall einer Revolution heiß gestritten wurde; es gab zwei Meinungen: die einen hielten das Schicksal dieser Kulturgüter bei aller Anerkennung ihres Wertes doch für so unwichtig, als daß man sich darüber etwa während eines Straßenkampfes den Kopf zerbrechen dürfe, – die anderen aber erklärten den Schutz und die Erhaltung derselben für eine der ersten Aufgaben fortgeschrittener Revolutionäre und priesen die Bewachung der Museen und Bibliotheken gegen etwaige Plünderungen durch Unwissende als nicht minder rühmlich wie den Kampf auf der Barrikade.

Es liegt in Hinsicht auf derartige Debatten nahe, anzunehmen, daß in diesen Kreisen positiv auf den Ausbruch einer Revolution hingearbeitet worden wäre. Jedoch war das keineswegs der Fall. Nichts lag ihnen ferner als der Gedanke etwa an eine Verschwörung oder der Inszenierung eines Putsches und Michael Bakunin, dessen Anschauungen von Staat und Gesellschaft der Ideengang dieser Männer zu folgen versuchte, hätte solchen Anhängern wohl gelangweilt und verdrossen den Rücken gewandt.

Einzig der felsenfeste Glaube, daß eine Krise im Laufe des gesellschaftlichen Entwicklungsganges die soziale Revolution automatisch auslösen müsse, und daß dieses Ereignis unmittelbar bevorstehe, führte zu einer revolutionären Stimmung, die besonders prägnant da zum Ausdruck kam, wo es, sei es in Volksversammlungen oder am Biertisch, Streitigkeiten mit Sozialdemokraten gab, deren sozialreformatorische Bestrebungen als revolutionshemmend und –hinausschiebend angesehen wurden.

Johann Most, der ehemalige sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete, der zufolge seiner radikalen Tendenz Deutschland zur Zeit des Sozialistengesetzes verlassen mußte, und seitdem, zuerst in London, dann in Neuyork, die kommunistisch-anarchistische Wochenschrift „Freiheit“ herausgab und noch herausgibt, hat ein – schon erwähntes – Büchlein herausgegeben, betitelt: „Revolutionäre Kriegskunst“. Es stellt gewissermaßen eine Strategie des Straßenkampfes, wie auch der indivivuellen, revolutionären Tat, des Attentats, dar. Die Herstellung von Nitroglyzerin, der Bau von Barrikaden und ähnliches sind darin anschaulich geschildert.

Ich fühle mich außerstande, den praktischen Wert dieser Schrift zu beurteilen. Ich weiß jedoch, daß die Polizei ihr eine große Bedeutung beimaß, sehr eifrig danach fahndete und daß sie einem Polizeikommissar – wie wir noch sehen werden – als ein begehrenswerter Besitz erschien. Andererseits weiß ich aber ebensowohl, daß in den Kreisen derer, für die das Buch geschrieben ist, es nie eine andere Schätzung erfahren hat, als die, daß es allgemein für eine Rarität galt, nach dessen Lektüre manch einer sich mit demselben erwartungsvollen Schauer sehnte wie ein stupides Dienstmädchen nach der Fortsetzung ihres Schundromans. Es ist zu bezweifeln, ob es je und irgendwo zur Ausbildung auch nur eines einzigen entschlossenen Revolutionskämpfers beigetragen hat.

Zur selben Zeit, da in Paris der Anarchist Vaillant seine unschädliche Demonstrationsbombe in die französische Deputiertenkammer warf, und, um seinen Tod unter der Guillotine zu rächen und zur Vernichtung der Bourgeoisie anzuspornen, sein Genosse Emile Henry die Explosion im Pariser Café Terminus bewirkte, um diese Tat alsdann vor Gericht sachlich und mit geradezu philosophischer Kaltblütigkeit eingehend zu begründen, – in diesen Tagen, da die Anarchistenverfolgung auch in Deutschland eine äußerst rigorose war, dachte gleichwohl unter den Anarchisten niemand daran, solche Taten nachzuahmen. Die in diese Zeit fallenden, weiter vorn schon einmal erwähnten Schüsse des Berliner Anarchisten Schewe auf einen Kriminalpolizisten stellen lediglich einen spontanen Zornesausbruch über eine unaufhörliche und schließlich unerträgliche Observation dar.

Ein akademisch gebildeten Feuerkopf slawischer Abstammung, der einmal unter Berliner Anarchisten Pläne entwickelte, die auf die Propaganda anarchistischer Ideen im Heere abzielten, begegnete allgemeiner Skepsis, der sich teilweise sogar direktes Mißtrauen zugesellte.

Ein proletarischer Feuerkopf, der sich hoch und teuer verschwor, dem damals noch lebenden Reichsanwalt Tessendorf seine Rigorosität in den Hochverratsprozessen gegen Sozialdemokraten und Anarchisten einzutränken und an ihm ein abschreckendes Beispiel zu demonstrieren, ward weder ausgelacht oder gemieden. Mit Büchners „Kraft und Stoff“ in der einen, und einem Revolver in der anderen Tasche, erzählte er davon jedem, der es hören wollte, und behauptete verdrossen, seinen Plan nur deshalb nicht ausführen zu können, weil ihm kein Mensch den Taler zum Fahrgeld nach Leipzig pumpe, dem Wohnsitz des Verhaßten.

… Fortsetzung folgt …

––––––––––

… im Buch. Auszug aus dem im März/April 2016 erscheinenden Neuauflage
Aus den Tiefen der Berliner Arbeiterbewegung
von Alfred Weidner aus dem Jahre 1904.

Dieser Nachdruck wird ergänzt durch Prozeßberichte zum Koschemann-Prozeß
sowie eine Kurzbiografie über Albert Weidner.

Insgesamt ca. 180 Seiten Umfang – Preis 10 €uro

Die Adolf Jäger-Story im «neuen deutschland»

Heute, am 13. November 2015, erschien ein weiterer Artikel zum Adolf Jäger-Buch aus unserem Verlag,
diesmal im «neues deutschland»:

https://www.neues-deutschland.de/artikel/991043.vom-schustersohn-zum-fussballstar.html

Hier der Artikel als download: AdolfJäger_ND13.11.2015

jagerDas Buch kann weiterhin gegen 6,80 EUR (inkl. Porto) bei uns bezogen werden. Bedankt!

Neuerscheinung: Der Libertäre Atlantik von Tim Wätzold

Seit dem 1. September 2015 neu im Sortiment – unser erster Band der ‚Wissenschaftlichen Reihe‘

TB AtlantikDer Libertäre Atlantik

von Dr. Tim Wätzold

Der Libertäre Atlantik behandelt die Entstehung der Arbeiterbewegungen Südamerikas im Zusammenhang mit der europäische Massenmigration anhand der Untersuchungsländer Argentinien, Uruguay und Brasilien im Zeitraum 1870 bis 1920. Der Schwerpunkt liegt in der Analyse der soziokulturellen Transformationsprozesse im transnationalen historischen Vergleich. Durch Untersuchung der Entwicklung anhand von Institutionen, Diskursen sowie performativen, politischen als auch kulturellen Praktiken werden die transkulturellen Aspekte der kollektiven Identität als internationale Arbeiterbewegung behandelt. Diese vergleichbaren Praktiken im atlantischen Raum waren Teil der Subjektivierung des Internationalen Proletariats. Neben der Gründung von Gewerkschaften und Vereinen werden die damit verbundenen kulturellen Einrichtungen wie Schulen, Theater und Bibliotheken sowie die Alltags- und Freizeitgestaltung untersucht. Berücksichtigt werden die Entwicklung der Migration, Industrialisierung und Urbanisierung in den südamerikanischen Einwanderungsländern, die den Kontext bildeten für die Entstehung und Interaktion der Arbeiterbewegungen im libertären Atlantik.

ISBN  978-3-921404-04-1               • 360 Seiten – Preis: 24,80 EUR                      • Gewicht: 643 g

Libertärer Atlantik Umschlag

 

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung: Unsere Heimat ist die ganze Welt
2. Grundlagen und Kontext der atlantischen Massenmigration
2.1 Soziale und politische Entwicklung in Europa und der Welt
2.2 Europäische Massenmigration mit Destination Südamerika
2.3 Urbanisierung
2.4 Lebensbedingungen in Südamerika
2.4.1 Landwirtschaft in Brasilien
2.4.2 Landwirtschaft in Argentinien und Uruguay
2.5 Mythos Fazer America
2.6 Urbane Lebensbedingungen
2.7 Kontext der Industrialisierung
3. Praktiken der Subjektivierung:
3.1 Sozioökonomische Organisation
3.1.1 Argentinien
3.1.2 Uruguay
3.1.3 Brasilien
3.2 Zäsur: Der Erste Weltkrieg und die Eskalation des sozialen Konflikts
3.2.1 Der Generalstreik in São Paulo im Juli 1917
3.2.2 Der Fokus der Streiks, Rio de Janeiro 1918
3.3 Interaktion mit sozialen Bewegungen
3.4 Die Infrastruktur der Subkultur
3.4.1 Soziale Zentren
3.4.2 Libertäre Schulen
3.4.3 Weiterführende Bildung, das Projekt der Volksuniversität
3.5 Theater als Subjektivierungspraxis
3.6 Feiertage, Rituale, öffentliche Performance und Freizeitgestaltung
3.6.1 Der 1. Mai als Feiertag und Ritual der internationalen Arbeiterbewegung
3.7 Musik als Symbol in der Subjektivierungspraxis
3.8 Das Arbeiter Picknick als kosmopolitische Subjektivierungspraxis
4. Die urbane Bewegung und der Kontakt zu den Arbeitern auf dem Land
5. Libertäre Literatur als Beitrag zur Subjektivierung
6. Die Kommunikationsbasis des libertären Atlantiks
7. Der Libertäre Atlantik Schlussfolgerungen
8. Literatur- und Quellenverzeichnis
8.1 Quellen
8.2 Literatur
8.3 Periodika
8.4 Internet
8.5.Sonstige und Onlinearchive
Danksagung

Über den Autor

Dr. Tim Wätzold, Promotion in Iberischer und Lateinamerikanischer Geschichte (2007-2010) Universität zu Köln, Post-Dok Stipendiat des Graduierten Kollegs Migration der Kath. Universität Eichstätt-Ingolstadt (2011-2014) mit dem Forschungsprojekt: Die Entstehung der Arbeiterbewegungen Südamerikas und die europäische Massenimmigration. Transnationale Zusammenhänge und Konstruktion kollektiver Identitäten. Post-Dok Stipendiat der brasilianischen Bundesuniversität UFMG (2014 -) mit dem Forschungsprojekt: The „columbian exchange“ the other way around. The impact of the dutch trading companies on the globalization of food and beverages in the 17 th century. Autor verschiedener Artikel, Beiträge und Bücher zur globalen Sozial- und Kulturgeschichte.

Ein Gespräch mit einem neuseeländischem Syndikalisten: Percy B. Short

Ein Gespräch mit einem neuseeländischem Syndikalisten: Percy B. Short (1914)

Percy_Short

Vorbemerkung des Bearbeiters.

I. Die Quelle

Das Interview mit dem neuseeländischen Mitglied der Industrial Workers of the World (IWW) Percy B. Short (1) wurde Anfang 1914 geführt. Entdeckt hat den Text Jared Johnson in den »Max Nettlau Papers« (2) im Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis (IISG) in Amsterdam (3). Es handelt sich um ein Typoskript, von dem nur die Seiten 2 und 3 erhalten sind, und das wie eine Presse-Korrespondenz o. ä. wirkt (4). Der Text wurde auf der Internet-Seite ‚Red Ruffians‘. Fragments of Aotearoa’s Anarchist and Syndicalist Past erstmals veröffentlicht. Dort ist er sowohl auf deutsch (in seiner ursprünglichen Fassung) wie auch in englischer Übersetzung nachzulesen (5).

II. Interviewer Nettlau?

Als Interviewer wird von den ‚Red Ruffians‘ der anarchistische Historiker Max Nettlau genannt. Dies wird in dem Nachdruck des Interviews im Newsletter des Labour History Project (6) und in einem Artikel in der Zeitschrift der Föderation deutschsprachiger Anarchist*innen (FdA), Gai Dào, (Nr. 24, Dezember 2012) übernommen (7). Aber stimmt das?

Schon bei der ersten Lektüre auf der Internetseite der ‚Red Ruffians‘ irritierten mich vor allem die grammatischen und sprachlichen Schnitzer des deutschen Textes. Und die Partien, in denen Short direkt zu Worte kommt, wirken wie eine wörtliche Übersetzung aus dem Englischen, ohne Rücksicht auf die deutsche Grammatik – ein Eindruck, der sich durch den Vergleich mit der englische Übersetzung verstärkt. Völlig unverständlich sind schließlich die eingestreuten niederländischen Worte (z.B. »Einborlinge« für »Eingeborene«; »von den Blanken verdrungen« für »von den Weißen verdrängt«) – wenn man davon ausgeht, daß der Verfasser des Textes Max Nettlau ist, ein Deutsch-Österreicher. Der vorliegende Text ist jedoch offenbar von jemandem verfaßt worden, der das Deutsche zwar beherrscht, dessen Muttersprache allerdings Niederländisch (oder Flämisch) ist. Nettlau als deutscher Muttersprachler scheidet damit definitiv aus.

Der Text scheint, wie erwähnt, in einer Presse-Korrespondenz oder ähnlichem erschienen zu sein. Doch in welcher? Am wahrscheinlichsten erscheint mir, daß das Interview aus einer Ausgabe des Bulletin international du mouvement syndicaliste stammt, welches der niederländische Syndikalist Christiaan Cornelissen vom 8. September 1907 bis zum 22. März 1914 wöchentlich in französischer, deutscher, englischer und niederländischer Sprache in Paris herausgegeben hat (8). Hier würde alles passen: ein Niederländer, der neben Französisch auch Deutsch und Englisch spricht (9) und ein mehrsprachiges internationales revolutionär-syndikalistisches Bulletin herausgibt.

Der Internationale Syndikalistische Kongreß 1913 in London (10) richtete ein Informationsbüro in Amsterdam ein, unter dessem Dach Cornelissen das Bulletin weiter herausgab (11). Die erste Nummer erschien am 5. April, die letzte, Nr. 17, am 26. Juli 1914, wenige Tage vor dem Ausbruch des 1. Weltkriegs (12). Das Interview ist wohl – wenn meine Annahme stimmt – in einer der ersten Nummern des Jahrgangs 1914 erschienen, die gleichzeitig eine der letzten Nummern ist, die Cornelissen in Eigenregie herausgab.

Aber wer führte das Interview? Da der Ort nicht angegeben ist, ergeben sich mehrere Möglichkeiten. Falls Percy B. Short auch in Frankreich war, so könnte Cornelissen der Interviewer sein. Ich habe bisher allerdings keine Informationen gefunden, die das bestätigen könnten. Alternativ dazu – und das ist wahrscheinlicher, da in dem Text nur erwähnt wird, daß »Short nach England reiste« – könnte das Interview von Frida Tscherkessowa-Rupertus (13) in London geführt worden sein, der Schwester von Cornelissens Lebensgefährtin Lilian ‚Lilly‘ Rupertus, die aktiv bei der Distribution des Bulletin in Großbritannien mithalf (14).

III. Datierung

In der Vorbemerkung der Red Ruffians wird das Interview auf »around 1914« datiert. Vor dem Interview befindet sich in der Vorlage eine Notiz zum Bündnis dreier britischer Gewerkschaften, der Mining Federation of Great Britain, der National Union of Railwaymen und der National Transport Workers‘ Federation, die sogenannte Triple Alliance, die Anfang 1914 gegründet wurde. Die im Interview erwähnte Zeitung der australischen IWW, Direct Action, erschien seit Januar 1914. Damit ist auch die Datierung des Interviews auf Januar, spätestens aber Februar 1914 möglich. In der Zeitschrift Gai Dào wird das Interview unverständlicherweise in das Jahr 1915 verlegt (15).

VI.

Sämtliche Anmerkungen und Ergänzungen in [eckigen] Klammern stammen vom Bearbeiter. Eingriffe in den Text sind in den Anmerkungen nachgewiesen.

Jonnie Schlichting, 2. Juni 2015

* * *

DA_Kopf_(Sidney)_No_5_(15-05-1914)

Wir hatten das Vergnügen, mit einem Genossen von den Antipoden (16) zu sprechen, der nach Europa gekommen ist, um die syndikalistische Bewegung der verschiedenen Länder kennenzulernen.

Vor einigen Wochen erhielten die Industrial Workers of the World der Sektion Auckland ein Schreiben vom Herausgeber eines offiziellen syndikalistischen Organes in Europa, um Auskunft über die letzten grossen Streiks in Neuseeland [zu bekommen] (17).

Unser Genosse Percy B. Short wurde mit einem anderen Genossen beauftragt, die Antwort zu redigieren; da aber Short nach England reiste, wurde er ersucht, persönlich die Antwort und alle ferneren Auskünfte [zu] überbringen, um seinerseits auch über die europäische Bewegung Erkundigungen einzuziehen.

Da Short auch einige Zeit Mitglied der Sektion der I.W.W. in Sydney war und also die ganze revolutionär-syndikalistische Bewegung [in Neuseeland und Australien] kennt, waren wir sehr erfreut, über beide Bewegungen mit ihm sprechen zu können. Unsere Unterhaltung war desto interessanter, weil unser Genosse von Geburt ein Māori ist (18), ein Sohn der Eingeborenen (19) Neuseelands, des Volkes, das immer mehr von den Weißen verdrängt (20) wird, sich aber mit unglaublicher Energie und Ausdauer aufrecht erhält.

Um unsere Leser einigermaßen zu orientieren, bemerken wir an erster Stelle, daß in Sydney (Neu Süd-Wales) ein revolutionär-syndikalistisches Organ besteht, Direct Action (21), während in Auckland der Industrial Unionist erscheint. Ferner wird in Wellington, Neuseeland, der Māoriland Worker (22) herausgegeben. Die Redakteure dieses Blattes sind die Genossen Harry Holland (23) und J.B. Allen (24), der letztere ein revolutionärer Syndikalist, der in England jahrelang tätig war.

Die revolutionäre Gewerkschaftsbewegung in Australien und Neuseeland ist ganz nach dem Muster und mit den Statuten der Industrial Workers of the World der Vereinigten Staaten organisiert(25), und unsere Antipoden verdanken denselben auch einen beträchtlichen Teil ihrer Propagandaliteratur(26). Durch das Prinzip des Industrial Unionism, d.h. der Föderation nach Industrien, unterscheidet die syndikalistische Bewegung in Australasien sich ebenso wie in Nord-Amerika vom organisatorischem Standpunkt aus von den alten Berufsvereinen.

Wir haben uns zuallererst mit Genossen Short unterhalten über die allgemeinen Zukunftsperspektiven (27) der revolutionär-syndikalistischen Propaganda, und mit einer wahren Überraschung hörten wir dabei, daß ganz besonders unter den Māoris diese Propaganda durch die Vergangenheit der Bevölkerung mit ihrem Urkommunismus begünstigt wird.

Unter den Māoris scheint ein Arbeiter, der als Streikbrecher seinen Kameraden das Brot aus dem Munde nimmt, so gut wie ein unbekanntes Wesen zu sein, dessen Existenz (28) schon durch das alte Solidaritätsgefühl in den Volkssitten ausgeschlossen ist (29).

Lang sprachen wir weiter über die anti-militaristische Propaganda, welche in den letzten Jahren seit der Einführung des Militärdienstes in Neuseeland (30) angefangen hat. Verschiedene junge Burschen, zum Gefängnis verurteilt, traten in (31) den Hungerstreik, gerade wie es jetzt auch die Suffragets (32) in England machen. Die anti-militaristische Bewegung (33) ist immer noch lebendig (34).

Schliesslich war es die Gewerkschaftsbewegung, und zwar das Verhalten zu den konservativen Verbänden, das uns am Meisten interessierte:

– Sind die konservativen Gewerkschaften, so fragten wir, diejenigen eben, die unter dem (35) Gesetz auf den verpflichteten Schiedsspruch (36) organisiert sind, im Fortschritt begriffen, oder büßen sie vielmehr an Einfluss ein?

– Augenblicklich, antwortete Short uns, sind von den 80.000 Arbeitern, die in Neuseeland leben, 65.000 unter dem Arbitration Act organisiert, während 15.000 unter dem Trade Unions Act (37) organisiert sind (38); letztere regeln ihre Streitigkeiten mit den Unternehmern direkt.

– Und wie geht es mit den Streiks in ihrem Lande, dem ‘Arbeiterparadies’, dem ‘Lande ohne Streiks und Aussperrungen’, wie unsere Sozialreformer in Europa es so gerne nennen?

– Die Streiks nehmen immer mehr zu, an Anzahl und an Intensität.

– Und das Streik-Gesetz (39), wodurch dieselben verboten sind?

– Dem Zwangsschlichtungsgesetz in Neuseeland ist der Schädel zerschmettert worden (40) (Arbitration is killed in New Zealand).

Und Short setzte uns auseinander, wie die Landesregierung es macht, um die wahre Lage zu verbergen.

– Sie werden sich wohl, es ist schon einige Jahre her (41), [an] den grossen Streik der Bergarbeiter in Blackball erinnern (42). Die Regierung ist dabei soweit gegangen, den Hausrat der zu Geldbußen verurteilten Streikenden (43) verkaufen zu lassen; Niemand wagte es aber, davon zu kaufen. Schliesslich bezahlte die Regierung nun selbst die Geldbußen, unter Vorgeben, dieselben seien von den verurteilten Bergarbeitern selbst bezahlt [worden], eine Lüge, wogegen Letztere laut ihren Protest erhoben (44).

Noch vor wenigen Wochen, wie sie sich gewiss erinnern, haben wir noch einen Generalstreik in Neuseeland gehabt, der sich auf alle Städte und auf fast alle Berufe (45) ausdehnte (46).

Short setzte uns weiter auseinander, wie in Australien, wo die Gesetzgebung weniger streng ist, und wo dem Versuch zur Versöhnung der Schiedsrechtsspruch vorausgeht, der Zustand nicht so gespannt ist und der revolutionäre Syndikalismus auch dort große Fortschritte macht.

Gerne hätten wir das Gespräch noch fortgesetzt, aber wie wir schon sagten, war Genosse Short nicht allein gekommen, um Auskunft zu geben, sondern auch um Auskunft zu holen, und da seine Zeit bemessen ist, haben wir versprechen müssen, das Gespräch wohl wieder aufzunehmen, aber um diesmal über die europäische Bewegung zu sprechen.

MW_1914_01_07_Titel

Anmerkungen

1 Zu Short siehe Derby 2012a.

2 (Nr. 3424) New Zealand. 1906 and n.d.

3 Das Original ist dort mittlerweile auch online einseh- und herunterladbar.

4 In dem Konvolut befinden sich drei weitere undatierte Dokumente: ein Flugblatt der New Zealand Society for Social Ethics; ein mehrfach durchgestrichener ‚Schmierzettel‘ (den ich weitgehend nicht entziffern kann); eine englischsprachige Tabelle (möglicherweise ein Korrekturabzug) zu Bevölkerung und Einkommensverteilung eines Landes, das jedenfalls nicht Neuseeland ist: denn dort wird eine Bevölkerungszahl von 43 Millionen angegeben, während Neuseeland selbst im Jahre 2013 nur 4,47 Millionen Einwohner hatte (vgl. Wirtschaftsdatenblatt des Auswärtigen Amtes für Neuseeland [abgerufen am 25. Mai 2015]).

5 A Conversation with a Syndicalist from New Zealand. Max Nettlau talks to Percy Short. Die Übersetzung ins Englische stammt von Urs Signer.

6 »A comrade from the antipodes«; in: LHP Newsletter 55, August 2012, S. 8 – 9.

7 Pete 2012.

8 Lehning [1986]; Thorpe 1989, S. 31f.; Wedman, 1993, S. 8; Wedman 2001, S. 476. – Es erschienen insgesamt 336 Ausgaben.

9 Wedman 2001, S. 476.

10 Westergard-Thorpe 1978; Westergard-Thorpe 1981; Thorpe 1989, S. 66 – 86.

11 Thorpe 1989, S. 78.

12 Westergard-Thorpe 1978, S. 76. – Am 1. Januar 1915 erschien noch eine Ausgabe, die lediglich die Einstellung des Bulletins aufgrund des Krieges mitteilte.

13 Sie war seit 1899 mit dem georgischen Anarchisten Waarlam Tscherkessow verheiratet, einem engen Freund Kropotkins, mit dem sie in London lebte.

14 Thorpe 1989, S. 69.

15 Pete 2012, S. 26 – Die launige Beschreibung des angeblichen Treffens zwischen Short und Nettlau – »In einem verrauchten Zimmer einer Londoner Seitenstraße treffen 1915 zwei Männer aufeinander, die weiter voneinander entfernt nicht leben könnten.« – ist zwar eine hübsche Geschichte, aber allein schon deshalb unmöglich, weil Nettlau zu diesem Zeitpunkt, dem zweiten Jahr des ‚Großen Krieges‘, als Staatsbürger der Donaumonarchie und damit ‚feindlicher Ausländer‘ (und Anarchist!) nicht mehr in London frei herumgelaufen wäre, geschweige denn dorthin hätte einreisen können. Er hätte das Schicksal Rudolf Rockers und anderer Emigranten aus den Ländern der Kriegsgegner des United Kingdom geteilt – die Internierung (siehe Rocker 1974, S. 261 – 275).

16 Veraltete Bezeichnung für Australien und Neuseeland.

17 Im März 1912 streikten 1.000 Bergarbeiter der Goldmine in Waihī. Die Regierung setzte im Oktober Polizei ein, die über 60 Streikende verhaftete und den Einsatz einer großen Zahl von Streikbrechern ermöglichte. Am 12. November griff ein Mob von mehreren hundert Streikbrechern und Polizisten das Gewerkschaftsgebäude an. Bei dessen Verteidigung wurde der Kollege Fred Evans totgeprügelt. Anschließend marodierte der Mob durch die Stadt und vertrieb die Streikenden und ihre Familien aus Waihī (Holland u. a. 1913; Mouat 1992; Derby 2012b; McCulloch 2012; Atkinson 2014).

Etwa 16.000 Hafen- und Bergarbeiter in Wellington, Auckland und Christchurch streikten im November 1913. Auch hier kam es zu militanten Auseinandersetzungen mit Streikbrechern, die von der Regierung herangebracht, bewaffnet und zu ‚Hilfspolizisten‘ ernannt wurden. Zusätzlich sandte man zwei Kriegsschiffe in die bestreikten Häfen. Nach sechs Wochen wurde der Streik durch die Verhaftung der Streikführer gebrochen (Nolan 2005; Doolin 2013; Clayworth 2014).

18 »Es ist nicht bekannt, ob Short tatsächlich von Geburt ein Māori war oder nicht (seine Familie glaubte es nicht), und einige seiner Behauptungen betreffend die Unterstützung des Syndikalismus und von Streiks durch die Māori können Übertreibungen von Nettlau [der das Interview nicht geführt hat; J.S.] oder Short sein. Nichtsdestoweniger ist es immer noch ein wichtiges Beispiel für syndikalistischen Transnationalismus und eine interessante Betrachtung von Ereignissen.« (aus der Vorbemerkung der Red Ruffians). Allerdings schrieb und übersetzte Short für das Neuseeländische IWW-Organ Texte in Māori (siehe E nga kaimahi o te Ao katoa, Whakakotahitia [Arbeiter der Welt, vereinigt euch] auf der Internet-Seite des Aotearoa Workers Solidarity Movement (http://awsm.noblogs.org/2013/07/e-nga-kaimahi-o-te-ao-katoa-whakakotahitia/).

19 in der Vorlage: ‚Einborlinge‘.

20 in der Vorlage: ‚… von den Blanken verdrungen‘. – In der englischen Übersetzung lautet diese Passage: » … the people who is more and more pushed to the side … «.

21 Direct Action. Organ of the Industrial Workers of the World. Erschien seit Januar 1914 vierzehntägig in Sidney; 78 Ausgaben von 135 der Jahrgänge 1914 – 1917 sind auf der australischen Internet-Seite Reason in Revolt online.

22 Der Māoriland Worker wurde 1910 als Monatsschrift von der Shearers’ Union (Schafscherer-Gewerkschaft) in Christchurch gegründet. Nach der Vereinigung der Shearers’ Union mit der Miners‘ Federation im gleichen Jahr erschien er als Organ der Red’ Federation of Labour. Er ist fast komplett (640 Ausgaben, vom 15 September 1910 – 30. Januar 1924) online.

23 Eigentlich Henry Edmund Holland; siehe O’Farrell [1996]; O’Farrell 2014.

24 Olssen 1976.

25 IWW 1912; Hanlon [1913]; Steiner 2006.

26 Burgman 2007; Industrial Unionism 2007; Derby 2009; Clayworth 2010.

27 in der Vorlage: ‚Voraussichten‘.

28 in der Vorlage: ‚Bestehen‘.

29 Dieser Aussage wird im LHP Newsletter vehement (und wohl zurecht) widersprochen: während des Waihī-Streiks befanden sich unter den Streikbrechern viele Māoris; sie zeigten vor dem 1. Weltkrieg auch wenig Neigung, sich der revolutionär-syndikalistischen Bewegung anzuschließen (LHP Newsletter 55, August 2012, S. 9).

30 Der Defence Act führte 1909 die allgemeine Wehrpflicht in Neuseeland ein.

31 in der Vorlage: ‚begangen‘.

32 Suffragetten: gemeint ist die außerordentlich militante Bewegung für das Frauenwahlrecht in Großbritannien und den USA, die fast ausschließlich von (meist bürgerlichen) Frauen getragen wurde.

33 Weitzel 1973; Bodman 2010; Davidson 2014.

34 in der Vorlage: ‚… dauert noch stets weiter‘. Die englische Übersetzung ist verständlicher: »The anti-militarist movement is still alive.«

35 in der Vorlage: ‚unters‘.

36 Der Industrial Conciliation and Arbitration Act (Gesetz zur Versöhnung und Schlichtung in der Industrie) wurde 1894 vom neuseeländischen Parlament verabschiedet. Im Gegenzug zur Anerkennung der Gewerkschaften sah es eine obligatorische Schlichtung vor. Die Mehrheit der Gewerkschaften, vor allem kleinere und schwächere, unterzeichnete diese Vereinbarung (Macrosty 1898; Lloyd 1900; Beer 1901a und 1901b; Labour Laws 1906; Broadhead 1908; Holt 1976).

37 Der Trade Unions Act (Gewerkschaftsgesetz) von 1908, der im Gefolge des Blackball-Streiks und der wachsenden Militanz verschiedener Gewerkschaften verabschiedet wurde, gestand den Gewerkschaften, die die Zwangsschlichtung nicht akzeptierten, weitgehende Rechte zu (s. Trade Unions Act 1908; Doolin 2013; s. a. Anm. 42).

38 in der Vorlage: ‚… gibt es auf den 80.000 Arbeitern, die in Neuseeland leben, 65.000, die unter dem Arbitration-Act organisiert sind, während 15.000 unter einem anderen Gesetz sind, das auf der Arbeitsföderation‘.

39 in der Vorlage: ‚Gesetz auf die Streiks‘.

40 in der Vorlage: ‚Das Gesetz den Verpflichtenden Schiedsspruch ist der Kopf eingedrückt in Neuseeland‘. – Die englische Übersetzung ist verständlicher: »The compulsory Arbitration Act has had its head smashed in New Zealand«.

41 in der Vorlage: ‚… schon vor einigen Jahren her‘.

42 Im Februar 1908 streikten die Bergarbeiter von Blackball. In einem dreimonatigen Arbeitskampf setzten sie den Achtstundentag und längere Arbeitspausen durch. Der Streik führte zur Aufweichung des Arbitration Act und schließlich 1910 zur Gründung der Federation of Labour, die sich dem Schlichtungsgesetz nicht unterwarf (Olssen 1988; Davidson 2011b).

43 in der Vorlage: ‚Streiker‘.

44 Derby 2012b.

45 in der Vorlage: ‚Arbeitskategorien‘.

46 siehe Anm. 17.

 

Literatur

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Spark: The Spark. For workers‘ power and international socialism. Monthly magazine published by the Workers Party of New Zealand (Auckland)  –  http://the-spark.net/where.html

Stein 2001: Jeff Stein, Freiheit und Industrie. Der Syndikalismus von Christiaan Cornelissen; in: AGWA, Nr. 16/2001, S. 481 – 494

Steiner 2006: Peter Steiner, The Industrial Workers of the World in Aotearoa [2006]; in: Industrial Unionism 2007

Te Ara – the Encyclopedia of New Zealand  –  http://www.teara.govt.nz/en/

Thorpe 1989: Wayne Thorpe, »The Workers Themselves«. Revolutionary Syndicalism and International Labour, 1913 – 1923. Studies in social history (IISG) 12, Dordrecht – Boston – London 1989 (Kluver)

Trade Unions Act 1908: New Zealand Trade Unions Act 1908 No 196 (reprint as at 03 September 2007)  –  http://apirnet.ilo.org/resources/new-zealand-trade-unions-act/at_download/file1

Wedman 1993: Homme Wedman, De Collectie Cornelissen/Chichery, Amsterdam – Groningen 1993 (IISG & IvG RUG)  –  http://www.iisg.nl/archives/docs/cornelissen-wedman.pdf

Wedman 2001: Homme Wedman, Christiaan Cornelissen (1864 – 1943); in: AGWA, Nr. 16/2001, S. 471 – 480

Weitzel 1973: R. L. Weitzel, Pacifists and Anti-militarists in New Zealand, 1909-1914; in: NZJH, Vol. 7 (1973), No. 2, S. 128 – 147  –  http://www.nzjh.auckland.ac.nz/document.php?wid=1498&action=null

Westergard-Thorpe 1978: Wayne Westergard-Thorpe, Towards a Syndicalist International. The 1913 London Congress; in: IRSH, Vol. 23 (1978), No. 1, S. 33 – 78  –  http://search.socialhistory.org/Record/S0020859000005691/Details

Westergard-Thorpe 1981: Wayne Westergard-Thorpe, The Provisional Agenda of the International Syndicalist Congress, London 1913; in: IRSH, Vol. 26 (1981), No.1, S. 92 – 103  –  http://search.socialhistory.org/Record/S0020859000007069

Neuerscheinung 6. Mai 2015

Doris Ensinger – Quer denken, gerade leben.

Erinnerungen an mein Leben und an Luis Andrés Edo.

TB EDOEnsinger-Umschlag (download)

Das Buch ist am 6. Mai druckfrisch eingetroffen/erscheinen. Umfang 420 Seiten zum Preis von 20 EURO. Format 23,3 x 15,8 cm – Gewicht: 732 g • Für Wiederverkäufer/Buchhandel und AS-Gruppen gilt der Buchhandelsrabatt von 40% zuzügl. Porto/Versand.
ISBN 978-3-921404-01-0, 20 Euro

* * *

Erste Rezension:

Doris Ensinger – Autobiographie einer kämpfenden Frau

12. April 2015
2015 wird als deutsche Erstveröffentlichung die Autobiographie von Doris Ensinger im Hamburger Verlag Barrikade erscheinen. Wer sich nun sagt: „Doris Ensinger – nie gehört“, dürfte damit nicht alleine stehen. Denn sie ist nach eigener Aussage und Erfahrung eine der „namenlosen Frauen“, die nahezu unbekannt an der Seite aktiver Anarchosyndikalisten und Anarchisten leb(t)en und kämpf(t)en. Ihre mehrere hundert Seiten umfassenden Erinnerungen sind „allen Frauen gewidmet, die als Lebensgefährtin an der Seite eines jener bekannten oder anonymen historischen Kämpfer der anarchistisch-libertären Bewegung Spaniens lebten“, und „die eine bedeutende Rolle in den sozialen Kämpfen des 20. Jahrhunderts spielten. Oftmals halfen sie bei den Aktionen oder waren direkt am Kampf beteiligt, indem sie als Botin agierten oder Material und Personen versteckten. Mit ihrem selbstlosen Verhalten, mit ihrer Aufopferung und ihrem Mut machten sie den Kampf ihrer Männer oft erst möglich. Bisher wurde diesen Namenlosen wenig Aufmerksamkeit und Dankbarkeit zuteil, aber ohne sie hätten viele Aktionen nicht in der Weise durchgeführt werden können, wie dies dann geschah.“ Die in den 1940er Jahren im schwäbischen (Bad) Urach aufgewachsene Autorin wirkte in der alten Bundesrepublik in verschiedenen linken Basis-Gruppen, davon über einen längeren Zeitraum in München und arbeitete u.a. in der internationalen Solidaritätsbewegung mit verfolgten Antifaschisten und Anarchisten in Spanien. Bei einem ihrer dortigen Aufenthalte traf sie 1977 an ihrem Geburtstag in Barcelona auf Luis Andrés Edo. Er wurde die „große Liebe meines Lebens“. Mehr als dreißig Jahre lang, bis zu seinem Tod 2009, blieben die beiden zusammen. Der Eisenbahner, Bauarbeiter, Anarchist und Syndikalist Louis Andrés Edo kämpfte sein ganzes Leben für eine freie Gesellschaft, war im antifaschistischen Kampf gegen das Franco-Regime aktiv und arbeitete in vielen verantwortlichen Funktionen der anarcho-syndikalistischen CNT-AIT. U.a. war er Generalsekretär des katalanischen Regionalkomitees und Herausgeber der traditionsreichen und vielgelesenen „Solidaridad Obrera“ („Arbeiter-Solidarität“). Für seine Überzeugungen verfolgte ihn der Staat und inhaftierte ihn oftmals. Mehrfach wurde er in Isolationshaft gefangen gehalten. Über die Grenzen Spaniens hinaus war Luis Andrés Edo schon zu Lebzeiten ein bekannter und geschätzter Genosse. Vorträge und Treffen führten ihn auch nach Deutschland. Im Zuge CNT-interner politischer Intrigen und Manipulationen wurde er zusammen mit der Mehrheit der Mitglieder der CNT-AIT von Katalonien 1995 ausgeschlossen. Er engagierte sich weiterhin im anarcho-syndikalistischen Sinne in dieser bis heute fortbestehenden CNT Kataloniens und Barcelonas, welche zur besseren Unterscheidung von der offiziellen CNT-AIT den Beinamen „Joaquín Costa“ trägt. Von ihm stammen zwei wichtige Werke zur Geschichte des spanischen Anarchosyndikalismus. Diesen möchte Doris Ensinger ihre Autobiographie hinzufügen. Denn sie schreibt: „Ich bin mit dem Gedanken an dieses Buch herangegangen, die beiden von Luis Andrés Edo geschriebenen Bücher – zum einen das theoretische Werk La Corriente und zum anderen seine Memoiren La CNT en la encrucijada. Aventuras de un heterodoxo – zu ergänzen. Mit meinem Buch möchte ich etwas von der persönlichen, menschlichen Seite von Luis sichtbar machen, da er auf diese Aspekte in seinen Memoiren fast nicht eingegangen ist. Ich beschreibe also die mit ihm gemeinsam erlebten Jahre aus meiner Sicht und erzähle auch einige Anekdoten, die mir interessant erscheinen, und die nicht in Vergessenheit geraten sollten. Außerdem erzähle ich meine Geschichte mit einem Blick von Deutschland auf Spanien und umgekehrt.“ Doris Ensingers Autobiographie ist ein Buch, auf das wir uns alle freuen können. Es erhebt den Anspruch, den ganzen Menschen zu zeigen. Doris Ensinger: Quer denken – gerade leben. Erinnerungen an mein Leben und an Luis Andrés Edo. Deutsche Erstveröffentlichung. Verlag Barrikade, Hamburg 2015. ISBN 978-3-921404-01-0, 20 Euro Quelle: Blog Institut für Syndikalismusforschung

amapola3Möge Dir die Erde leicht sein!

ISBN-Verlagsnummer

Achtung, wir haben eine neue ISBN-Verlagsnummer. Sie lautet: 978-3-921404.

BUNA #1 erschienen

Titel BUNA1

Revista BUNĂ

Zeitschrift für Befreiung & Emanzipation – nicht nur in Rumänien

Die erste Ausgabe der Zeitschrift BUNA ist erschienen (9.10.2014) und kann ab sofort als Einzelheft für 2,50 EUR oder für 4 Ausgaben im Abo für 10 EUR (beides inkl. Porto) bestellt werden.

Mehr Informationen direkt hier:

http://revistabuna.wordpress.com/

Die Ära Adolf Jäger – Unser zweites Fußballbuch

Die Ära Adolf Jäger.

Umschlag AJ

Bezugsbedingungen: Preis pro Buch 6,80 EURO inkl. Versand gegen Rechnung oder Überweisung.
Bei Mehrfachbestellungen gewähren wir entsprechenden Rabatt.
Buchhandelskonditionen gelten für Wiederverkäufer. Keine Buchpreisbindung!

Einfach email an: barrikade [at] gmx.org

jager

Leseprobe: Adolf Jäger und John Jahr

Inhalt und Spielberichte

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Erste Reaktionen:

« Meiner Meinung nach ist Folkert das Kunststück gelungen eine liebevolle Hommage zu verfassen, ohne dabei den kritischen Blick zu verlieren. Das Buch ist ein Gewinn für die Hamburger Fußballhistorie und auch viele unserer Freunde aus Kiel, Fürth, Schalke und London werden angenehm überrascht sein. »
• Jan, All to nah-Altona93-FanZine # 23

Und • Christoph Heshmatpour hat es so vorgestellt: https://twitter.com/CHeshmatpour

Auf der • AFC-Vereinsseite wird das Buch als „Must have“ angepriesen: www.altona93.de.

Bedankt!

***

Das Buch RED STAR von Christoph Heshmatpour ist -leider- ausverkauft! (Juni 2014)

Economia Col-lectiva

Die letzte Revolution in Europa 1936/39
Kollektive Ökonomie

Die DVD wird es ab 19. Juli 2015 auch mit deutschen Untertitel geben;
bis dahin besteht leider ein öffentliches Aufführungsverbot.
Wir arbeiten bereits an der Übersetzung.

Die Dokumentation über die ‚Letzte Revolution in Europa‚ und ihre kollektivierten Betriebe –
ECONOMIA COL~LECTIVA – L‘ última Revolució d’Europa 1936/39′
gewann gerade den Best Documentary Film Editing”-Preis
beim Amsterdam Film Festival (New York).

banner_ECONOMIACOL

Das Buch als Waffe

Eine originelle Art der Buchvorstellung findet ihr hier:

Die erste Rezension von Philippe Kellermann findet sich auf dem Blog Kritische Geschichte: http://kritischegeschichte.wordpress.com/2013/10/20/erinnerungen-eines-anarchistischen-auswanderers-rezension/#more-2497

Kniestedt | Erinnerungen

Friedrich Kniestedt:

Fuchsfeuerwild

Erinnerungen eines anarchistischen Auswanderers nach Rio Grande do Sul

Unser erstes Buch der Reihe «Biografien und Erinnerungen» ist ab sofort lieferbar! (6.9.2013)

Kniestedt ERINNERUNGEN Umschlag_Seite_1

Kniestedt Anzeige

Umfang: 232 Seiten (Format 165 x 235 mm) – empfohlener Verkaufspreis: 18 €uro (keine Buchpreisbindung!)

Weitere Informationen, Leseprobe und Lebenlauf finden sich hier und werden regelmässig ergänzt:

Register

Leseprobe

Lebenslauf

Klappentext (Rückseite):

Dies ist ein Deutsch-brasilianisches Geschichtsbuch – die Erinnerungen eines anarchistischen Agitators und Organisators in Rio Grande do Sul, der über seinen Kampf gegen die versumpfende Sozialdemokratie im deutschen Kaiserreich berichtet, seine Erfahrungen als deutscher Emigrant in Südbrasilien Revue passieren läßt, über seine gewerkschaftlichen Aktivitäten als Anarchosyndikalist erzählt und seinen Kampf gegen die Nazis in Brasilien und gegen das Tausendjährige Reich Hitlers dokumentiert.

DfA 1922 - Seite 1Der freie Arbeiter (Porto Alegere) – März 1922 – Titelseite

FAUD-Agitationsbroschüre von 1931

Mit uns voran!

FAUD - 1931

Heute am 1. August 2013 erscheint als 2. Agitationsheft die FAUD-Broschüre Mit uns voran! aus dem Jahre 1931 mit einem ausführlichen Nachwort
des Genossen Helge Döhring zu den Aktivitäten rund um die FAUD-Werbewochen 1931, für die die Broschüre produziert wurde.

Mit uns voran!

• Unser Weg

• Prinzipienerklärung des Anarcho-Syndikalismus

• Organisationsstatut der FAUD (A.-S.)

• Nachwort Helge Döhring mit Grafiken aus der Werbekampagne der FAUD

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Im Originalformat A6, 64 Seiten, Umschlag vierfarbig.

Die Auflage beträgt 500 Expl., der Verkaufspreis ist 1 €/Einzelheft zuzügl. Porto (1,- €).

Für Mehrfachbeziher/innen bieten wir natürlich bessere Konditionen an:

10 Stück …. 10 €uro inkl. Porto
50 Stück …. 30 €uro inkl. Porto

Sonderkonditionen gibt es natürlich auch bei der Abnahme der FAUD- und der SAJD-Broschüre;
auch das Souchy|Gerlach-Buch kann bei einer Sammelbestellung preiswert angeboten werden. Einfach mal nachfragen.

Lieferung erfolgt gegen Vorkasse oder Rechnung (14 Tage Zahlungsziel).

verlag | barrikade, 25. Juli 2013

SAJD-Agitationsbroschüre von 1932 – ‚Mit uns voran zum Freiheitskampf!‘

SAJD-Freiheitskampf  - TitelDer Reprint der SAJD-Broschüre von 1932 ist jetzt als Agitationsausgabe erhältlich.

Preis pro Exemplare: 1,- € zuzüglich 1,- € Versankosten (leider)

5 Expl. für 5,- € inkl. Porto (bei Bestellung mit Büchern oder der barrikade natürlich versandkostenfrei!)

SAJD Flugblatt Rhein Main An die arbeitende Jugend

barrikade # 8 – Juni 2013 – download

Die neue, achte Ausgabe der barrikade ist nun auch als pdf erhältlich (erschienen am 6. Juni 2013)!

barrikade-8-cover60 Seiten A 4  —  VK-Preis: 4,– €

barrikade-8-juni-2013

Inhaltsverzeichnis barrikade # 8 – Juni 2013
4 Wer war KARL ROCHE? Zu seinem 150. Geburtstag
10 »Die Arbeitsmänner. Wer schafft das Gold zutage« – JOHANN MOST
12 Im Sturm – Jahre des Exils. RUDOLF ROCKER in London 1894-1914.
22 IACOV KAPLAN – JACOB CAPLAN
24 Ein Besuch in London (Juli 1910) – BEN L. REITMAN
26 Offener Brief an die C.N.T. – ALEXANDER SCHAPIRO (1937)
28 Die UdSSR und die CNT: eine gewissenlose Haltung – ALEXANDER SCHAPIRO
30 Border crossings: Nachdenken über die Inter-Brigadisten – HELEN GRAHAM
36 Mit der Centuria ‚Erich Mühsam‘ – ROBERT MICHAELIS
43 LUCÍA SÁNCHEZ SAORNIL – HELEN GRAHAM
45 Übersetz te Gedichte von LUCÍA SÁNCHEZ SAORNIL
46 Zur Geschichte des Anarcho-Syndikalismus in Deutschland – HANS JÜRGEN DEGEN
52 Die Ermordung von ERNST VIERING und PAUL ZINKE im KZ Neuengamme in Hamburg 1945
53 Rezensionen: Feindliche Brüder (II) – Massenstreik Berlin 1919

UMSCHLAG 8Cover/Umschlag der achten Ausgabe

Plakat
Das Titelbild ist auch als A2-Plakat erhältlich.
Nicht sonderlich scharf, aber schön für die Küche oder das Klosett – oder als Hingucker für Veranstaltungshinweise.
Kann gerne bestellt werden – Preis pro Stück 2,- €, dann jedoch gefaltet auf DinA4 im Umschlag.
Höhere Abnahmemengen bitte mit uns absprechen, Abgabe gegen Druckkosten plus Versandkosten.
Vielleicht überarbeiten wir die Druckdatei nochmal durch einen Fachmenschen und lassen bei Nachfrage weitere Exemplare drucken.

*

Wir beginnen hier eine neue Rubrik – Errata

In jeder Druckschrift gibt es Tipp- und Flüchtigkeitsfehler; wer sie findet, darf sie behalten. Unsere Druckerzeugnisse gehen als „Manuskript“ in die weite Welt hinaus – und wer Grammatik studiert haben sollte, möge seinen roten Bleistift den Buchhaltern überlassen, es interessiert neben Pedanten und Oberlehrerinnen kaum jemanden (wirklich). Es behindert nicht die Wahrheitsfindung, auf die Inhalte kommt es an!

Inhaltliche Fehler wollen wir aber ausbesser: Errata (Plural von lat. Erratum, Fehler) bezeichnet das Verzeichnis von Druck- und anderen Fehlern
einer Drucksache und deren Korrektur.

Also geht’s hier gleich mal los:

Errata # 8

Erratum S. 42

Lucía_Sánchez_Saornil_&_Emma_GoldmanBildunterschrift:

Lucía Sánchez Saornil (links) mit Emma Goldman in der Mitte und einer anderen Frau (vielleicht die Übersetzerin?) unbekannten Namens.
Der von uns fälschlicherweise als Alexander Berkman vermutete Anzugträger ist bereits am 28. Juni 1936 gestorben.
Im schwarzen Anzug also Lucía Sánchez Saornil.

*

barri juni 2013 gross

Souchy │ Gerlach: Die soziale Revolution in Spanien

Soeben erschienen (30. November 2012)

tb-souchySouchy Gerlach

Die soziale Revolution in Spanien

Kollektivierung der Industrie und Landwirtschaft in Spanien 1936 -1939

Dokumente und Selbstdarstellungen der Arbeiter und Bauern

Mit einer Besprechung von Karl Korsch

184 Seiten großes Format 163 x 235 mm und diversen Plakaten und Bildern – 10 Euro (inkl. Versand)

»Gegenüber der »idealistischen« wie der »realistischen« Oberflächlichkeit der bürgerlichen Historiker ist der proletarische Leser immer noch auf den aufklärenden Bericht über die ersten sieben Monate sogenannter Kollektivierung im revolutionären Spanien angewiesen, der von den spanischen Arbeitern selbst veröffentlicht wurde, um die Verschwörung des Schweigens und der Entstellung  zu durchbrechen, die den wirklich revolutionären Aspekt der jüngsten spanischen Ereignisse fast völlig ausgelöscht hat.

Zum ersten Male, seit den Sozialisierungsversuchen in Sowjet-Rußland, Ungarn und Deutschland nach dem ersten Weltkrieg zeigt der hier beschriebene revolutionäre Kampf der spanischen Arbeiter einen neuen Typus des Überganges von der kapitalistischen zur gemeinwirtschaftlichen Produktionsweise, der, wenn auch unabgeschlossen, in einer beeindruckenden Vielfalt der Formen durchgeführt wurde. Es schmälert die Bedeutung dieser revolutionären Erfahrung nicht, daß alle diese Fortschritte der Arbeiterschaft auf dem Wege zu einer freien Gemeinwirtschaft in der Zwischenzeit entweder von außen durch den Vormarsch der Konterrevolution oder von innen durch die scheinbaren Verbündeten in der antifaschistischen Front zunichte gemacht wurden. Durch offene Unterdrückung oder – häufiger – unter dem Vorwand der »höheren Notwendigkeit« disziplinierter Kriegsführung wurden die Arbeiter gezwungen, auf die Früchte ihres Kampfes zu verzichten. Zu einem großen Teil wurden die revolutionären Errungenschaften der ersten Stunde von ihren Initiatoren in dem vergeblichen Bemühen, damit das Hauptziel, den gemeinsamen Kampf gegen den Faschismus zu fördern, freiwillig geopfert.

Trotzdem sind die Bemühungen der spanischen Arbeiter an der sozialen und wirtschaftlichen Front nicht völlig vergeblich gewesen.«

 Karl Korsch

schwarz-roter balken

• Bestellungen per email an: barrikade [at] gmx.org

6-disciplinaw Besonderes Dezember-Angebot:

Souchy-Buch plus die beiden letzten barrikade-Ausgabe für zusammen 15,- Euro (inkl. Versand)

• Kontoverbindung: Folkert Mohrhof – GLS-Bank [430 609 67] – Konto: 2002 314 600

        barrikade-logo 2

[30.11.12]

Karl Roche zum 150. Geburtstag

Am 31. Oktober wurde vor 150 Jahren (1862) in Königsberg der Genosse Karl Roche geboren

Aus Anlaß seines Geburtstages veröffentlichen wir heute eine vollständig überarbeitete Biografie von ‚Isegrim‚, ‚K.R.‚, ‚kr‚ alias Karl Roche.

Vorbemerkung

Wir legen mit diesem Text eine erweiterte und überarbeitete Fassung unserer bisherigen Forschungen zur Biographie Karl Roches vor. Er hat immer noch den Charakter einer vorläufigen Skizze. Obwohl bei weitem nicht vollständig, konnten wir doch wieder Lücken schließen und wohl jetzt definitiv Fehlinformationen korrigieren, die sich vor allem in der älteren Literatur finden und meist die Zeit bis zum Ende des Ersten Weltkrieges im Jahre 1918 betreffen.1

Als ‚Barfuß-Historiker‘, ohne akademische Institutionen (und deren finanzielle Mittel) in der Hinterhand, sind wir selbstverständlich immer etwas eingeschränkt in unseren Forschungen, da wir beispielsweise alle Recherchen aus der eigenen Tasche finanzieren müssen (von dem Zeitaufwand ganz zu schweigen). Deshalb sind wir den uns nahestehenden Personen und Einrichtungen, die in der Regel wie wir ihre Forschungen für ‚Genossen Lohn‘ betreiben, für ihre Unterstützung, ihr großzügig geteiltes Wissen – und ihren nicht minder großzügig geteilten Materialfundus – besonders verbunden. Nennen möchten wir vor allem Frank Potts (Berlin und Amsterdam), der mit seinen Archivrecherchen manches Loch zu schließen half; weiter das Institut für Syndikalismus-Forschung, und dort besonders Helge Döhring, der mit Material, Rat und Tat und konstruktiver Kritik nicht geizte. Schließlich geht unser Dank an die Kolleginnen und Kollegen in den Stadt- und Staatsarchiven und Universitäts-Bibliotheken in Bochum, Hamburg, Bremen, der Ernst-Thälmann-Gedenkstätte Hamburg, der Forschungsstelle für Zeitgeschichte Hamburg und, last but not least, dem InternationaalInstituutvoorSocialeGeschiedenis (IISG) in Amsterdam.

Folkert Mohrhof – Jonnie Schlichting

Archiv Karl RocheRegionales Archiv zur Dokumentation des antiautoritären Sozialismus (RADAS) – Hamburg am 31. Oktober 2012

* * *

Wer war  K a r l   R o c h e  ?

Eine politisch-biographische Skizze zu seinem 150. Geburtstag
31. Oktober 1862 – 1. Januar 1931

Johann Friedrich Carl2 Roche: Geboren am 31. 10. 1862 in Königsberg/Ostpreußen – gestorben am 1. 1. 1931 in Hamburg. Er war verheiratet mit Emma Auguste, geb. Lange, geboren am 22. 8. 1864 in Thorn/Ostpreußen. Sie hatten miteinander wenigstens 2 Kinder3.
Seine Eltern sind Christian Roche und Dorotea, geb. Böhm4.

Nach Absolvierung der Volksschule5 schlägt sich Roche mehrere Jahre als Wanderarbeiter (wohl hauptsächlich in der Landwirtschaft6) durch. In diesem Zusammenhang wird er mehrfach »wegen Landstreichens und Bettelns« zu Gefängnis und Zwangsarbeit in kommunalen Arbeitshäusern (»Überweisung«) verurteilt.7

Im Jahre 1887 oder 1888 – noch während des »Sozialisten-Gesetzes« – tritt Roche der illegalen sozialdemokratischen Partei bei8. Roche muß keinen Militärdienst leisten, da er sein linkes Auge verloren hat9. 1891 wird er in der von der »Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands« geführten Gewerkschaftsbewegung aktiv10, zuerst im »Verband der Fabrik-, Land- und gewerblichen Hülfsarbeiter Deutschlands«11, für den er als Agitator hauptsächlich im Hamburger Umland tätig ist. In dieser Zeit wird Roche zweimal zu mehrmonatigen Haftstrafen wegen »Beleidigung« bzw. »Majestätsbeleidigung« verurteilt12. Im Jahre 1897 erfolgt der Übertritt zum »Verband der Bau-, Erd- und gewerblichen Hülfsarbeiter Deutschlands«13, auch hier ist er bis Anfang 1902 vor allem im Bereich Groß-Hamburg und in Schleswig-Holstein als Agitator sowie literarisch (Artikel im Verbandsorgan Der Arbeiter) aktiv14 – was ihm wegen »öffentlicher Beleidigung« eine vierzehntägige Haftstrafe einbringt15.

Im April 1902 geht Roche nach Elberfeld-Barmen (Wuppertal)16, wo er 1905 vom »Verband« als Gauleiter für Rheinland-Westfalen angestellt wird17. Anfang 1906 übersiedelt er nach Bochum/Westfalen, wo er als »Lokalangestellter« (Zweigstellenleiter) tätig ist18, bis er ab dem 2. Mai 1907 wieder nach Hamburg kommt, um als »Bürohilfsarbeiter« beim Hauptvorstand des »Verbandes« zu arbeiten.19 Anläßlich seines Umzugs nach Hamburg 1907 stellt die Polizeiverwaltung der Stadt Bochum Roche das Qualitätszeugnis aus, er sei »in der sozialdemokratischen Partei wie in der freigewerkschaftlichen Arbeiter-Bewegung in schärfster und gehässigster Weise tätig« gewesen20, was sich u. a. in zwei Geldstrafen »wegen öffentlicher Beleidigung eines Polizeibeamten« niederschlug.

Für den Hauptvorstand verfaßt Roche drei größere Untersuchungen, ohne daß seine Autorenschaft gewürdigt, geschweige denn genannt wird21. Die ausgesprochen schlechte Behandlung der angestellten ’niederen Chargen‘ durch die Vorstandsmitglieder und der ungehobelte Umgangston mit ihnen erinnert an ostpreußische Gutsbesitzer, nicht an Kollegen und Genossen, die die Befreiung der arbeitenden Klassen auf ihre Fahnen geschrieben haben. Roche kommen erste Zweifel: »Als ich drei Monate im Büro war, wusste ich, diese Menschen predigten öffentlich das lautere Wasser der Nächstenliebe, Selbstlosigkeit und Solidarität und berauschten sich heimlich am toll machenden Wein niedrigster Herrschsucht22 Eine weitere Merkwürdigkeit sind die Geschäfte des Genossen Albert Töpfer23, der als stellvertretender Verbands-Vorsitzender und Redakteur des Bauhilfsarbeiters ein Jahresgehalt von 2.600 Mark erhält (und insgesamt ein Jahreseinkommen von 5.000 Mark versteuert), Besitzer von mehreren Mietshäusern mit insgesamt 60 Wohnungen ist, die mit 270.000 Mark Hypotheken belastet sind 24. (Einer von Töpfers Mietern ist übrigens Karl Roche samt Familie.)

Am 19. 4. 1909 wird Roche wegen seiner verbandsöffentlich geäußerten Kritik am Hauptvorstand (darunter Unterschlagungen von Mitgliedsbeiträgen durch den Hauptkassierer) schließlich fristlos gefeuert25; der Hauptvorstandskollege und Redakteur des Verbandsorgans Albert Töpfer kündigt ihm zum 1. Mai 1909 die Wohnung26. Roche zieht mit seiner Familie in das Hamburger Umland, ins ländliche Osdorf27 im Kreis Pinneberg in der preußischen Provinz Schleswig-Holstein.

Da die Hamburger SPD Roche die Gelegenheit verweigert, im Parteiorgan Hamburger Echo zum Rausschmiß Stellung nehmen zu können, verläßt er nach 22 Jahren die Partei28 und tritt zur lokalistischen »Freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften«29 über. Im Verlag der FVdG erscheint noch im selben Jahr der Bericht über seine ‚Abenteuer‘ beim Hauptvorstand des »Zentralverband der Bauhülfsarbeiter Deutschlands« unter dem Titel »Aus dem roten Sumpf «30.

Titelseite der Roche-Broschüre
„Aus dem roten Sumpf“ von 1909

Ende August 1909 veröffentlicht schließlich der Vorstand des Bauhilfsarbeiter-Verbandes eine Erklärung, daß »sich R. als individueller Anarchist entpuppt« habe und seine Maßregelung von der Mehrzahl der Mitglieder gebilligt werde, weil er »wenig vorteilhafte Seiten« habe und »wiederholt bewiesen [hat], daß er völlig unwürdig war, eine Stelle zu bekleiden, nach der er sich jahrelang gedrängt hat«. Das zeige sich auch daran, wie »skrupellos R. bei dem Zusammenschmieren seiner Schmähschrift zu Werke gegangen ist33

Roche erwidert in der Einigkeit (die sozialdemokratische und Gewerkschafts-Presse ist ihm verschlossenen): »Jetzt habe ich Euch in die weite Arena der Öffentlichkeit gezerrt und jetzt müßt Ihr tanzen. Also noch einmal: Heraus mit dem Flederwisch! Euch bleibt nur zweierlei übrig: Entweder Ihr bringt mich vor den Strafrichter wegen Beleidigung usw. oder Ihr stellt den Mitgliedern Eure Mandate zur Verfügung. Ein Drum und Rum gibt es nun nicht mehr. Und darum noch einmal: Heraus mit Eurem Flederwisch! Meine Patronen sind noch nicht alle!«34

Nun – es gibt keine Rücktritte, sondern einen Prozeß. Die Verbandsvorständler Gustav Behrendt, Sjurt Wrede und Albert Töpfer verklagen Roche als Verfasser des »Sumpf« und seinen Verleger Fritz Kater. Da einige Zeugen Roches abgesprungen sind, werden am 7. Mai 1910 Roche zu 200 Mark oder 20 Tagen Gefängnis und Kater zu 50 Mark oder 5 Tagen Gefängnis vom Hamburger Schöffengericht verurteilt; die Berufungsverhandlung vom 10. September 1910 bestätigt das Urteil35. Allerdings muß sich der Arbeiterführer und »Hausagrarier« Albert Töpfer von dem Gericht ins Stammbuch schreiben lassen: »Wohl ist aber dem Angeklagten [Karl Roche] darin zu folgen, daß ein solches ohne Mittel erworbenes Hausbesitzertum sich mit den Grundsätzen der Sozialdemokratie nicht verträgt. Es ist ein Mangel an Überzeugungstreue, wenn ein Mann, der sich zur Bekämpfung des Kapitalismus anstellen und bezahlen läßt und dabei selbst sich durch die Inanspruchnahme dieses Kapitalismus zu bereichern sucht36

Ein Kuriosum noch am Rande: Die sozialdemokratische Schleswig-Holsteinische Volks-Zeitung behauptete, daß Roche vom »Reichsverband gegen die Sozialdemokratie«37 für den »Sumpf« bezahlt worden wäre – was der Zeitung eine erfolgreiche Klage des »Reichsverbandes« wegen Beleidigung einbrachte. Der sozialdemokratische Lübecker Volksbote brachte es fertig, daraus zu machen: »Sogar der Reichsverband schüttelt ihn ab, nämlich den ehemaligen Hilfsarbeiter im Zentralverband der Bauarbeiter, Karl Roche38

Roche, der sich als Hausierer39 und Fischhändler40 durchschlagen muß, wird neben Paul Schreyer und ErnstSchneider zu einem der wichtigsten Protagonisten des Syndikalismus in Hamburg. Außerdem ist er im Verein föderierter Anarchisten Hamburg, die zur Anarchistischen Föderation für Hamburg und Umgebung gehört, tätig. Seit 1912 arbeitet er an der von der Anarchistischen Föderation Hamburg-Altona herausgegebenen Monatszeitung Kampf41.

Norddeutsches Zentrum der Lokalisten war vor 1914 Hamburg. Ihre Basis war vor allem im Bereich der Transport-, Hafen und Werftarbeiter, außerdem die Berufe des Bauhandwerks und Dienstleistungssektors, die sich zur »Freien Vereinigung aller Berufe« (seit 1913 »Syndikalistische Vereinigung aller Berufe«) zusammengeschlossen hatten. Sie bildeten mit einigen Fachverbänden und der »Föderation der Metallarbeiter« ein Gewerkschaftskartell. Dem Kartell, das eine Vorläuferorganisation der »Arbeiterbörsen« der FAUD war42, schloß sich der 1913 entstandene »Syndikalistische Industrie-Verband« an, der von Hafenarbeitern und Seeleuten gegründet worden war.43 Hier wurde erstmals das Konzept der »Einheitsorganisation« zur Diskussion gestellt44, (das dann in größerem Maßstab ab 1919 die Arbeiter-Unionen umsetzten) und in Hamburg durch die von KarlRoche geleitete Syndikalistische Vereinigung aller Berufe schon entgegen den Statuten der FVdG praktiziert wurde45. »Die im Vergleich zur gebräuchlichen Praxis der FVdG in Bremen und Hamburg betriebene Aufgabe des Berufsverbandsprinzips zugunsten eines vereinheitlichten Aufbauschemas diktierte dabei mindestens ebenso der Zwang zu Konzentration wie der Wille zur Beseitigung einer verankerten Berufsideologie.«46. Das waren also ganz pragmatische Gründe – nämlich die Wahrung der Handlungsfähigkeit als minoritäre Gewerkschaft, die es sich nicht leisten konnte, berufsständische Ressentiments über die Gebühr zu berücksichtigen. Der 1. Weltkrieg unterbrach diese Diskussion, wie so manches andere.

Er wird Vorsitzender der »Syndikalistischen Vereinigung aller Berufe« und Kartelldelegierter und Schriftführer des im Juni 1913 gegründeten »Syndikalistischen Industrieverbandes«. Neben einer umfangreichen Tätigkeit als Referent veröffentlicht Roche in den beiden Organen der Lokalisten, Die Einigkeit und Der Pionier. Außerdem ist er Verfasser der unter dem Pseudonym Diogenes erschienenen Schrift »Die Ohnmacht der Sozialdemokratie im Deutschen Reichstag«47.

Vorne rechts am Tischende: Carl Windhoff; ihm gegenüber Karl Roche; an der Wand stehend, zweiter von rechts: Fritz Kater

Zusammen mit Fritz Kater und Karl Windhoff wählt die FVdG Roche zum Delegierten für den ersten internationalen Syndikalistenkongreß, der vom 27. September bis zum 2. Oktober 1913 in London tagt48. Die Reise der drei Delegierten wird von der preußischen Polizei fürsorglich observiert49.

Auf dem 11. Kongreß der FVdG im Mai 1914 ist Roche einer der Delegierten für Hamburg und Referent zum Thema »Genossenschaften und Syndikalismus«50.

Zu Beginn des 1. Weltkrieges 1914 werden die Zeitungen der FVdG, der Pionier und die Einigkeit, wegen ihrer konsequenten antimilitaristischen und den Krieg ablehnenden Haltung verboten51, und die Arbeit der FVdG muß sich auf ein Minimum beschränken. Als Ersatz gibt die Geschäftskommission ab dem 15. August 1914 ein wöchentlich erscheinendes organisationsinternes Mitteilungsblatt heraus. Nach dessen Verbot am 5. Juni 191552 erscheint ein Rundschreiben, das schließlich am 28. 4. 1917 verboten wird53.

Laut den Überwachungsakten der Preußischen Polizei hat sich Roche nach Ausbruch des Krieges nicht mehr politisch betätigt. Der Königliche Landrat des Kreises Pinneberg meldet am 19. 4. 1915 nach Berlin, »daß die fortgesetzten Beobachtungen des Roche nichts belastendes ergeben haben. Roche verhält sich ruhig, ist nicht auf Reisen gewesen und scheint seine schriftstellerische Tätigkeit für die anarchistische Partei eingestellt zu haben.« Und im Bericht vom 6. 11. 1915 heißt es, »dass nach den bisherigen Beobachtungen Roche kein ernsthafter Anhänger des Anarchismus zu sein scheint. Der Gemeindevorsteher [von Osdorf] hegt zwar die Vermutung, dass Roche nach Beendigung des Krieges seine schriftliche Tätigkeit für anarchistische Blätter, wie er sie vor dem Kriege ausgeübt hat, wieder aufnehmen wird.

Im übrigen lebt Roche ruhig, nüchtern und zurückgezogen; er betrieb früher einen Hausiererhandel, hat diesen aber seit einigen Jahren eingestellt, und arbeitet, angeblich krankheitshalber, nur sehr selten. Seine Ehefrau geht auf Arbeit; von ihrem Arbeitsverdienste sowie von Unterstützungen der Kinder und seitens der Gemeinde lebt er. Er ist faul und will nicht arbeiten, und auch unzuverlässig54

Am 21. 9. 1916 meldet die Hamburger Polizei ihren Preußischen Kollegen, daß Roche am 11. 9. 1916 nach Hamburg, Lindenallee 25. IV, gezogen ist. » Roche ist wieder unter Beobachtung gestellt worden55 Die Pinneberger Überwacher wissen da allerdings noch nicht, daß Roche umgezogen ist: in ihrem Bericht vom 28. 9. 1916 heißt es, daß Roche »sich durchaus ruhig und unauffällig verhält, er unterhält überhaupt keinen Verkehr und lebt vollständig zurückgezogen56 Kein Wunder, wenn der Überwachte 17 Tage zuvor ausgezogen ist.

Die insgesamt besser informierte Politische Polizei in Hamburg berichtet am 20. 7. 1917 nach Berlin, Roche (er wohnt mittlerweile Amandastr. 61, Haus 2) »ist seit Ende v. J. im hiesigen Friedhofsbureau als Hilfsschreiber beschäftigt. Roche ist öffentlich nicht hervorgetreten; er hat jedoch in den ersten Monaten nach seinem Zuzuge mit mehreren hiesigen Anarchisten verkehrt, insbesondere war er eng befreundet mit dem Tischler Albert Fricke57. Auch hat Roche wiederholt gesprächsweise in Kreisen seiner Bekannten zu erkennen gegeben, daß er noch anarchistische Gesinnungen hegt. Er ist nach wie vor ein Anhänger der anarchistischen Bewegung, hält sich aber seit einigen Monaten – anscheinend infolge seiner jetzigen Stellung – von den übrigen Anarchisten fern. Roche wird weiter beobachtet58.

Im letzten Kriegsjahr, seit dem 20. Juni 1918, wird Roche, der aufgrund seines Alters (und seines fehlenden Auges) nicht zum Militär muß, auf der Vulcan-Werft als Nietenschreiber zwangsverpflichtet59 – eine strategisch günstige Stelle in der Revolutionszeit 1918/19 …

Erstaunlicherweise berichtet die Hamburger Polizei noch am 19. Juni 1918 an das Königlich Preußische Polizei-Präsidium zu Berlin: »Der Händler Carl Roche ist seit langer Zeit krank und ohne Arbeit …«60 – übrigens der letzte Eintrag in der Berliner Akte.

Mit dem Zusammenbruch des Deutschen Kaiserreiches treten auch die Syndikalisten wieder an die Öffentlichkeit und erhalten einen unerwartet großen Zustrom an neuen Mitgliedern. Die Einigkeit wird in Der Syndikalist umbenannt61. Die erste Ausgabe erscheint am 18. Dezember 1918.

Roche ist einer der führenden Propagandisten der wiedererstandenen FVdG. Schon im Januar 1919 unternimmt er zusammen mit Fritz Kater eine erste Agitationsreise durch Norddeutschland62. Roche ist jetzt Geschäftsführer der »Syndikalistischen Föderation Hamburg«63. Neben einer umfangreichen Vortragstätigkeit vor allem im norddeutschen Raum64 und Artikeln im Syndikalist veröffentlicht Roche vier der wichtigsten programmatischen Texte der FVdG im ersten Revolutionsjahr:

• Was wollen die Syndikalisten? Programm, Ziel und Wege der Freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften, Berlin 1919 (Verlag »Der Syndikalist«)
• Einheitslohn und Arbeitersolidarität [Vortrag, gehalten am 20. April 1919], Berlin 1919 (Verlag »Der Syndikalist«)
• Zwei Sozialisierungsfragen. 1. Wer soll sozialisieren? [Vortrag, gehalten am 1. Mai 1919 in Hamburg] 2. Ist die zusammengebrochene Wirtschaft für die Sozialisierung reif? [Vortrag, gehalten im Mai 1919], Hamburg 1919 (Verlag der Syndikalistischen Föderation Hamburg)
• Organisierte direkte Aktion, Berlin 1919 (Verlag »Der Syndikalist« Fritz Kater).65

Seit dem Sommer des Jahres publiziert er auch in der Tageszeitung der Hamburger KPD, der Kommunistischen Arbeiter-Zeitung, zu gewerkschaftlichen Themen.

Am 29. November 1919 wird Roche von der Hamburger »Vulcan-Werft AG« gefeuert. In dem Kündigungsschreiben werden ausdrücklich seine führende Rolle in der Syndikalistischen Föderation Hamburg und die Propagierung der »passiven Resistenz« als Kündigungsgrund genannt: »Seine Führung und Leistung haben uns voll befriedigt, bis R. nach der politischen Umwälzung nach und nach Führer einer Richtung wurde, die durch Wort und Schrift in Betriebsversammlungen der Werft zur passiven Resistenz aufforderte. Diese Einwirkung war derart, daß wir uns von R. trennen mußten66 Ein Spitzelbericht der Politischen Polizei hatte schon im Oktober des Jahres notiert: »Der Haupthetzer auf der Vulcanwerft ist der Syndikalist Roche. Sein Einfluss auf die Arbeiterschaft ist ungeheuer und mit Recht wird behauptet, daß er die Seele des verderblichen Widerstandes gegen Vernunft und Ordnung eines großen Teils der Arbeiterschaft ist67

Im Dezember 1919, noch vor Gründung der »Freien Arbeiter-Union Deutschlands (Syndikalisten)«, verlassen Roche und ErnstSchneider die FVdG und wechseln zur »Arbeiter-Union«68; sie sind auch in der oppositionellen Hamburger KPD69 aktiv. Mit ihnen geht offenbar die große Mehrheit der Syndikalisten Hamburgs. Anlaß für diesen Schritt mögen einerseits die von Rudolf Rocker in der »Prinzipienerklärung des Syndikalismus« begründete Ablehnung der Diktatur des Proletariats und des bewaffneten Aufstandes, andererseits die – in der FAUD nicht unumstrittene – Umstellung von den traditionellen Fachverbänden auf das Industrieverbandsprinzip sein, während Roche das Konzept der betrieblichen Einheitsorganisation (»Betriebsorgani­sation«) favorisiert.

Seit Anfang 1920 ist Roche einer der führenden Köpfe der unionistischen Bewegung in Hamburg, neben Fritz Wolffheim und Heinrich Laufenberg, die zu diesem Zeitpunkt die unbestrittenen Sprecher der gesamten linken Opposition in der KPD gegen die Berliner Zentrale um Paul Levi sind (bevor die beiden sich bis August 1920 mit ihrem sogenannten ‚Nationalbolschewismus‘ innerhalb der Linken mehr und mehr isolieren).

Roches erste größere Publikation für die AAU ist Anfang 1920 die Schrift Demokratie oder Proletarische Diktatur! Ein Weckruf der Allgemeinen Arbeiter-Union, Ortsgruppe Hamburg, [Hamburg] 1920. Er publiziert regelmäßig in der Tageszeitung der Hamburger KPD (seit April 1920 der KAPD), der Kommunistischen Arbeiter-Zeitung, und ist als Referent bei Veranstaltungen für Partei und Union vor allem im norddeutschen Raum aktiv. Seit März ist er Redakteur der KAZ-Rubrik »Arbeiter-Union«.

Roche tritt auf der 1. Reichskonferenz der AAU im Februar 1920 erfolgreich den Versuchen der Bremer KPD-Opposition (Karl Becker) entgegen, die Union zu einer wirtschaftlichen Hilfs­organisation der Partei zu machen70. Das erste, sehr föderalistische Programm der AAU, angenommen auf der 2. Reichskonferenz im Mai 1920, trägt wesentlich Roches Handschrift. Da die Bremer Opposition um Becker und Paul Frölich sich nicht an der Gründung der »Kommunistischen Arbeiter-Partei Deutschlands« beteiligt71 und zur KPD-Zentrale zurückkehrt, verlagert sich das Zentrum der Unionisten nach Hamburg72.

Roches Kontakte zur FAUD scheinen trotzdem weiter bestanden zu haben, er versucht in den nächsten Jahren mehrfach, wenn auch vergeblich, zumindest für Hamburg eine Kartellierung oder sogar organisatorische Vereinigung von Unionisten, Syndikalisten und Anarchisten herbeizuführen.

Als Vorsitzender der Pressekommission ist Roche Herausgeber der seit 1920 in Hamburg erscheinenden AAU-Zeitung des »Wirtschaftsbezirkes Wasserkante«, Der Unionist, und einer der Redakteure.

In der zweiten Hälfte des Jahres 1920 nimmt in der AAU der Einfluß der KAPD zu. Die Richtung, die den Dualismus von Partei und Union zugunsten der Union überwinden will und die ökonomisch-politische Einheitsorganisation vertritt, gerät in die Defensive. Ihre Schwerpunkte liegen in Hamburg und Ostsachsen73. Auf der 3. Reichskonferenz der AAU im Dezember 1920 in Berlin (an der Roche teilnimmt) zeichnet sich ab, daß es keine Mehrheit für das Konzept der Einheitsorganisation gibt74. Noch im selben Monat schließen die ostsächsischen Unionisten die KAPD-Mitglieder aus, Hamburg folgt Ende Mai 192175.

Roche faßt die Position der Opposition noch einmal in der Schrift Die Allgemeine Arbeiter-Union, (Hamburg [1921]; Herausgegeben von der Pressekommission der A.A.U. Groß-Hamburg) zusammen, die wahrscheinlich Anfang 1921 erscheint.

Nach dem Mitteldeutschen Aufstand im März 1921 (der sogenannten »Märzaktion«)76 wird Roche als Vorsitzender der Pressekommission des Unionist im April 1921 zu einem Jahr Festungshaft verurteilt, der Drucker des Unionist zu 15 Monaten77. Roche kommt allerdings spätestens im November des Jahres wieder frei78.

Aber kann er deshalb nicht an der 4. Reichskonferenz der AAU (wiederum in Berlin) teilnehmen, auf der das von der KAPD favorisierte dualistische Modell Union (als ‚Massenorganisation‘) und Partei (als theoretisch führender Kader) die Mehrheit gewinnt. Außerdem wird der föderalistische Aufbau der Union zugunsten eines zentralistischen Modells aufgegeben79. Die Opposition innerhalb der AAU gründet darauf im Oktober 1921 die »Allgemeine Arbeiter-Union Deutschlands (Einheitsorganisation)«80.

Das Jahr 1923 stürzt die Weimarer Republik in einen existenzielle Krise. Die Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen und der von der Reichsregierung unter dem Kanzler Wilhelm Cuno propagierte passive Widerstand dagegen, der mittels der Notenpresse finanziert werden soll und aus der schon galoppierenden Inflation eine Hyperinflation macht, ruiniert die Reichsfinanzen endgültig. Nach dem Sturz Cunos im Sommer übernimmt ein Koalitionskabinett unter Gustav Stresemann (DVP), bestehend aus SPD, Zentrum, DDP und DVP, die Regierung.

Die Bildung von SPD-KPD-Koalitionsregierungen in Sachsen und Thüringen im Herbst geht parallel mit der Weigerung Bayerns, die antirepublikanischen Umtriebe von rechts zu unterbinden. Zwar hat die KPD unter dem Druck der KomIntern mit dem bewaffneten Aufstand geliebäugelt, aber keinen Rückhalt in den vielbeschworenen »Massen« gefunden. Die Reichsregierung (mit dem Reichspräsidenten Friedrich Ebert (SPD) abgesprochen) löst das Problem wie üblich – sie verhängt die Reichsexekution über Sachsen und Thüringen, um die gegen rechts unzuverlässigen Reichswehrverbände nicht gegen Bayern schicken zu müssen.

Die KPD-Führung um Brandler und Thalheimer nimmt – in realistischer Einschätzung der Kräfteverhältnisse – relativ kampflos die Entmachtung der sächsischen und thüringischen Koalitionsregierungen durch die Reichsexekutive hin. Wahrscheinlich durch einen Kommunikationsfehler erreicht diese Entscheidung die KPD in Hamburg nicht81. Der gescheiterte Hamburger Aufstand der KPD vom 22. – 24. Oktober 1923 führt am 23. November zum reichsweiten Verbot nicht nur der KPD, sondern auch aller linksradikalen Organisationen einschließlich der FAUD, das bis zum 1. März 1924 andauert.82

In dieser Zeit gelingt es der Reichsregierung mit der Einführung der Rentenmark83 (15. November), die bis in schwindelnde Höhen angestiegene Inflation in den Griff zu bekommen und der Weimarer Republik eine kurze ökonomische und politische Stabilitätsphase zu bescheren, die mit dem New Yorker Börsenkrach 1929 endet.

Die AAUE in Hamburg bricht während der Illegalität faktisch zusammen. Dies dürfte einer der Gründe sein, warum Roche zur Föderation Kommunistischer Anarchisten Deutschlands wechselt, um spätestens im Juli 1924 (wieder) in der FAUD aktiv zu werden84. Im FAUD-Verlag erscheint im selben Jahr seine Broschüre Der Proletarische Ideenmensch.85

Roche gehört zu den Initiatoren vom Block antiautoritärer Revolutionäre in Norddeutschland, der seit 1924 versucht, die radikale nichtbolschewistische Linke in Norddeutschland zumindest zu einer Aktionseinheit zusammenzufassen. In diesem Sinne ist auch die Konferenz des Bezirkes Nord-West der FAUD(S) vom 27. – 28. Dezember 1924 in Bremen gestaltet. Roche ist Referent der FAUD zum zentralen Thema: »Die Aufgaben der anti-autoritären Organisationen im Bezirk Nord-West«. An dieser Konferenz nehmen auch Vertreter der SAJD, AAUE, der IWW und der Hamburger Anarchisten teil86.

1925 erscheint von Roche die Broschüre Arbeiterjugend und natürliche Ordnung87. Er schreibt regelmäßig für das FAUD-Organ Der Syndikalist, außerdem für die seit 1927 erscheinende theoretische Zeitschrift Die Internationale und andere syndikalistische Publikationen.

In seiner letzten größeren Veröffentlichung, dem 1929 als Artikelserie in Der Syndikalist erschienenen »Handbuch des Syndikalismus«88 faßt er nochmal sein politisches Credo zusammen.

Seine letzten Lebensjahre ist Roche ein schwer kranker Mann. Er stirbt am 1. Januar 1931, wenige Monate nach seinem 68. Geburtstag. »Sein letzter Gruß, den er uns unmittelbar vor seinem Tode schrieb, enthielt ein Versprechen weiterer schriftstellerischer Mitarbeit, der seine letzte Sorge galt.« heißt es in dem Nachruf, der im Syndikalist89 erscheint. Und in der von Erich Mühsam herausgegebenen Zeitschrift Fanal schreibt Rudolf Rocker: »Seine rastlose Arbeit hat ihm nie Reichtum eingebracht; er ist als bitterarmer Proletarier gestorben, wie er immer gelebt hat90

 

Anmerkungen

1) Dies betrifft vor allem die – immer mal wieder reproduzierten – biographischen Angaben bei Hans Manfred Bock, demzufolge Roche »um die Jahrhundertwende als junger Seemann zur 'Freien Vereinigung' gekommen war« , und die auf einer Mitteilung von Augustin Souchys an Bock basieren (Bock 1969 und Bock 1993, S. 104; ebenso der Artikel Karl Roche auf der englischen Wikipedia). Souchy hat ganz offensichtlich Roche mit Ernst Schneider ('Icarus') verwechselt; zu Ernst Schneider siehe Schneider [1943]; Schneider [2003]; Mohrhof 2008, S. 30.
2) Die Schreibweise – Carl oder Karl – variiert, vor allem in den Akten der diversen mit der Überwachung 'subversiver Elemente' betrauten Dienststellen. Roche selbst schreibt seit den 1890er Jahren in seinen Publikationen seinen Vornamen mit 'K'.
3) Roche 1909, S. 31; LaB, Apr. Br. Rep. 030 Nr. 16490, Bl. 31; genaueres zu den Kindern konnten wir bisher nicht ermitteln.
4) LaB A Pr. Br. Rep. 030 Nr. 16490, Bl. 3
5) Roche 1909, S. 12 – er verließ die Schule wahrscheinlich mit 14 Jahren, möglicherweise als Waise oder Halbwaise; so läßt sich zumindest eine Bemerkung in Roche 1919c, S. 7, deuten: »Der junge Arbeiter, der mit 14 Jahren sich selbst überlassen und auf den Arbeitsmarkt geworfen wird … «
6) darauf weisen die Verurteilungen zwischen 1881 und 1886 sowie Bemerkungen in Roche 1919c, S. 7 und Roche 1919d, S. 6 hin (siehe auch Roche 2009, S. 46 und S. 55 f.).
7) StAH PP 331-3 S 7762; LaB A Pr. Br. Rep. 030 Nr. 16490, Bl. 3
8) Roche 1909, S. 7
9) LaB A Pr. Br. Rep. 030 Nr. 16490, Bl. 3 – ob der Verlust seines Auges krankheitsbedingt oder aufgrund einer Verletzung geschah, war bisher nicht zu ermitteln.
10) Roche 1909, S. 7
11) Gegründet 1890, seit 1894: »Verband der Fabrik-, Land-, Hülfsarbeiter und Arbeiterinnen Deutschlands« – siehe hierzu Festschrift 1913 und Schuster 2000.
12) StAH PP 331-3 S 7762
13) Gegründet 1891 als »Verband der Bauhilfsarbeiter und verwandter Berufsgenossen« seit 1905: »Verband der baugewerblichen Hülfsarbeiter Deutschlands«; seit 1908: »Zentralverband der Bauhülfsarbeiter Deutschlands«; 1910 mit dem »Zentralverband der Maurer Deutschlands« zum »Deutschen Bauarbeiterverband« zusammengeschlossen – siehe Schuster 2000; s.a. Rütters – Zimmermann 2005, S. 44; 116 ff.
14) siehe z.B. die auf der Internet-Seite des Archiv Karl Roche aufgeführten Versammlungshinweise und Artikel aus dem Verbandsorgan Der Arbeiter.
15) StAH PP 331-3 S 7762
16) siehe StAH PP 331-3 S 7762: »Roche war bereits vom 1/10. 01 bis 1/2. 02 hier [Luruperweg 58] gemeldet und hat sich am 11/2. 02 auf Wanderschaft und am 4./4. 02 nach Barmen abgemeldet.«
17) Albert Töpfer, Mitglied des Hauptvorstandes und Redakteur des Arbeiter, schrieb Roche am 21. 3. 1905: »Auf dem Verbandstag (in Leipzig, K.R.) wird man um die Anstellung von zwei oder drei Gauleitern nicht umhin können. Ebenso bedarf es noch einer tüchtigen Kraft im Hauptvorstand und wenn man das Blatt achtseitig schafft, (wozu nicht geringe Luft vorhanden ist), auch einen tüchtigen Redakteur. Da tritt wieder die Frage auf: Wen? Ueberfluß an wirklich tüchtigen Leuten haben wir ganz gewiß nicht. Ich darf mir wohl die Frage erlauben, wie Du Dich zu irgend einem der angedeuteten Posten stellen würdest?« (mitgeteilt bei KR, Ich bin des trockenen Tons nun satt; in: Einigkeit, Nr. 36, 4. 9. 1909)
18) Roche wohnte zu dieser Zeit in der Wiemelhauserstr. 38a (heute: Universitätsstraße); im Vorderhaus (Wiemelhauserstr. 38) wohnte Paul Runge, Parteisekretär des Sozialdemokratischen Volksvereins für den Wahlkreis Bochum-Gelsenkirchen-Hattingen-Witten (Adreßbuch der Stadt Bochum 1907)
19) Roche 1909, S. 7; StAH PP 331-3 S 7762
20) StAH PP 331-3 S 7762 [Schreiben der Polizeiverwaltung des Oberbürgermeisters von Bochum an die Polizeibehörde Hamburg, 20. 5. 1907]
21) Lebenshaltung und Arbeitsverhältnisse der Deutschen Bauhülfsarbeiter. Herausgegeben vom Hauptvorstand des Zentralverbandes der baugewerblichen Hülfsarbeiter Deutschlands, Hamburg 1908 – 76 S. (Verlag: Verband der Baugewerblichen Hülfsarbeiter Deutschlands Gustav Behrendt);
Die Tarifverträge der baugewerblichen Hülfsarbeiter bis zum Jahre 1907. Verband der Baugewerblichen Hilfsarbeiter Deutschlands, Hamburg 1908. – 483 S. (Verlag: Verband der Baugewerblichen Hülfsarbeiter Deutschlands Gustav Behrendt);
Zur Entwicklungsgeschichte des Verbandes der baugewerblichen Hilfsarbeiter Deutschlands. Mit einem Anhang über die bis Ende 1907 vom Verband abgeschlossenen Tarifverträge. Herausgegeben vom Zentralvorstand, Hamburg, 1909. – 76 S.;
für die Autorenschaft und die Umstände der Entstehung siehe Roche 1909, S. 11 – 14
22) Roche 1909, S. 11
23) einige biographische Angaben bei Schmit 1932, S. 1695 – allerdings eine völlig unkritische Eloge des amtierenden Grundstein-Redakteurs auf Töpfer.
24) Roche 1909, S. 10; Urteil des Schöffengerichts Hamburg vom 7. Mai 1910 gegen Fritz Kater und Karl Roche, in Auszügen mitgeteilt bei Karl Roche, Eine Nachlese; in: Einigkeit, Nr. 42, 15. 10. 1910
25) Roche 1909, S. 14ff
26) Roche 1909, S. 29f.
27) Osdorf wurde 1927 nach Altona eingemeindet, das wiederum 1937 mit dem »Gesetz über Groß-Hamburg und andere Gebietsbereinigungen«, kurz »Groß-Hamburg-Gesetz«, zu Hamburg geschlagen wurde; siehe wikipedia Hamburg-Osdorf; wikipedia Groß-Hamburg-Gesetz.
28) Roche 1909, S. 3
29) Die FVdG ging aus der lokalistischen Opposition innerhalb der sozialdemokratischen Freien Gewerkschaften hervor. Ursprünglich aus revolutionären Sozialdemokraten bestehend, die den reformistischen Kurs der Zentralverbände der Generalkommission ablehnten, wurde den Lokalisten 1907 von der Partei das Ultimatum gestellt, innerhalb eines Jahres sich den Zentralverbänden anzuschließen oder aus der SPD rauszufliegen. Die eine Hälfte (etwa 8000 Mitglieder) unterwarf sich, während die andere Hälfte mit den Sozialdemokraten brach und sich rasch dem revolutionären Syndikalismus annäherte. Nach dem 1. Weltkrieg entstand aus ihr die »Freie Arbeiter-Union Deutschlands«. (siehe Aigte 1930/1931; Bock 1969 und Bock 1993; Fricke 1988, S. 1010 – 1021; SyFo [2007]; Kater 1912; Klan/Nelles 1990; Kulemann 1908; Rübner 1994; Vogel 1977; einen schnellen Überblick und reichen Materialfundus bietet zudem die Internet-Seite des Instituts für Syndikalismusforschung).
30) Roche 1909; die Broschüre wurde erstmals in der Einigkeit, Nr. 31, 31. 7. 1909, angekündigt, ist also spätestens Anfang August erschienen. – Im Revolutionsjahr 1919, nach zehn Jahren, bringt Roche den »Sumpf« noch einmal heraus, denn, wie er im Vorwort zur Neuausgabe schreibt: »Die Zentralverbandsführer in Hamburg wie auch die Rechtssozialisten verbreiten Gerüchte über mich, hinterhältig und verlogen. Der „Rote Sumpf“ dient ihrem verleumderischen Beginnen zur Grundlage. Daher habe ich mich entschlossen, diese Schrift neu herauszugeben. … Das Schriftchen hat außer seinem historischen Interesse auch für den Tageskampf der Gegenwart Wert.
Auch eine gewisse Genugtuung beschleicht mich: Was ich vor zehn Jahren über die Arbeiterbewegung und deren Führer auszusprechen wagte, wofür ich geächtet wurde — heute sagen dasselbe Millionen.« (Roche 1919a, S. 1 f)
31) Der Bau-Hilfsarbeiter, Nr. 32, 7. 8. 1909
32) Hamburger Echo, Nr. 189, 15. 8. 1909
33) Der Bau-Hilfsarbeiter, Nr. 35, 28. 8. 1909
34) Karl Roche, Heraus mit dem Flederwisch!; in: Einigkeit, Nr. 33, 14. 8. 1909
35) Karl Roche, Eine Nachlese; in: Einigkeit, Nr. 42, 15. 10. 1910; Hamburger Echo, Nr. 106, 8. 5. 1910; Hamburger Echo, Nr. 213, 11. 9. 1910
36) Urteil des Schöffengerichts Hamburg vom 7. Mai 1910 gegen Fritz Kater und Karl Roche, in Auszügen mitgeteilt bei Karl Roche, Eine Nachlese; in: Einigkeit, Nr. 42, 15. 10. 1910
37) zum »Reichsverband« siehe Fricke 1970
38) Lübecker Volksbote, Nr. 177, 1. 8. 1910
39) LaB, A Pr. Br. Rep. 030 Nr. 16490, Bl. 31
40) Der Bau-Hilfsarbeiter, Nr. 2, 8. 1. 1910
41) Kampf. (Unabhängiges) Organ für Anarchismus und Syndikalismus; erschien von 1912 bis 1914 in Hamburg; mit Sicherheit stammt der mit »K. R.« gezeichnete Artikel »Evolution rückwärts« (Jg. 1, Nr. 2, August 1912, Beiblatt, [S. 7 – 8]) von Roche; der mit »R.« gezeichnete Artikel »Aus der journalistischen Düngergrube am Speersort« (ebd., [S. 8] ist nicht sicher Roche zuzuordnen, sein Sprachstil macht es aber wahrscheinlich). – Zum Kampf siehe KAMPF! – Vorwort zum Reprint 1986 (Hamburg); zum Anarchismus in Hamburg vor dem 1. Weltkrieg siehe Heinzerling 1988.
42) zum Konzept der Arbeiterbörsen siehe Barwich [1923]
43) Rübner 1996, S. 75; zu den Aktivitäten der syndikalistischen Seeleute kurz vor dem 1. Weltkrieg siehe Mohrhof 2008
44) offiziell vom Bremer Delegierten Franz Martin auf dem 11. Kongreß der FVdG im Mai 1914 vorgeschlagen; siehe Rübner 1996, S. 76, Anm. 35
45) Rübner 1996, S. 76, Anm. 35
46) Rübner 1996, S. 77
47) Roche 1912 – wir halten die von Angela Vogel vermutete Auflösung des Pseudonyms (siehe Vogel 1977, S. 252, Anm. 26) nach Durchsicht der unter dem Namen Diogenes publizierten Artikel in der Einigkeit und im Pionier für überzeugend. Roche benutzte dieses Pseudonym später auch noch im Syndikalist.
48) Thorpe 1978, S. 57; Thorpe 1989, S. 69 ff – Roche berichtete in der Einigkeit (Nr. 41 und 42, 11. und 18. Oktober 1913) und im Pionier (Nr. 42, 15 Oktober 1913) über den Kongreß. – Zusammenfassend zum Kongreß: Thorpe 1978, Thorpe 1989.
49) LaB, A Pr. Br. Rep. 030 Nr. 16490, Bl. 19 & 20
50) siehe die Dokumentation Den Kapitalismus muß man nicht totglauben, den Kapitalismus muß man totkämpfen. Karl Roche und die Genossenschaftsfrage 1911 – 1914; in: barrikade, Nr. 7, April 2012, S. 26 – 29. 
51) Bock 1969 und Bock 1993; Rübner 1994; Aigte 1930/1931
52) Das Weitererscheinen des »Mitteilungsblatt« verboten!; in: Rundschreiben, Nr. 1, 15. 6. 1915
53) Rundschreiben, Nr. 47, 15. Mai 1917 – zusammenfassend dazu Thorpe 2000.
54) LaB, A Pr. Br. Rep. 030 Nr. 16490, Bl. 29; Bl. 31
55) LaB, A Pr. Br. Rep. 030 Nr. 16490, Bl. 29; Bl. 32
56) LaB, A Pr. Br. Rep. 030 Nr. 16490, Bl. 29; Bl. 33
57) Fricke war vor dem Krieg Verleger und verantwortlicher Redakteur des Kampf bis Nr. 10 (siehe KAMPF_Anhang).
58) Hat Roche, wie wir in der ersten Fassung dieser biographischen Skizze noch ziemlich überzeugt behauptet haben,(siehe AKR 2009, S. 5 f) zum Untergrundnetz der FVdG gehört, das den Zusammenhalt der Syndikalisten für die Zeit nach dem Kriege erfolgreich sicherte? Den oben zitierten Überwachungsakten zufolge hat er sich bis zu seinem Umzug nach Hamburg von der Bewegung ferngehalten. Das kann stimmen. Roche hatte sich während der Zeit beim Hauptvorstand des »Verbandes« Rheumatismus in den Beinen zugezogen und war demzufolge in seiner Mobilität eingeschränkt (siehe Roche 1909, S. 8f). Eine der wenigen Versammlungen der Hamburger FVdG während des Krieges fand am 8. Juli 1917 statt, an der 56 Personen, überwiegend Werftarbeiter, teilnahmen; Fritz Kater, der ursprünglich dort sprechen sollte, konnte nicht kommen; siehe Ullrich 1976 (Band 2), S. 153, Anm. 34.
Ob Roche Kontakt zur linken Opposition in der Hamburger SPD um Heinrich Laufenberg und Fritz Wolffheim hatte, die später an der Gründung der KPD wie der KAPD führend beteiligt waren, konnten wir bisher nicht ermitteln.
59) Zeugnis der Vulcan Werke, vollständig zitiert in Isegrim (d. i. Karl Roche), An der Unterweser; in: Syndikalist, Jg. 6, Nr. 30, 26. Juli 1924, Beilage.
60) LaB, A Pr. Br. Rep. 030 Nr. 16490, Bl. 37
61) Die Umbenennung hatte der 11. Kongreß der FVdG im Mai 1914 beschlossen, seine Umsetzung wurde allerdings durch den Kriegsausbruch und das Verbot verhindert; siehe Rübner 1996, S. 82, Anm. 58
62) Syndikalist, 1. Jg. 1918/19, Nr. 7
63) Syndikalist, 1. Jg., 1918/19, Nr. 14
64) siehe etwa Kuckuk 1996, S. 22
65) alle vier Broschüren sind nachgedruckt in Roche 2009
66) vollständig zitiert in Isegrim (d. i. Karl Roche), An der Unterweser; in: Syndikalist, Jg. 6, Nr. 30, 26. Juli 1924, Beilage.
67) Politische Polizei Hamburg – Wochenbericht Nr. 9 vom 13. 10. 1919; zitiert auf der Webseite des AKR: http://archivkarlroche.wordpress.com/2009/05/03/der-hetzer-roche/
68) Die unionistische Bewegung entstand spontan in der ersten revolutionären Nachkriegsphase. Sie orientierte sich theoretisch mehrheitlich am revolutionären Marxismus, organisatorische Grundlage war die berufsübergreifende Betriebsorganisation (im Bergbau die Schachtorganisation); aufgebaut war sie in der Regel nach dem Räteprinzip. Ein kleinerer Teil der Unionisten schloß sich im Dezember 1919 mit der FVdG zur FAUD zusammen (Rocker 1919), die Mehrheit beteiligte sich am Gründungsprozeß der AAUD, während eine weitere Strömung (»Union der Hand- und Kopfarbeiter«) sich zeitweilig der KPD annäherte (die darüber nicht immer sehr glücklich war). Aus dieser Strömung entstanden nach 1925 die »Revolutionären Industrie-Verbände«. (Bock 1969 und Bock 1993; Bötcher 1922; Hermberg 1922; Langels 1989; siehe auch Bärhausen u.a. 1986, S. 8)
69) Die Hamburger KPD gehörte fast vollständig zur antiparlamentarisch-antigewerkschaftlichen Opposition gegen die Berliner Zentrale; siehe Protokoll KPD 3. Parteitag.
70) siehe Bock 1969 und Bock 1993, S. 188 ff; Böttcher, S. 75 ff.
71) Der Gründungsparteitag der KAPD fand am 4. und 5. April 1920 in Berlin statt; siehe Bock 1977.
72) siehe Bock 1969 und Bock 1993, S. 188ff; Siegfried 2004, S. 128f.
73) Bekannte Vertreter sind, neben Roche (Hamburg), der Herausgeber der Berliner Aktion, Franz Pfempfert, und Otto Rühle (Dresden).
74) siehe Die 3. Reichskonferenz der AAUD, 12. – 14. Juni 1920 in Leipzig. Eingeleitet und bearbeitet von Jonnie Schlichting; in: barrikade Nr. 7, April 2012, S. 34 – 39.
75) siehe Bock 1969 und Bock 1993, S. 214f; zu Hamburg siehe auch: Partei oder Gewerkschaft; in: Alarm, Jg. 3/1921, Nr. 19
76) Angress 1972, S. 139ff; Bock 1969 und Bock 1993, S. 295ff.
77) Zeitdokument; in: Alarm, Jg. 3/1921, Nr. 17
78) so spricht Roche am 27. 11. 1921 auf einer Veranstaltung der FAUD zur Ermordung des spanischen Ministerpräsidenten Dato durch zwei CNT-Genossen über die Leiden der Festungsgefangenen in Gefängnis Hamburg-Fuhlsbüttel; siehe: ZP-Stelle Hamburg – Bericht # 105 – 29.11.1921 (Staatsarchiv Bremen 4,65).
79) siehe Siegfried 2004, S. 129
80) siehe Bock 1969 und Bock 1993, S. 214f
81) siehe Voß 1981; Wollenberg 1973
82) siehe Voß u.a. 1981
83) Eine Rentenmark = 1 Billion Papiermark; 1 US$ = 4,20 Rentenmark
84) Der erste von Roche signierte Artikel im Syndikalist erschien schon in der Ausgabe 43 – 44/ 4. November 1923 – gleich nach den KPD-Putsch vom 23. Oktober in Hamburg: »Die Opfer einer politischen Narrheit«.
85) Roche 1924
86) Die Konferenz des Bezirks Nordwest der FAUD und der Block antiautoritärer Revolutionäre.Bremen am 27. und 28. Dezember 1924 – Eine Dokumentation. Eingeleitet und bearbeitet von Jonnie Schlichting; in: barrikade Nr. 4, Dezember 2010, S. 15 – 22.
87) Roche 1925
88) Roche 1929
89) Karl Roche [Nachruf]; in: Syndikalist, Jg. 11, Nr. 2, 10. 1. 1931 [http://www.syndikalismusforschung.info/rochetod.htm]
90) R [Rudolf Rocker?], Karl Roche; in: Fanal, Jg. 5 (1930/1931), Nr. 5, Februar 1931, S. 119 [http://archivkarlroche.wordpress.com/archiv-karl-roche/nachruf-aus-fanal/]

Quellen
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 LaB: Landesarchiv Berlin
 StAH: Staatsarchiv Hamburg
 SyFo: Institut für Syndikalismusforschung Bremen
2. Periodika
 AGWA: Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit (Germinal)
 Alarm: Alarm. Organ für freien Sozialismus [Herausgegeben von Carl Langer], Hamburg
 barrikade: barrikade Streitschrift für Anarchosyndikalismus, Unionismus und revolutionären Syndikalismus, Hamburg (AKR)
 Einigkeit: Die Einigkeit. Organ der Freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften, Berlin
 Internationale (FAUD): Die Internationale. Zeitschrift für revolutionäre Arbeiterbewegung, Gesellschaftskritik und sozialistischen Neuaufbau. Hrgg. von der Freien Arbeiter-Union Deutschlands (AS), Berlin
 Kampf: Kampf. (Unabhängiges) Organ für Anarchismus und Syndikalismus, Hamburg
 KAZ (Hamburg): Kommunistische Arbeiter-Zeitung, [Organ der KPD, Ortsgruppe Hamburg; seit 1920: Organ der Kommunistischen Arbeiterpartei und der Allgemeinen Arbeiterunion Deutschlands, hrgg. von der Ortsgruppe Hamburg], Hamburg
 Mitteilungsblatt: Mitteilungsblatt der Geschäftskommission der Freien Vereinigung Deutscher Gewerkschaften, Berlin
 Pionier: Der Pionier. Unabhängiges sozialrevolutionäres Organ, Berlin
 Rundschreiben: Rundschreiben an die Vorstände und Mitglieder aller der Freien Vereinigung Deutscher Gewerkschaften angeschlossenen Vereine, Berlin
 Syndikalist: Der Syndikalist. Organ der Sozialrevolutionären Gewerkschaften Deutschlands; seit 1920: Organ der Freien Arbeiter-Union Deutschlands, Berlin
 Unionist: Der Unionist. Organ der Allgemeinen Arbeiter-Union, Wirtschaftsbezirk Wasserkante; seit 1921: Organ der Allgemeinen Arbeiter-Union (Einheits-Organisation), Wirtschaftsbezirk Wasserkante, Hamburg
3. Literatur
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 Angress 1973: Werner T. Angress, Stillborn Revolution. Die Kampfzeit der KPD 1921 – 1923 [1963], Wiener Neustadt (Räteverlag)
 AKR 2009: Archiv Karl Roche, Wer war Karl Roche? Eine biographische Skizze; in: Roche 2009
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 Roche 1920: Karl Roche, Demokratie oder Proletarische Diktatur! Ein Weckruf der Allgemeinen Arbeiter-Union, Ortsgruppe Hamburg, Hamburg
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* * *

Schon wieder Seidman!

Im September schlug der us-amerikanische Historiker Michael Seidman erneut zu.

Er nahm sich das Buch des englischen Historikers Paul Preston The Spanish Holocaust in der Londoner Times – dem TLS – Times Literary Supplement – vom 7. September 2012 vor. Hier ist die Rezension. Daran anschließend eine öffentliche Antwort des schottischen Genossen Stuart Christie  (http://www.christiebooks.com/ChristieBooksWP/2012/09/the-tls-letter-to-the-editor-whatever-happened-to-serious-and-authoritative/) die wir (vorerst) nur im Original wiedergeben – die Übersetzung ist bereits in Arbeit. Sollte jemand die Kapazität haben, die Seidman-Rezension zu übersetzen, wären wir äußerst dankbar.

Seidman-Victimized-TLS-7-Sep-12

Hier die Ünersetzung:

Spitzfindigkeiten eines offenen Pro-Franco-Kritikers

Anmerkungen zur Rezension Michael Seidmans von Paul Prestons “Der Spanische Holocaust”

Times Literary Supplement, 7. September 2012

Was ist mit dem herausgeberischen Urteilsvermögen bei TLS los? Was in aller Welt hat den Herausgeber dazu verleitet, das herablassende und unverschämte Gelaber eines Pro-Franco-Apologeten wie Michael Seidman in seiner Buchbesprechung von Paul Prestons “Der Spanische Holocaust” zu veröffentlichen?

Wenn man von Beschwerden über Prestons „Diskreditierung des moralischen Kapitals der Nationalisten“ einmal absieht, scheint Seidmans wichtigste Kritik die Verwendung des Begriffs „Holocaust“ zur Beschreibung des Blutbads, das von „rebellischen Offizieren“ ausgelöst wurde, „die bald von Mussolini und Hitler unterstützt wurden“ (womit unterstellt wird, dass keines der beiden Regimes an den Plänen zum Umsturz der Republik beteiligt war). Diese Ablehnung des Wortes Holocaust ist entweder akademische Pedanterie oder ein übereifriger politischer Versuch Seidmans, den Begriff ausschließlich und natürlich ungebeten für die jüdischen Opfer des Nazi-Antisemitismus zu vereinnahmen; auf Kosten der 5, 6 oder 7 Millionen anderen Opfer der Nazi-Mordmaschine – Antifaschisten (jüdisch und nicht-jüdisch), Intellektuelle, Sozialisten, Anarchisten, Kommunisten, Liberale, Zeugen Jehovas, Roma, geistig Kranke, Behinderte usw. usw. – zwischen Januar 1933 und Mai 1945.

Bisher habe ich auch noch nichts gesehen von der von Seidman beschriebenen “Lawine neuerer Literatur”, die „Prestons antiquierte Sichtweisen“ der Repression in der republikanischen Zone „in Frage stellt“, nämlich dass sie

„Teil eines größtenteils absichtlichen und kalkulierten Versuchs war, (sehr allgemein definierte) ‚Faschisten’ und Rechte zu eliminieren – ebenso wie Mitglieder des Klerus, die für eine fünfte Kolonne und potentielle Hindernisse für die Arbeiter- oder Volksrevolution gehalten wurden. Diese Morde standen in enger Verbindung mit den linken Parteien, Sozialisten, Kommunisten und Anarchisten und wurden gewöhnlich von diesen gutgeheißen.“

Wie Seidmann (oder sonst jemand) schlussfolgern kann, dass solch eine Verschwörung zwischen so unterschiedlichen und miteinander konkurrierenden Gruppen der „Linken“ existierte, ist mir ein Rätsel und wirft ein ungünstiges Licht auf sein Verständnis von Geschichte, Politik und Kultur Spaniens zwischen den beiden Weltkriegen. Hätte es solch eine Verschwörung gegeben, wäre sie wahrscheinlicher von der nationalen und regionalen Führung gegen ihre eigenen bekannten Dissidenten gerichtet gewesen – einfache Kämpfer und Intellektuelle, die die Parteihegemonie in Frage gestellt hatten – und nicht die unbekannten Mitglieder der fünften Kolonne, die hinter den republikanischen Linien geschnappt wurden, sich oftmals den Gewerkschaften einschließlich der CNT, der kommunistischen oder der sozialistischen Partei anschlossen und häufig die allerdogmatischsten Parteigetreuen waren.

Seidman tut so, als wäre alles erst 1936 losgegangen. Mord und Chaos auf beiden Seiten: zugestanden. Grausamer Mord aufgrund von Abneigung, Eigeninteresse, Gier usw. – das ganze Spektrum war abgedeckt. Zugegeben: niemand war über jeden Tadel erhaben und, wie ich selbst in meinem neuesten dreibändigen Werk ¡Pistoleros! – 1918-24” gezeigt habe, gab es auch keinen Mangel an Täteren im anarchistischen Lager.

Dennoch, Seidmans eigene Zahlen aus dem Zeitraum “während des spanischen Konfliktes” (ich nehme an, er meint 1936-39, also den Bürgerkrieg) belegen ein 13 zu 5 Verhältnis an Tötungen zugunsten der Nationalisten (Faschisten, katholische Autoritäre und Vertreter von „Ein Spanien“). Letzteres erklärt, wie sich Generäle wie z.B. Cabanellas – die in den frühen Jahren der Republik und Monarchie Freimaurer und/oder Republikaner gewesen waren – in „Faschisten“ verwandelt haben. Oder hatten sie schon immer diese autoritäre Einstellung? Eine Einstellung, die sie mit vielen (bis gestern noch Monarchisten) „Neurepublikanern“ gemeinsam hatten, was Vorfälle erklären kann wie die blutige Repression von Castilblanco 1931, Arnedo 1932 und Casas Viejas 1933 etc., und die Einrichtung der Guardia de Asalto als Polizeitruppe zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Der berüchtigte „Republikaner“ und Freimaurer Eduardo López Ochoa führte die Niederschlagung und Unterdrückung des Aufstands in Asturien 1934 an. „Republikanisch“ hieß nicht automatisch „links“, noch nicht einmal „liberal“. Daher auch die Skepsis in den Reihen der CNT. Siehe dazu Melchor Rodriguez’ Artikel “April to April” (KSL Bulletin), der die Opfer der Sicherheitskräfte der neuen Republik gezählt hat.

Die Vernarrtheit in die Romantisierung der Republik lässt uns vor ihren raueren Seiten die Augen verschließen, die die Armen und die arbeitenden Klassen erleben mussten. Die Kirche, die besitzenden Klassen und die Anhängern von „Ein Spanien“ fühlten sich möglicherweise durch Teile der republikanischen Rhetorik und Gesetzgebung angegriffen, aber sie waren nicht Schlagstöcken, Kugeln und Artilleriefeuer ausgesetzt wie die Arbeitenden. Wurde General Sanjurjo nach seinem versuchten Putsch gegen die Republik 1932 genauso hart bestraft wie der Bauer Seisdedos oder die aufständischen Bergleute und Bauern von Llobregat? Einzelheiten der unterschiedlichen Behandlung wären interessant.

Ablehnung der Republik allein war noch kein Vergehen, sofern sie nicht in praktische Aktion mündete wie Desertieren, Widerstand, praktische Opposition. Doch unter dem frankistischen Befehl 108 der National(istisch)en Verteidigungsjunta (13/09/36) wurde die Beschlagnahmung von Eigentum derer vorgesehen, die für Widerstand gegen die nationalistische Bewegung „direkt oder unterschwellig verantwortlich, durch Handeln oder Anstiftung“ sein sollten.

Das frankistische Politische Transparenzgesetz vom 9.2.39 (das die Beschlagnahmung von Gütern regelt) wurde im Nachhinein anwendbar erklärt auf die Ereignisse von Oktober 1934 (was einem einen Hinweis auf die Geistesverfassung der Gesetzgeber gibt: warum nicht 1931, 32, 33?), und sollte der/die Beschuldigte in der Zwischenzeit verstorben sein, gingen alle Verbindlichkeiten und Strafzahlungen, die daraus entstanden, auf seine/ihre Erben oder Verwandten über. Zwei Drittel dieser Beschlagnahmungen betrafen „Übeltäter“ aus der Arbeiterklasse und viele davon mussten erlassen werden, nicht aus Mitleid, sondern mangels beschlagnahmbarer Güter. Bußgelder wurden erlassen und durchgesetzt gegen Republikaner und andere, die bereits 1936 erschossen wurden. Der sozialistische Volksfrontfunktionär (PSOE) Vicente Martin Romera (ermordet am 7. August 1936 in Madrid auf Befehl von Colonel Cascajo) bekam ein Nachkriegs- und nachträgliches Bußgeld von 125 000 Peseten, die seine Familie aufbringen musste, um „freien Zugang zu seinem Besitz“ zu erhalten.

Bußgelder und Beschlagnahmungen waren oft Begleitumstände von Hinrichtungen (und zwar sowohl vor- als auch nachher). In Albacete hatten 43 % der von Kriegsgerichten verurteilten ein Verfahren nach dem Politischen Transparenzgesetz und 80% der Bestraften waren Landarbeiter oder Handwerker. 1942 ersetzte eine Änderung dieses Gesetzes ökonomische Sanktionen mit Berufsverboten, bis das Gesetz am 13.4.45 außer Kraft gesetzt wurde – in Bezug auf neue Fälle. Die bereits laufenden Vorgänge wurden bis 10.11.66 weiter verfolgt. Ich möchte die Republik nicht romantisieren, aber (von einer kommunistischen Machtübernahme abgesehen) bezweifle ich, dass eine Verfolgung in diesem Ausmaß stattgefunden hätte.

Zu Seidmans außerordentlicher Feststellung, dass “Nationalisten verhältnismäßig mehr Kriegsgefangene in ihre Armee eingegliedert haben als alle anderen an Bürgerkriegen im Mitteleuropa des 20. Jahrhundert beteiligten Parteien“ – ist Seidman nicht klar, dass die Kriegsgefangenen in dieser Frage keine Wahl hatten, da die einzige Alternative ein Hinrichtungskommando und ein Massengrab waren? Dieser Bezug auf das nationalistische Recycling von Kriegsgefangenen soll Prestons Anschuldigungen betreffs „Vernichtungsprogrammen“ widerlegen, aber tut er das? In welche Einheiten wurden sie wiedereingegliedert? Wie wurden sie kommandiert, diszipliniert und eingesetzt? In welchen Sektoren wurden sie eingesetzt? Gegen welche republikanischen Kräfte? Gab es möglicherweise Abschreckungsmaßnahmen gegen Zurückweichler? (Maschinengewehre à la Trotzki im russischen Bürgerkrieg oder à la Stalin im Zweiten Weltkrieg? Wie hoch war ihre Sterblichkeitsrate verglichen mit nationalistischen „Freiwilligen“einheiten oder regulären Kräften? Ich weiß es nicht. Ich frage ja nur. Kurz gesagt, solche Recyclingprogramme standen nicht notwendigerweise im Widerspruch zu Vernichtungsplänen, sondern konnten sehr wohl ein Teil davon sein – den Feind durch den Feind töten lassen, während man gleichzeitig die Nachhut von Unzufriedenen säubert.) In seiner eigenen Republik der Egos gesteht Seidmann einen Mangel an Arbeitskräften statt Truppen ein.

Zu Prestons so genannter “Entschuldigung” der spanischen Linken und ihrer angeblichen Tendenz, den sowjetischen Einfluss auf das Paracuellos-Massaker an angeblichen oder bekannten Antirepublikanern durch eine gemischte Truppe spanischer Linker überzubewerten: dieses Massaker scheint unter anderem von Santiago Carrillo veranstaltet worden zu sein, früher bei der Vereinten Sozialistischen Jugend (JSU) und zum damaligen Zeitpunkt bei der Spanischen Kommunistischen Partei (PCE) – und letztere hat wenig getan, das nicht durch das Politbüro und seine Komintern-Berater gefiltert war.

Was Seidmans Argument zu den katalanischen Carlisten in der nationalistischen Armee angeht: liegt es nicht nahe, dass der Verdacht nicht unberechtigt ist, eine fünfte Kolonne sei aktiv in den ländlichen Gebieten Kataloniens, aus der diese Figuren kamen, ebenso typische Requetés, die nicht im richtigen Alter für den Militärdienst gewesen sein mögen, dafür aber andere Dienste leisteten? Dies soll keine Entschuldigung sein, sondern vielleicht eine teilweise Erklärung für die mörderische Behandlung, die Rechten und dem katholischen Klerus zu Teil wurden.

Wenn Preston (laut Seidman) feststellt, dass der “Radikalismus” der republikanischen Führung eher rhetorischer als wirklicher Natur war, ist dieses Argument eigentlich überflüssig. Präsident Azañas angebliche Ankündigung, mit seinen Reformen “Hackfleisch” aus der Armee zu machen (“triturar el ejército”) stiftete genauso viel (vielleicht mehr) Aufregung und Verbitterung in diesen Kreisen wie gewalttätige Streiks. Desgleichen die jakobinische, aufklärerische Kritik an der Kirche. Die CEDA entstand aus dem Begehren, katholische Prinzipien ungeachtet des Regimes zu verteidigen, das Ewige gegen die Umstände: darum ging es bei CEDAs „Accidentalism“: der Schwerpunkt auf dem (Un)Realen anstatt dem Formalen. Ein republikanischer Anhänger der katholischen Werte war gut, ein monarchistischer Nicht-Anhänger derselben böse. Das Gleiche gilt sicher für libertäre oder linke Werte, oder?

Preston mag die “Straßen”angriffe auf Sachen nach dem Februar 1936 unterschätzen, aber Seidmann sollte die „Esst die Republik“-Verhöhnungen während des bienio negro, die Hinterlassenschaft der Repression von Oktober 34, die einschneidenden Beschränkungen von Gewerkschaftsrechten usw., den offenen Flirt der spanischen Rechten mit Autoritarismus und Faschismus im restlichen Europa, das österreichische Beispiel von 1934 usw. im Blick behalten. Gibt es denn nicht wenigstens die Möglichkeit, dass die Straße dadurch in Bewegung geriet und durch ihre eigenen Angelegenheiten anstatt durch hochtrabende Rhetorik irgendeiner republikanischen Leuchte? Mit seinen Bemerkungen über das generelle Herunterspielen der raueren Seiten des Klassenkampfs hat er Recht, aber ich frage ihn: wie „sicher“ waren die Leben, Freiheiten, Nachkommen und Dächer über den Köpfen von NICHT-Rechten und NICHT-Besitzenden? Als Spezialist für die Details der Revolte in all ihren unbequemen und unangenehmen Ausprägungen, die nicht in ordentliche ideologische Modelle passen, sollte Seidman einmal ein typisches Arbeiterleben 1923-43 untersuchen, um Verbesserungen zu entdecken. Diese mögen nicht mit den definierten Konturen von Republik, Monarchie, Diktatur und (noch mal) Diktatur übereinstimmen. Zweitens. Er scheint zu sagen: Schau über das Formale hinaus auf das REALE, aber wenn Prestons Schwerpunkt auf einer Bearbeitung „von oben“ liegt, geht eine Menge davon verloren. Das Leben wird nicht immer von Rednern oder Druckerzeugnissen bestimmt. Die CNT bezog sich stets auf die anonimos, und es gab anonyme Akteure und Faktoren auch außerhalb der CNT.

Der Mord an Calvo Sotelo war in der Tat eine „kaltblütige Tötung“. Was waren Casas Viejas und die vielen anderen ähnlichen Vorkommnisse? Es waren nicht Regierung oder Justiz, die aus Casas Viejas einen Skandal machten, oder? Was hat Seidman zu sagen über irgendeinen Arbeiterklassen-„Franco“, der durch Casas Viejas zur „Revolution“ getrieben wurde oder die Repression irgendeines Streiks?

Zu seiner Erwähnung des Besonderen Militärtribunals des Generalissimus, das 15 000 Fälle von 36 bis 38 abgewiesen hat: Wie viele in der Anklage genannten waren bereits tot? Hingerichtet? Geflohen? Weitere 15 000 wurden aufrechterhalten, und wahrscheinlich erfolgte eine Verurteilung. Er zitiert den Rückgang von Todesurteilen „nach 1941“ (also nach drei Jahren Massenhinrichtungen), doch vernachlässigt jegliche „Kontextualisierung“ wie Bezüge auf den Zweiten Weltkrieg (denkt daran, das war in etwa die Zeit, als Ramón Serrano Súñer den Deutschen mitteilte, dass Spanien kein Interesse am Schicksal spanischer Roter in den Händen der Nazis habe), Spaniens Schwierigkeiten, seine Bevölkerung zu ernähren und die Todesrate in frankistischen Gefängnissen durch Seuchen und Hunger, verschlimmert durch Mangel an medizinischer Betreuung und regelmäßig angewendete Folter. Besser für die Statistik, wenn viele dieser Häftlinge außerhalb starben, arbeitslos und nicht vermittelbar, auf Schwarzen Listen registriert, wohnungslos, abhängig von der Wohltätigkeit der Kirche oder den sozialen Diensten der Falange, nicht gerade die Verkörperung der Mildtätigkeit. Und er vergisst den Höhepunkt der Hinrichtungen zwischen 1947 und 49 zu erwähnen, ein ganzes Jahrzehnt nach dem Krieg und nach all dem Exil, den Verurteilungen und Hinrichtungen der Nachkriegsjahre.

Was Seidmans Kommentare über die nationalistische Agrarpolitik angeht: kann es sein, dass die flüchtigen Grundbesitzeren noch nicht zurückgekehrt waren, dass es stark an Arbeitskräften mangelte, da so viele Männer im erwerbsfähigen Alter an der Front dienten und dass das Angebot von Anreizen für die „besetzenden“ Bauern eine Übergangsstrategie für die Dauer des Krieges in Erwartung der Rückerstattung des gesamten fruchtbaren spanischen Bodens war? Bringt die Opposition um, steckt Leute wegen geringfügigerer Verfehlungen in den Knast, belegt so viele, wie es geht, mit Bußgeldern, zieht die im dienstfähigen Alter ein und ermutigt (!) den Rest, die Produktion zu steigern?

1957 wurde ein Juan García Suárez hingerichtet, allerdings erst, nachdem der kanarische Bischof persönlich an Franco geschrieben hatte, um ihn an die „Tausende Menschen“ zu erinnern, die die „Nationalisten“ auf den Kanaren getötet hatten. Bischof Pildain schrieb: “Sehr geehrter Herr Don Francisco Franco Bahamonde, spanisches Staatsoberhaupt. Sehr geehrter Herr: Ich, Antonio Pildaín y Zapiain, Bischof der apostolischen Diözese von Las Palmas, fühle mich als Hirte der Seelen und spiritueller Vater der Kanaren verpflichtet, sie zu ersuchen, die Todesstrafe von Juan García Suárez umzuwandeln, der von einem Kriegsgericht vor Ort zum Tode verurteilt wurde. Dieser Tod würde auf den Kanaren, wo nichts passiert ist, sehr schlecht aufgenommen werden, da hier all die barbarischen Handlungen von Nationalisten und nicht von Republikanern verübt wurden. Ich möchte dieses Thema lieber nicht zu sehr vertiefen und erinnere Eure Exzellenz an alles, was auf dieser Insel passiert ist, besonders in der Jinámar-Schlucht, wo mehrere Tausend umkamen.“ (Santos Julia [Hg.] Victimas de la Guerra Civil, Temas de Hoy, S. 335-336). Pildaín machte eine mündliche Aussage gegenüber den Historikern José Luis Morales und Miguel Torres, einer der beiden erinnert sich an folgendes: „Bischof Pildaín erwähnte mir gegenüber, dass zwischen 5000 und 6000 Menschen in dieser Gegend umgekommen sind. Die meisten von ihnen verschwanden.“

Stelle das “nicht passiert” der 5000:0-Todesbilanz auf den Kanaren gegenüber! Wann gab es auf den Kanaren eine militärische Bedrohung? Wenn „nichts passiert ist“, können wir davon ausgehen, dass die Inseln ohne ernsthaften Widerstand gefallen sind. Ergehe ich mich in Viktimologie, wenn ich frage, welche Auswirkungen dies auf die Versuche haben könnte, republikanische und nationalistische Gewalt gegeneinander aufzurechnen?

Ich könnte ewig so weitermachen, aber ich erkenne einfach Seidmans Bezugsrahmen nicht an, besonders sein Argument, dass “die spanischen Konterrevolutionäre keinen Rassenkrieg gegen die Juden geführt haben, sondern sich auf die Bekämpfung von Revolutionären konzentrierten, welche ihr Leben, ihr Eigentum und ihren Glauben bedroht haben.“ Wen meint er nur? Franco und seine Kohorte klero-faschistischer Mörder waren niemals „Konterrevolutionäre“, sondern reaktionäre Putschisten, die – mit Hilfe von Nazideutschland, dem faschistischen Italien und einflussreichen Teilen des britischen Establishments – eine regulär gewählte republikanische Regierung stürzten (was immer man von dieser Regierung halten mag) und wer weiß schon genau wie viele Zehntausende Unschuldiger massakrierten – die in keinster Weise eine Bedrohung von Leben, Eigentum oder Glauben darstellten (wie von Bischof Antonio bezeugt) – in einem Versuch, einem eingebildeten „proletarischen Barbarentum“ entgegen zu treten und Spanien 400 Jahre zurück zu werfen zu den mittelalterlichen katholischen Werten des Heiligen Römischen Reiches.

Nein, in Wirklichkeit waren die “Konterrevolutionäre” während der spanischen Revolution und des Bürgerkrieges Azaña, Prieto, Negrín, Companys, Jesús Hernández, Federica Montseny, Mariano R. Vázquez und all die anderen „angesehenen Führer“ auf der republikanischen Seite; ebenso waren es nicht Faschisten, Angehörige der fünften Kolonne, Priester und Nonnen, die vorwiegend hinter den republikanischen Linien verfolgt wurden, sondern Tausende Revolutionäre und einfache Kämpfer, die zwischen Juli 1936 und Dezember 1937 ihren Intrigen und Manövern entgegentraten, die bürgerliche Ordnung wieder herzustellen und zu festigen.

Die Entscheidung, Paul Prestons unbezahlbares Werk über den frankistischen Holocaust der Spitzfindigkeit eines solch offenen Pro-Franco-Kritikers wie Michael Seidman vorzuwerfen, wirft ein ungünstiges Licht auf die vormals hohen herausgeberischen Standards von TLS unter früheren Herausgebern wie Arthur Crook und John Gross (und Stellvertretern wie Nicolas Walter). Was ist nur aus „ernsthaft“ und „maßgeblich“ geworden?

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Das Orginal:

What has happened to editorial judgement at the TLS? What on earth led the editor to commission the patronisingly offensive twaddle from such a pro-Francoist apologist as Michael Seidman in his review of Paul Preston’s “The Spanish Holocaust”?

Apart from complaining about Preston’s ‘discrediting the moral capital of the Nationalists’, Seidman’s principal objection appears to be the use of the term “Holocaust” to describe the carnage triggered by the “rebellious officers, whom Hitler and Mussolini quickly aided” (the implication being that neither regime had been complicit in the plans to topple the Republic). This objection to the word Holocaust is either academic pedantry or a zealous political attempt by Seidman to ‘own’ the term on behalf, exclusively and of course unbidden, of the Jewish victims of Nazi anti-semitism at the expense of the other 5, 6 or 7 million victims of the Nazi killing machine — anti-Nazis (Jewish and non-Jewish), intellectuals, socialists, anarchists, communists, liberals, Jehovah’s Witnesses, gypsies, the mentally ill, the disabled, etc., etc. — between January 1933 and May 1945.

I have yet to come across the “avalanche of recent literature” Seidman writes about as ‘challenging’ Preston’s ‘antiquated views’ on the repression in the Republican zone, that it was

part of a largely deliberate and calculated effort to eliminate “fascists” (very broadly defined), rightists — and also members of the clergy, who were perceived as fifth columnists and potential obstacles to workers’ or people’s revolution. The murders were closely connected to, and usually approved by, the parties of the Left, Socialists, Communists and anarchists.’

How Seidman (or anyone else for that matter) concludes that there was such a conspiracy between such disparate and contending groups on the ‘Left’ escapes me, and reflects poorly on his understanding of the history, politics and culture of Spain between the two world wars. Had such a conspiracy existed it was more likely to have been targeted by the national and regional leaderships against their own known dissidents – rank-and-file militants and intellectuals who challenged party hegemony – not the unknown fifth-columnists caught behind Republican lines who more often than not joined the labour unions, including the CNT, and the communist and socialist parties and often proved to be the most ‘ultra’ of the party faithful.

Seidman speaks as though everything kicked off in 1936. Murder and mayhem on both sides: agreed. Grisly murder tainted by grudge, self-interest, gain, etc., it covered the whole spectrum. No one was above reproach, agreed, and as I relate in my own recent 3-volume work, ¡Pistoleros! – 1918-24”, there was no shortage of offenders in the anarchist camp either.

However, Seidman’s own figures taken from the period “during the Spanish conflict” (I’m assuming he means 1936-’39, i.e. the civil war) show a 13 to 5 kill rate in favour of the Nationalists (fascists, Catholic authoritarians and “One Spainers”). The latter explains how generals such as Cabanellas — who were freemasons and/or republicans under the early Republic and monarchy — morphed into “fascists” in 1936. Or were they perhaps always of the same authoritarian mind-set? A mind-set they shared with many (until yesterday monarchists) “new” republicans, explaining incidents such as the bloody repression at Castilblanco in 1931, Arnedo in 1932 and Casas Viejas in 1933, , etc., and the establishment of the Assault Guard as a public order-only police force. The notoriously “republican” and freemason Eduardo López Ochoa led the crackdown and repression of the Asturias uprising in 1934. “Republican” did not necessarily mean “leftist” or even “liberal”. Hence the scepticism in CNT ranks. See Melchor Rodriguez’s article “April to April” (KSL Bulletin) counting those who perished at the hands of the new Republic’s security forces.

Infatuation with romanticism about the Republic tends to blind us to its rougher edges as experienced by the poor and the working classes. The Church, the propertied classes and the One-Spainers might have taken offence at some of the rhetoric and legislation from the Republic, but they never had to suffer batons, bullets and artillery fire as did the workers. Was General Sanjurjo, after his attempted coup against the Republic in 1932, punished as severely as the peasant Seisdedos or the rebel coalminers and peasants of Upper Llobregat? It would be interesting to have the details of the differential treatment.

The Republic did not make mere disaffection an offence, unless it was translated into action in the form of desertion, obstruction, practical opposition. But under the Francoist’ Order 108 from the National(ist) Defence Junta (13/09/36) provision was made for the confiscation of goods from those deemed to have been “directly or subordinately responsible, by action or incitement” for opposition to the Nationalist Movement.

The Francoists’ Political Accountability Law of 9/2/39 (providing for confiscation of assets) was made retrospectively applicable to events from October 1934 (which must be some sort of a clue to the legislators’ mindset— why not 1931, ’32, ’33?), and in the event of the accused’s having died in the meantime all liability and penalties arising therefrom became applicable to his/her heirs or relations. Two thirds of these confiscation proceedings applied to working class “culprits” and most of these had to be set aside, not from melted hearts, but due to the lack of seizable assets. Fines were applied and enforced against republicans and others who had been shot back in 1936. The Popular Front socialist (PSOE) deputy Vicente Martin Romera (murdered on 7 August 1936 in Madrid on the orders of Colonel Cascajo) was hit with a post-war and posthumous fine of 125,000 pesetas which, his family had to pay in order to recover “free access to his assets”.

Fines and confiscations were often accompaniments (before as well as after the fact) to executions. In Albacete 43 per cent of those sentenced by courts martial had Political Accountability files opened on them and 80 per cent of those punished were farm labourers or manual workers. In 1942 an amendment to this Law replaced economic sanctions with positive disbarments before the law was repealed on 13/4/45, as far as fresh proceedings were concerned. Those already in train were pursued until 10/11/66. I don’t want romanticise the Republic but (barring a communist take-over) I doubt that it would have carried victimisation to those lengths.

As for Sediman’s extraordinary statement that “Nationalists may have integrated proportionally more POWs into their army than any other civil war belligerents in twentieth-century Europe” – Has it not occurred to Seidman that the POWs had little choice in the matter, the other option being a firing squad and a mass grave? This reference to the Nationalist recycling of POWS into their army is intended to counter Preston’s allegations regarding a “programme of extermination”, but does it? Into which units were they recycled? How were they officered, disciplined and deployed? In what sectors were they deployed? Facing which republican forces? Any chance they might have had a deterrent used against retreaters? (Machine guns à la Trotsky in the Russian civil war or à la Stalin in the Second World War? What was their rate of attrition as compared to Nationalist “volunteer” units or regulars? I do not know. I merely ask. In short such recycling was not necessarily in contrast to extermination plans but might well have been integral to them — using the enemy to kill the enemy while clearing one’s rearguard of the openly disaffected.) In his own Republic of Egos, Seidman admits to a manpower shortage in Nationalist Spain — a shortage of workers not of troops.

As to Preston’s so-called “exculpation” of the Spanish left and his alleged tendency to over-state the Soviet influence on the Paracuellos massacre of suspected or known anti-republicans by a motley crew of Spanish leftists, that massacre seems to have emanated from, among others, Santiago Carrillo, late of the Juventudes Socialistas Unificadas (JSU) and by then of the Spanish Communist Party (PCE) — and little was done by that last body that was not filtered through the politburo and its Comintern advisers.

Seidman’s point about Catalan Carlists in the Nationalist armies: does it not suggest that there might be some justification in suspicions of a 5th column operating in the rural areas of Catalonia where these characters came from, and of typical Requetés who might not have been of an age for military service but might have served in other ways? This is not to excuse but rather, perhaps, to partly explain the murderous treatment inflicted on right-wingers and the Catholic clergy.

When Preston suggests (according to Seidman) that the “radicalism” of republican leaders was more rhetorical than actual, the point is redundant. President Azaña’s alleged talk of “making mincemeat” of the army (“triturar el ejército”) with his reforms created as much (maybe more) alarm and rancour in those circles as any strike violence. Likewise the Jacobin, Enlightenment critique of the Church. The CEDA grew out of a desire to defend Catholic principles regardless of the regime, the eternal against the circumstantial: that’s what CEDA’s “accidentalism” was about: a focus on the (un) real over the formal. A republic observant of Catholic values was good, a monarchy unobservant of them, bad. Well, ditto libertarian or leftist values, surely?

Preston may underestimate the “street” attacks after February 1936 on property but Seidman needs to bear in mind the “Eat Republic” taunts of the right during the bienio negro, the legacy of the October ’34 repression, the severe curtailment of union rights, etc., the blatant flirtation of the Spanish Right with authoritarianism and fascism elsewhere in Europe, the Austrian example of 1934, etc. Is there just a chance that the street was moved by this and its own issues rather than some high-flown rhetoric from some republican luminary? He is right in what he says about the general downplaying of the rougher face of the class struggle but I would ask him this: how “safe” were the lives, liberties, offspring and roof over the heads of the NON-rightists and the NON—property-owner? As someone who specialises in the minutiae of revolt in all its uncomfortable and inconvenient manifestations that do not fit into neat ideological models, Seidman ought to trace a typical worker’s life 1923-1943 and spot the improvements. They might not overlap the defined outlines of Republic, Monarchy, Dictatorship and (again) Dictatorship. Mark Two. Look past the formal to the REAL is what he seems to be saying but if Preston’s focus is on working “from above”, a lot of this is going to be missed. Life isn’t always played out by the speechmakers or in print. The CNT was forever referring to the anonimos and there were anonimos players and factors outside the CNT as well.

The murder of Calvo Sotelo was indeed a “cold-blooded killing”. What were Casas Viejas and the many other similar incidents? It was not the government or judiciary that made a scandal of Casas Viejas, was it? What has Seidman to say of some working-class “Franco” pushed into “revolution” by Casas Viejas or the repression of some strike?

His mention of the Generalisimo’s Special Military Tribunal dismissing 15,000 cases in ’36-’38. How many of those named in the charges were already dead? Executed? Escaped? And another 15,000 were upheld and presumably sentencing followed. He cites the decline in death sentences “after 1941” (i.e. after 3 years of mass executions) but he misses out any “contextualization” such as references to WW2, (remember, this would have been about the time that Ramón Serrano Súñer was telling the Germans that Spain had no interest in the fate of any Spanish Reds in Nazi hands) Spain’s difficulty in feeding herself and the death rate in Francoist prisons from disease and starvation, aggravated by lack of medical attention and the regular use of torture. Better for the statistics if many of those prisoners died off-site, unemployed and unemployable, blacklisted, homeless, dependant on the charity of the Church or the social services wing of the Falange, hardly the hallmark of mercy. And he fails to mention the spike in executions in 1947-49, a full decade after the war and after all those exiles, convictions and executions in the post-war years.

As to Seidman’s comments about the Nationalists’ rural policies, was it the case that maybe the runaway estate-owners had not yet returned, that the workforce was seriously depleted due to so many men of economic age serving at the front and that the offering of incentives to the “squatter” peasants might have been a makeshift stratagem for the duration of the war pending the recovery of all of Spain’s productive land? Kill the opposition, jail the lesser offenders, fine as many as you can, conscript those of serviceable age and encourage (!) the rest to step up production?

In 1957 a Juan García Suárez was executed but not before the local bishop of the Canaries wrote to Franco in person to remind him of the “thousands of people” whom the “Nationalists” had killed in the Canaries. Bishop Pildain wrote: “Most Excellent Sir Don Francisco Franco Bahamonde, Spanish Chief of State. Most Excellent Sir: I, Antonio Pildaín y Zapiain, bishop of the apostolic diocese of Las Palmas, find myself obliged, as pastor of the souls and spiritual father of Canarians to ask that you commute the capital sentence on Juan García Suárez, sentenced to death at a council of war held in this place. That death would be looked at very dimly in the Canaries where nothing happened, since all the barbarity committed hereabouts came from the Nationalists and not the republicans. I would rather not go too deeply into this matter and remind your excellency of everything that happened on this island, especially in the Jinámar gorge where several thousands perished.” (Santos Julia [editor] Victimas de la Guerra Civil, Temas de Hoy, pp. 335-336). Pildaín made an oral statement to historians José Luis Morales and Miguel Torres, one of whose recollections was: “Bishop Pildaín mentioned to me that he reckoned from the figures that between 5,000 and 6,000 people must have perished hereabouts. Most of them vanished.”

Contrast the “nothing happened” with the 5,000-to-zero relative kill rate in the Canaries! At what point were the Canaries under military threat? If  “nothing happened” we can take it for granted that the islands fell without serious resistance. Am I indulging in victimology when I ask what implications this might have for attempts to equate republican and Nationalist violence?

I could go on and on, but I just don’t recognise Seidman’s terms of reference, especially his point that “The Spanish counter-revolutionaries did not wage a racial war against Jews, but concentrated on combating revolutionaries who threatened their lives, property and faith”. Who is he talking about? Franco and his cohort of clerico-fascist murderers were never “counter-revolutionaries”, they were reactionary golpistas who — with the help of Nazi Germany, Fascist Italy, and influential elements in the British Establishment — overthrew a legitimately elected republican government (whatever one might think of that government) and massacred who knows exactly how many tens of thousands of innocents — who posed no threat whatsoever to life, property or faith (as witnessed to by Bishop Antonio) — in an attempt to counter perceived “proletarian barbarism” and roll Spain back 400 years to the Medieval Catholic values of the Holy Roman Empire.

No, in fact, the “counter-revolutionaries” during the Spanish Revolution and Civil War were Azaña, Prieto, Negrín, Companys, Jesús Hernández, Federica Montseny, Mariano R. Vázquez, and all the other ‘notable leaders’ on the Republican side; nor was it fascists, fifth-columnists, priests and nuns whom they were primarily targeting behind republican lines, but the thousands of revolutionaries and rank-and-file militants who, between July 1936 and December 1937, challenged their plots and manoeuvres to restore and consolidate bourgeois order.

The decision to give Paul Preston’s invaluable work on the Francoist Holocaust to the sophistry of such a blatantly pro-Francoist reviewer such as Michael Seidman reflects poorly on the formerly rigorous editorial standards of the TLS under previous editors such as Arthur Crook and John Gross (and chief subs such as Nicolas Walter). Whatever happened to ‘serious’ and ‘authoritative’?

Yours, etc.,

Stuart Christie